Samstag, 17.01.2004

Philippe Garrel, Elle a passée tant d’heures sous les sunlights, 1984

Eine Szene, die erste Einstellung. Ein Mann eine Frau. Monochromes Weiß und Grau. Ein Dialog. Worte, die sich wiederholen, auf der Stelle treten. Sie machen eine Szene. Sie machen sich eine Szene. Sie haben sich geliebt, sie lieben sich nicht mehr, sie wiederholen immer dieselben Worte: Es geht nicht mehr. Dieselben Worte, solange, bis sie vielleicht nicht mehr wahr sind. Eine Szene als Inszenierung einer Szene, in jedem Sinn des Wortes. Eine Szene, auf der das Bild verharrt, unbewegt. Die Kamera, der Blick insistiert. Insistenz der Szene, Beharren auf dem Bild und manchmal denkt die Kamera auch nach. Sie denkt nach, indem sie die Szene aus dem Schärfebereich drängt: plötzlich ist da Glas, perlt Wasser auf Glas. Es war, das denken wir, mit der Kamera, das Glas schon da, die Perlen, das Wasser: die Transparenz der Szene war nur die halbe Wahrheit. Aber dass die Kamera nachdenken kann, schon das ist ein Ereignis. Nicht: Die Kamera denkt. Oder der Schnitt denkt. Nicht Godard. Musing, das englische Wort, scheint es eher zu treffen. Oder: Sinnen. Ein sinnender Film, ein beinahe träumerisches, aber auch insistentes Nachdenken, ein rabiates Schmecken, ein wildes Tasten, ein verzweifeltes Probieren von Möglichkeiten. Die Suche nach den Leerstellen einer Grammatik. Es geht nicht um das Brechen von Regeln, sondern um das Erfinden, das Weiterspinnen, in dem dann die Regel selbst in Frage steht. Regeln des Verkettens, der Inszenierung, der Szene, des Szenischen (vom Narrativen, das immer gröbste Bearbeitung von Elementen ist, gröbste Behauptung von Zusammenhängen, ganz zu schweigen). Dekonstruktion könnte man sagen, nur hieße das schon: von der vertrauten Regel her denken. Dabei wird alles, was das Kino ausmacht, neu erfunden. Und noch das ist von der falschen Seite her formuliert. Es ist Kino, als hätte es bisher keines gegeben. Erfindung des Filmischen von Grund auf. Der Film erfindet sich, und jeder Linguist weiß (und die Dekonstruktion weiß es auch), dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist, der Film erfindet sich selbst. Er spricht eine Sprache, die nicht der Dialekt einer anderen ist. In dieser Erfindung ist das Bild nicht das Bild, wie wir es kennen, ist der Ton nicht der, den wir kennen, ist der Schauspieler nicht der, den wir kennen. Hier schlägt der Film seine Augen auf und ist Film, als hätte er sich, in diesem Moment, in diesem winzigen Moment des Augenaufschlagen schon gefunden. Und beginnt zu sinnen. Träumt sich weiter, von der Szene des Beginns her. Ein Mann eine Frau. Als hätte es dergleichen, als hätte es diese Szene noch nie gegeben. Und auch die Erfahrung gibt es immer schon, aber nun, hier als etwas, das sich von den Formierungen der Geschichte nicht restlos formiert findet. Jetzt und hier die Erfahrung macht, sich anders zu erfahren. Als gäbe es keine Geschichte des Kinos als Geschichte einer Sprache der Erfahrung. Wir haben Einstellung gesagt, wir haben Szene gesagt, wir haben Dialog gesagt. Wir sind verraten und verkauft vom Film, den wir kennen, von der Geschichte, von den Begriffen. Wir haben noch nicht einmal angefangen. Wir haben nicht noch einmal angefangen. Wir können nur immer wieder anfangen. Immer. Wieder. Anfangen.

Ganz andere Szenen. Das Nachdenken, das Glas, die Perlen, das Verlieren der Figur. Ein Traumdenken, das auch, andererseits, auf die Konturen, auf die Gesichter, auf die Figuren, auf die Szene zuspringen kann wie ein Verzweifelter auf seine letzte Chance. Ein Film wie ein stummer Schrei auf der Suche nach einem Ausdruck. Pathosformeln, direkt aus dem Leben gegriffen. Pathosformeln der reinen Bedeutung. Der nackte Mann in der Badewanne, das Gesicht nichts als Verzweiflung. Wie. Nichts als. Nicht dass der Film in Vergleichen denkt. Wie gibt es nicht in seiner Grammatik, so wenig wie nichts als. Wir haben nicht seine Sprache. Wir fühlen uns getroffen (man müsste es noch einfacher, noch unvermittelter sagen können). Und wenn nicht wir, dann ich. Wie könnte es ein Wir geben, wenn ich angesprochen werde in einer Sprache, die es gar nicht gibt. Ich weiß nicht einmal, ob ich Film sagen darf. Darf ich Film sagen? Darf ich Schwarzblende sagen? Der Aussetzer. Abrupter Abbruch. Wiedereinsatz. Der Film scheint sich zu verlieren, ja, zu vergessen im Nachsinnen über das, was er zeigt. Im Nachsinnen über das Zeigen und die Regeln, die diesem Zeigen einen Sinn gäben. Eine Harlekin-Figur in einer Schublade. Ein Mann eine Frau. Und noch ein Mann und noch eine Frau. Und Chantal Akerman und Jacques Doillon und Philippe Garrel. Der Film kennt nicht die Grenze zwischen Szene und Inszenierung. Wenn ich von einer Grenze sprechen kann, dann nur, weil sie in meiner Grammatik, in meinem Sprachspiel existiert. (Die Szene, die Inszenierung, die Grenze: meine Sprache.) Dieser Film denkt ohne sie. (Jetzt formulier das doch mal ohne ohne.) Noch der Begriff des Übergangs, der Übergängigkeit ist falsch. Die Darstellerin ist die Figur. Die Darstellerin ist nicht die Figur. Beides ist wahr. Oft bleibt dem Film der Ton weg. Oft rauscht es. Oft ist das Laufen der Kamera zu hören. Ohne Ton sind die Figuren keine Figuren mehr. Sie sind nichts als dem Blick Anhalt für ein Sinnen. Als könnte der Blick sinnen. (Oder sie sind, wie Serge Daney geschrieben hat, etwas, das wir nie gesehen haben, die Gesichter der Darsteller des Stummfilms in jenem Moment, in dem die Zwischentitel die Leinwand besetzt halten.) Übrigens verweigert der Film keineswegs Sinn. Aber er sagt auch nicht: Nimm. Darüber sinnt er nicht nach, über den Sinn, den man ihm nehmen, ihm geben kann. Warum sollte er. Er ist so vollends beschäftigt damit, sich immer weiter zu finden. Er sitzt in einer Ecke und es ist ihm egal, dass keiner auf ihn achtet. Er spricht vor sich hin. Nichts an seiner Grammatik untersteht dem Gesetz der Kommunikation.

Natürlich lässt sich Sinn finden, als wäre er vertraut. Natürlich spricht der Film keine eigene Sprache. Natürlich können wir ihn mit den Begriffen beschreiben, die wir kennen, der Grammatik, die uns nie im Stich lässt. Und natürlich, sagst Du, gibt es einen Plot, eine Entwicklung. Zwei Frauen, zwei Männer. Namen werden genannt. Eine Vierecksgeschichte. Es beginnt mit einer Szene zwischen einem Mann, einer Frau, die sich geliebt haben. Sie heißt Christa wie Nico, die Frau, die Philippe Garrel, der sich hier selbst spielt, geliebt hat. Die Szene im Auto, dazu die Musik, Nico singt „All Tomorrow’s Parties“. Da kommt doch Sinn zusammen. Eine Frau ist tot, am Ende. Was willst Du mehr? Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, das kann dir jeder Linguist sagen, eine eigene Sprache zu erfinden. Eine Einstellung ist eine Einstellung. (Ach ja?)

– Ekkehard Knörer –

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