Montag, 02.09.2002

In Erinnerung an Frieda Grafe

Textbeitrag zu gleichnamiger Veranstaltung im Kino Arsenal Berlin am 01.09.2002

„Mir wär’s lieb, wir könnten über den Film noch einmal reden, und ich dürfte Ihnen Fragen stellen. Oder finden Sie das ungehörig, weil ich allein damit zurande kommen müsste.“
(Aus einem Brief Frieda Grafes vom 17.01.1997)

Begegnungen mit Frieda Grafe – nur eben zwei oder drei Dinge

Rote Lippen soll man küssen, denn zum küssen sind sie da, … – seltsame Assoziation zu einem Seminar, in dem es um die Geschichte des Dokumentarfilms geht. Eine der wenigen Begegnungen mit Frieda Grafe, bei denen ich ihr direkt gegenüber saß. Sie war eine erotische Erscheinung und das zuallererst. Die Lippen sorgfältig nachgezogen mit einem Rot, das zu den aktivsten gehört, die man finden kann. Die Hände verschränkt vor dem Busen, die Handinnenflächen ihm zugewandt, nicht zufällig oder doch? Warum es gerade hier „der“ Busen heißt, ist der deutschen Sprache geschuldet.

Vor Beginn des Seminars waren noch ganz andere Stolpersteine zu meistern. Wieder und wieder erklärte sich die Referentin als eher nicht kompetent. Aber wenn sie es schon machen würde, dann sei dieses und jenes auch in Betracht zu ziehen. Das Ergebnis war eine Filmliste, die wenigstens 40 Filme, möglichst in der Originalversion, umfasste, um die Bodo Knapheide, als der Studienleitung der dffb zugehörig, sich sorgte. Tatsächlich gelang es ihm immerhin 20 davon rechtzeitig aufzutreiben. Das stürzte Frieda Grafe in Verzweiflung, weil ihr Argumentationsbogen für sie so nicht mehr aufrecht zu erhalten war.
– Weiterhin waren diese 20 Filme in einem zwei- oder dreiwöchigen Seminar überhaupt nicht zu bewältigen, so dass viele Filme ungesehen zurückgingen.
– Hinzu kam, dass ihre Seminarteilnehmer, ungefähr fünf an der Zahl, sämtlich dem Französischen insofern ignorant gegenüber standen, als dass sie einem französischen Film in Originalversion nicht ohne Weiteres folgen konnten.
Und das einer Frankophilen wie ihr – damit hatte sie nun wirklich nicht rechnen können. Wie auch anders verstand sie die Geschichte des Dokumentarfilms als Geschichte des Films. Das Thema hatte ihr die Filmakademie als Klotz so gestellt. Da ihr Blick aufs Ganze ging, kam es nicht in Frage, sich auf einen Bereich zu beschränken. Das Ergebnis war ein vermeintlich heilloses Durcheinander, in Ordnung gebracht durch die strukturierende Kraft ihrer filmischen Leidenschaft. Wie Anna Karina in VIVRE SA VIE, deren Tränen hemmungslos kullerten im Angesicht von Dreyers JEANNE D’ARC, fanden wir sie nach der Projektion von Straubs LOTHRINGEN! im wiederaufscheinenden Licht weinend vor.

„Ich nehme ihre Filme zu persönlich. Sie machen mich so betroffen, daß ich auf Anhieb den Sprung in die notwendige Abstraktion nicht schaffe. Ich müsste es besser wissen und längst die Methode darin erkannt haben.“
(SZ, Nr. 222, 26. Sept. 1997: Patrioten im Niemandsland)

ZORN’S LEMMA von Hollis Frampton wurde wieder und wieder besprochen, immer mit der Befürchtung, ob denn so viel Abstraktion jungen Menschen heute überhaupt noch zuzumuten sei. Sie zeigte uns CHARLOTTE ET SON JULES, in dem bereits alles angelegt scheint, was Godard später zu voller Blüte entwickelt. Den Moscheefilm von Jean Rouch (LA MOSQÉE DU CHAH À ISPAHAN) sahen wir uns mehrmals an, weil ihre Begeisterung für dieses Stück Architekturfilm alle mitgerissen hatte, so dass wir auch gerne noch ihrer Aufforderung folgten, den Film am Abend in einer Veranstaltung im Arsenal, die Helmut Färber ausrichtete, ein weiteres Mal zu betrachten. An diesem Filmabend muss es gewesen sein, da alle Krähen Brandenburgs sich in den Wipfeln der Fuggerstraße versammelt hatten. Als das Publikum das Kino verließ, stoben sie auseinander, setzten sich erneut, brachen wieder als schnatternde, krächzende Wolke gen Himmel auf, blieben ihrem Standort aber treu. Mehr als Hitchcock sich jemals hätte ausdenken können – sie war beeindruckt; immer wieder kam sie auf das unglaubliche Ereignis dieser Versammlung der Vögel zurück – ungezügelte Naturgewalt.

Sie schimpfte, dass die filmtheoretischen Beiträge aus USA sich seit Jahren nur den Genderstudies zuordnen ließen, und gleichzeitig gewann man den Eindruck, dass ihr dieser Sachverhalt nicht so ungelegen kam. Sie zeigte uns THE SAGA OF ANAHATAN, dieses letzte sternbergsche Kunstprodukt aus Studiotechnik und Kabukiexotik, als dokumentarischen Versuch. Und irgendwie kam die Sprache immer wieder auf Carl Einstein und Jean Renoirs TONI, obwohl der Film gar nicht auf der Liste und somit auch nicht zur Verfügung stand. Sie hatte eine Vorführung des Films im Arsenal einige Jahre vorher begleitet. Die Beteiligten trafen sich im Anschluss in einem italienischen Restaurant um die Ecke. Harun Farocki saß mit Frieda Grafe an einem Tisch, machte aber seine Honneurs später auch an anderen Tischen und erzählte uns dabei, wie sie jedes Gericht kommentieren und bestimmen konnte, was daran z.B. alles falsch zubereitet gewesen sei. Ihm hätte es aber geschmeckt. Das klang mehr behauptet als überzeugt. Das Auge hatte mitgegessen.

Als mir ein Text von Brigitte Wormbs in die Hände fiel, ‚Utopia schwarz auf weiß – Aufzeichnungen zu Carl Einsteins Entwurf einer Landschaft‘ (in: Brigitte Wormbs: Raumfolgen, Darmstadt 1986) ließ ich ihr eine Kopie als Hinweis für ihre Einsteinforschungen zukommen. Auch hierin war von den brandenburgischen Krähen die Rede.

„Man will dem Todesprozeß entfliehen und stellt Bilder in das Dasein. Das ist die Bildgrenze,“ wird Carl Einstein dort zitiert und an anderer Stelle:
„Man müßte fragen, wie weit Bilder nun unseren Wahnsinn verstärken oder wir sie als Waffe gegen die willkürliche Mechanik der Zeichen benutzen, um den Dingen und der Wirklichkeit zu Hilfe zu eilen.“
Frieda Grafe hat die Moderne für tot erklärt und in Klammern fügte sie listig, schnippisch, wie hinter vorgehaltener Hand hinzu: „(Das Kino ist auch halbtot.)“ (SZ, Nr. 222, 26. Sept. 1997: Patrioten im Niemandsland).

Die Computerisierung der Welt empfand sie als einen persönlichen Angriff auf ihre Integrität. Trotzdem oder gerade deshalb war sie von sprühender Jugendlichkeit und Interessiertheit – dazwischenstehend eben -, wie sie sich begeistern konnte z.B. über Kluges Bauernschläue, der es geschafft hatte, zu Hauptsendezeiten auf zwei oder drei Kanälen gleichzeitig Plätze zu besetzen. Sie war sich bewusst, dass das der Jugendkultur am Arsch vorbeiging. Aber welche Kultur war hier die jüngere?

In einem Lied von Ella Fitzgerald heißt es:
„… and you appear in all your splendour …“
Ich glaube, das ist eine Liebeserklärung.

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