Montag, 14.03.2005

UNTERNEHMEN PARADIES

Volker Sattel, D 2002, 60′

1927 ist einer der berühmtesten Dokumentarfilme der Kinogeschichte, Walter Ruttmanns „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“ uraufgeführt worden.
Pünktlich zum 75-jährigen Jubiläum zeigte Thomas Schadt unter dem gleichen Titel, was er seine Neuinterpretation von Ruttmanns Klassiker nennt, einen 75-minütigen Film, der den Anspruch auf Musealität gleich in den eingesetzten Produktionsmitteln zum Ausdruck bringt: 35 mm, schwarz-weiß, stumm, über allen Bildern eine Musik, die für den Film komponiert und vom Orchester des Südwestdeutschen Rundfunks eingespielt wurde – stolz berichtet Schadt in einem Interview von über 96.000 Noten in der Partitur, von 70 Musikern und 60 Mikrofonen, von 105 Drehtagen und einem 1 Million-Euro-Budget.

Ebenfalls im Jahr 2002 präsentierte Volker Sattel sein Berlin-Porträt „Unternehmen Paradies“. Auch hier ist eine Orientierung am Vorbild Ruttmann unübersehbar, auch hier simuliert die Montage den Ablauf eines Tages: Im flachen Morgenlicht gleitet die Kamera zu Beginn an Reihenhäusern der Potsdamer Vorstadt entlang. Aufhören wird die Bewegung des Films in der elektrischen Nacht eines Mouse on Mars-Konzerts.

Bis zum Ende wahrt Sattel Abstand, das ist seine Arbeitsvoraussetzung. Zwar operiert er mit einem schlanken Team, aber die gängig gewordenen Authentifizierungsverfahren, diese „Mitten-drin-im-echten-Leben“-Behauptungen von Wackelkamera, Stakkato-Schnitt und lauten Direkttönen hält er sich und uns vom Leib. Lieber setzt er auf feingliedrige, musique concrète-verwandte Toncollagen, auf gerne mal etwas längere und vor allem auf feste Kameraeinstellungen.

Besonders deutlich wird sein Ansatz, wenn Sattel Veranstaltungen im Öffentlichen Raum filmt. Zielsicher begibt er sich in die große Versuchsanordnung von der Mediendemokratie und fängt mehr als einmal einen misstrauischen Seitenblick von Vertretern des Betriebs ein, wenn er im Dickicht von Stativen, Mikros, Kabeln und Satellitenschüsseln seine speziellen, leicht verschobenen Standpunkte einnimmt. Er guckt von innen nach außen, auf Nischen und Ränder – nicht nur räumlich, sondern auch in der Zeit: das Wesentliche, die Höhepunkte finden in diesen Bildern noch nicht oder nicht mehr statt. Und wenn doch einmal etwas mit Nachrichtenwert passiert, dann misst Sattel dem nicht mehr Bedeutung bei als unbeteiligten Zuschauern hinter der Absperrung, der großen Anzahl verschiedenster Fahrzeuge in einem Staatsgast-Konvoi oder dem Einstudieren von Begrüßungsritualen auf roten Teppichen.
Es ist zu sehen: Sattel kann sich treiben lassen in den Ereignissen, ohne die Konzentration zu verlieren. Wie ein Surfer wartet er auf seine eigene Welle, mit Gelassenheit und Eleganz und mit Gespür für den richtigen Augenblick.

Es gelingt Sattel ein doppelter Blick: indem er auf die Nebensache verweist, erinnert er gleichzeitig an das gewohnte Bild der elektronischen Berichterstatter. Sein On liefert das vom Standard-Bild ausgesparte Off. Sein Off, eben das Standard-On, bleibt gleichzeitig über die konditionierte Seherfahrung in seinen Ausschnitten anwesend. Zwei Rahmungsmethoden verschränken sich ineinander – man kann von einem virtuellen Panorama sprechen, von einer Idee von Vollständigkeit, die nur das Gehirn herzustellen in der Lage ist. Sattel setzt auf genau diese Kraft des Fragmentarischen. Seine Bilder brauchen Mit-Schauende. Er ist ein demokratischer Filmemacher. Kein Museumsdirektor.

Der Film wird ab dem 24.3.2005 für (mindestens) drei Wochen in den Berliner Kinos FSK und Hackesche Höfe laufen und danach auf eine Deutschland-Tournee gehen.

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