Freitag, 12.08.2005

(Wunder II) Lucrecia Martel: La Niña santa (Argentinien 2004)

Mit Dank – wiederum – an die Enthusiasten!

Wir hören Gesang, wir sehen ein Gesicht, wir sehen eine Gruppe junger Mädchen, die dem Gesang lauschen, die sich etwas zuflüstern, wir sehen die Gesichter der jungen Mädchen, wir hören, was sie flüstern, es ist ein Kommentar des Gesangs. Die Frau, die singt, weint. Sie wird ihr Gesicht abwenden, wir sehen den Hinterkopf, nur ihr langes, dunkles Haar, sie streicht sich mit den Innenseiten ihrer leicht geballten Hände die Tränen aus den Augenwinkeln, sie dreht sich zurück zu uns, zu den Mädchen, wir sehen, dass sie geweint hat. Sie singt, von Gott. Die Kamera orientiert uns nicht. Wir wissen nicht, wo wir sind. Übergangslos sind wir woanders. Den Übergang gibt es nicht in diesem Film, das Hier steht neben dem Hier, es gibt auch kein Da. Von Hier zu Hier springt der Schnitt, der aber dieses Springen als gewöhnlichen Gang camoufliert. Einmal geht Amalia, sie ist, wir beginnen uns das zusammenzureimen, die Titelheldin des Films, sie geht den Flur des Hotels entlang, in dem sie lebt. Sie streift mit der rechten Hand, die wir sehen, die Wand, die wir sehen, beides nur ausschnitthaft, wir sehen es von hinten und folgen dem Gang Amalias durch den Flur. Aus der Unschärfe links tauchen Kinder auf, sie werden nicht zu Individuen, aber wir folgen der linken Hand Amalias, die über ihre Köpfe streicht in diesem Moment, in dem sie etwas berühren will, in dem sie sich der Welt versichern will. Ein paradoxer Zustand: Sie bewegt sich, und wir mit ihr, wie in Trance, der Welt entrückt, zugleich aber dieser Wunsch, der Welt wenn nicht inne zu werden, dann doch, sie als etwas sich begreifbar machen zu könne, das mehr ist als ein Wunsch, ein Gedanke, ein Traum, etwas, das eine Textur hat für die Hand, die Halt findet. Es geht um eine Entdeckung der Berührbarkeit.

Mit einer Berührung beginnt sich das Drama, auf das der Film in sanft dahingleitendem Springen zugeht (eher als zueilt), zu entfalten. Wie absichtslos bedrängt Dr. Jano in der Menschentraube vor einem Theremin-Spieler von hinten Amalia, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Dieses Nicht-Wissen steht ihr ins Gesicht geschrieben und keineswegs ließe sich sagen, dass ihr dieses Drängen und Berühren, diese Belästigung ganz und gar missfallen. Wenig später steht sie im Fahrstuhl des Hotels, das ihre Familie betreibt, in dem Dr. Jano als Teilnehmer eines Ärztekongresses wohnt, hinter dem Arzt, mit ihrem Blick und ihren Augen sehen wir seinen Hinterkopf und unter dem Ohr eine Spur Rasierschaum. Amalia will seine Hand berühren, sie bewegt ihre Hand auf seine Hand zu, wir beobachten das mit dem Blick der Kamera, nicht mit ihrem Blick, nicht mit seinem Blick, im letzten Moment zieht er die Hand zurück, ahnt nicht, was sich beinahe ereignet hätte. (Sie geht auf sein Zimmer, sprüht sich seinen Rasierschaum auf die Hand, reibt den Kragen ihrer Bluse ein und riecht daran. Den Ausdruck des Glücks in ihrem Gesicht übertreibt sie nicht, ein Film der kleinen, genau gesetzten Gesten.) Als sich, später, wieder in der Menschentraube vor dem Theremin-Spieler, die Berührung, die Amalia zuvor nicht gelang, tatsächlich ereignet, sie nach der erneuten Belästigung erneut nach seiner Hand greift, sie den Kopf wendet, ihm ins Gesicht blickt, da ist er ertappt, schreckt zurück, macht sich davon, verstört. Zuvor schon sehen wir sie, ihr Gesicht, das sich hinwendet und abwendet, während sie wie einen Abwehrzauber die Gebete runterrattert, die sie im Religionsunterricht gelernt hat. Wir sind am Swimmingpool des Hotels, Dr. Jano am Rand des Beckens, Amalias Mutter schwimmt, sie hält sich das Ohr, sie wird bedrängt von einem Geräusch, das nicht zur Welt gehört, in der sie lebt, das sie von dem Körper, der sie ist, distanziert.

Vielleicht geht es darum: Körper und wie sich verhalten, zu sich selbst, zur Welt, in der sie sind, aus der sie fallen, in der sie auf andere Körper stoßen und gestoßen werden. Die Kamera, die die Gesichter und die Körper eng kadriert, die jedem offenen Vordergrund einen Hintergrund gibt, in dem auch etwas geschieht, in Distanz zum Vordergrund, oft ohne ersichtlichen Bezug zum Vordergrund: eine Tür schwingt auf und wieder zu; eine Spiegeltür wird ein paar Zentimeter verschoben, die Figur – Helena, Amalias Mutter -, die man sah, verschwindet; Helenas Kopf, dahinter, unscharf, Dr. Jano an der Bar, sie verdeckt ihn, für uns, durch eine Beweung des Kopfes nach links, dann bewegt sie sich zurück und wir sehen ihn wieder; die Mädchen, die lernen und Hausaufgaben machen, während im Hintergrund gebügelt wird. Der Raum, den der Blick herstellt, stabilisiert sich nicht. Hintergrundgeräusche, die sich nie in den Vordergrund drängen, werden doch Teil eines Ganzen, dessen Elemente gegeneinander reiben wie ein nicht zu glatter Stoff. Die schreckliche Geschichte, die ein Mädchen erzählt – sie fahren hinaus, in einem Bus, wieder, nicht zum ersten Mal, fällt dabei ein helles, strahlendes Licht auf Amalias Gesicht, eine Liebkosung, aber nicht unbedingt zärtlich -, ist die Geschichte eines Unfalls. Eine Mutter, die stirbt, aber im Tod noch ihr Baby schützend bewahrt. So in der Welt zu sein, vielleicht ist es das, wovon die Mädchen träumen auf der Schwelle, auf der sie sind: Zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, zwischen Unschuld und Wissen. Ein Ahnen, ein Wagen und Zurückzucken, eine Auswendigkeit der Worte, die dem Verhalten voraus scheint. Dann aber schnellt das Wollen und Ahnen vor und ist für beglückende, verstörende Momente allem Wissen voraus. Dies Hin und Her inszeniert Martel in der Szene am Pool: Amalias Gesicht, das sich Dr. Jano zuwendet, von uns abwendet, das Flüstern des Gebets, die Flucht in die Auswendigkeit, die auch keine Rettung ist. Das Streifen der Gedanken über die Köpfe der Worte, die von alleine kommen, weil sie gelernt sind. Die Sicherheit, die die Worte geben, bleibt jedoch prekär. Als die Mädchen den Ort des Unfalls aufsuchen, hinter der Brücke, deren Geräusch wir so deutlich hören, die Räder des Busses, das Bodenlose des Grundes, das Geräusch wird, erschreckt die eine die anderen, indem sie sagt: da ist eine Hand, ich habe eine Hand gesehen. Die Angst vor den Händen, die im Spiel sind, den Händen, die berühren und berühren wollen, als gehorchten sie keinem Willen, Hände, die zurückzucken und zurückgwiesen werden und ein Wille, der nicht weiß, ob er den Händen folgen kann, die wie abgetrennt vom Willen und vom Körper tun, was sie wollen. Hände.

Und Augen. Jose, die mit ihren Händen die Augen bedeckt und dann berichtet, was sie sieht in dem Moment, in dem die Augen befreit sind, aber nicht um zu sehen, was ist, sondern um zu sehen, was der Augensinn, der ob der Berührung nun verrückt spielt, nun selbst produziert, rote Punkte, grüne Linien, ein Tinnitus des Gesichtssinns. Eine experimentelle Erkundung des Körpers. Was passiert, wenn…? Die Differenz zwischen Adoleszenz und Erwachsensein wäre dann: Ein aufregendes Suchen und Probieren der Sinnverwirrung und im Gegensatz dazu eine pathologische Verfestigung. In der gesuchten Störung des Bezugs zur Welt manifestiert diese sich erst, als unbekannt und aufregend und neu. In der nicht mehr zu beseitigenden Störung dagegen eine doppelte Bedrängung, durch die Welt und durch den Körper, der etwas verloren hat, ohne dass man Worte hätte für das, was verloren ging. Ein Tanz vor dem Spiegel, hier scheint Helena sie selbst, für den Moment, der äußerst abrupt endet. Der Film ist auf der Seite der Jugend, er zeigt, nein, er ist das Einverständnis mit dem Geflüster der Mädchen. Die Mutter, der Arzt als Belästiger, sie machen eher eine lächerliche Figur. „Sie waren eine Taucherin“, sagt Dr. Jano, zu Helena. Die Vergangenheitsform: Sie will durchs Wasser gleiten wie einst, es gelingt kaum. Sie steht im Becken und hält sich das Ohr. Sie sitzt draußen auf einem der rostigen Stühle aus „La Ciénaga“. Sie setzt sich der Welt aus, mehr als einen Kuss und vielleicht Sex mit einem verheirateten Mann erwartet sie sich nicht. Erwachsene sind hier die, die einen Telefonanruf in Chile machen und dann auflegen, weil die Ex-Frau rangeht.

Der beglückende Einbruch, das Wunder: Das widerfährt nur den Mädchen. Sie erwarten, könnte man sagen, das Wunder herbei. Voilà: Ein nackter junger Mann fällt auf die Terasse vor dem Zimmer, in dem sie lernen. Er tappt durch Vorhangschleier herein, ohne Schramme, ein Toter, der lebt. Das geschieht. Es folgt daraus nichts. Übergangslos geht es weiter. Das singuläre Ereignis schlechthin ist das Wunder. Die Erwartung der Jugend (die Jugend, die nichts anderes ist als Erwartung) übersetzt sich katholisch ins Wunder, auch in die Berufung, den Anruf Gottes, der einer jeden die singuläre, individuelle Aufgabe gibt in der Welt, die im Licht dieses Rufs ihr Antlitz verändert. Das Licht auf dem Gesicht von Amalia, die noch in der Belästigung durch den Lüstling das Wunder der singulären Berufung zu erkennen glaubt, ist der Vorschein dieser Erwählung, in der Gott eine Einsetzung vornimmt, ein Verhältnis entwirft, das dich aufhebt in der Welt. Ein Verhältnis, das der Gegensatz ist von Gleichgültigkeit und einem Geschehen, das eben geschieht. Alles steuert, nach diesem Wunder, von dem schon der Gesang des Beginns zu zeugen schien, auf eine schockierende Entzauberung zu, die bittere Enttäuschung einer Hoffnung darauf, dass das Leben, das vor dir liegt, gesegnet ist. Die Berührung hat stattgefunden und wir glauben es, wir sehen es mit Amalias Augen, obwohl wir auch sehen und obwohl der Film weiß Gott kein Geheimnis daraus macht, dass der Mittler dieses Wunders eine lächerliche Figur ist. (Aber steigert das nicht die Kraft des Wunders noch?)

Dieses doppelte Wissen, das Fehlen eines Übergangs zwischen der Wahrheit des Wunders und der Wahrheit einer gewissen Trostlosigkeit konstituiert den dadurch eigentümlicherweise nicht gespaltenen Blick des Films auf die enge Welt, die er in diesem Blick entwirft. Er verharrt auf dieser Grenze, die auch als die zwischen Traum und Wirklichkeit lesbar wäre – ginge es hier in erster Linie um Lesbarkeiten. Es scheint aber viel eher so, als seien die Zeichen, die wir zu sehen bekommen, zugleich überscharf und nicht distinkt. Wie jene Sichtbarkeiten vielleicht, die Jose beschreibt, nachdem sie ihre Finger aufs Auge gelegt hat und nun, von der selbst auferlegten Blindheit zu einem Sehen des Sichtbaren wie des nicht Sichtbaren befreit, wieder sieht. Klug ist Lukrezia Martel darinauf die Auflösung ins Eindeutige dieses doppelten Wissens zu verzichten, auf die Ausführung der Entzauberung, auf die alles zuläuft. Der Film kennt Gnade, mit Amalia, mit Helena, mit Dr. Jano, mit uns. Es ist die Gnade des Aufschubs der Enttäuschung. An der Stelle, im Aufschub der Enttäuschung: Ein Gleiten durch das Wasser mit der Verräterin, die die Freundin ist, umfangen vom Element, das trägt und schützt, ein Gleiten, das nicht endet. Das Ende ist nicht offen, aber es macht uns glauben, was wir sehen, obwohl wir wissen, dass das Wunder, das nie ein Wunder war, nun enden muss.

– Ekkehard Knörer –

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