Samstag, 10.12.2005

Dar-denned

wie leicht man selbst dem stumpfsinnigen Reflex erliegt, seine Erwartungen
ans Kino nach Oberflächenreizen auszurichten

M. Althen über „L’Enfant“, FAZ vom 17.11.2005

Der, der diese Bemerkungen schreibt, (ich) hat gerade frische Kleidung angezogen. Mercerisiert-baumwollene Unterwäsche, frischgewaschene Jeans, frische Socken, gelüfteter Wollpullover, seit mehreren Tagen ungetragen. Ich bin barhäuptig. Es ist also davon auszugehen, daß sich kein Schmutz in den Fasern meiner Kleidung versteckt. Ich bin zuhause. Die DSL-Leitung gestattet mir jederzeit den Blick in jenen Raum mit den schmalen Fenstern weit oben, in dem David Lynch seinen „Daily Report“ aufzeichnet. Caché.

Diese Umstände erläutern meinen Blick auf „L’Enfant“. In dem Film geht es um Verstecke. Verstecke sind Räume einer bestimmten Abgeschlossenheit. Sind Verstecke geheim? Nicht unbedingt (im übrigen ist längst bekannt, daß offene Geheimnisse am besten versteckt sind). Verstecke können auch bekannt und akzeptiert, gleichwohl unangetastet sein. Sie sind Zonen, deren Zugang geregelt ist, aber nicht ausschließlich der Abwehr einer interessierten Intentionalität dienen. Verstecke leisten Kompartimentierung. Räumlich, physisch, sozial, logisch.

Spoiler (2. Grades: ich verrate noch nichts, aber ich verrate, daß noch was ganz Anderes kommt): es geht gar nicht um die folgende Liste der Verstecke in „L’Enfant“ — ich will eigentlich nur über (Sie kennen sie jetzt aber noch nicht) die Pointe am Schluss (dieser Bemerkungen, nicht des Films) reden. Ich verrate also: nicht Tränen — Blumen!

Das „offizielle“ Versteck (der Karton). Die offene Strasse, das Gehen, Wandern, Schieben unter freiem Himmel. Das Gehen und Stehen im Regen.
Der Bauch, in dem das Kind gerade noch war; die nicht sichtbare Hand auf dem Bauch. Der, die Kinderwagen (sein unsichtbarer Innenraum). Der Baby-Overall (Anonymitäts-Dispositiv: die vielen Baby-Darsteller im Abspann).

Kleidung: der Hut, der verlorene Hut, der Regen. Der Minirock, genuines Dispositiv des Versteckens (bar/bedeckt), die Jacke(n), die nassen Socken, die ausgezogen werden (die nackten Füße), die Kleidung, die im Asyl nicht ausgezogen wird; das Baby, dem nie die Windel gewechselt werden, und das nur ‚zuhause‘ nur teilweise ausgezogen wird.

Die Taschen der Kleidung: in denen alles mögliche steckt: die Beute, das bare Geld (kein Portemonnaie), das Handy, die Zigaretten (kein Alkohol); die gefilzt werden; (hat die Gefängniskleidung Taschen?).

Die Taschen der Beute: die Kiste mit dem Testament (der versteckte Wille), mit Schloss (schlecht geschlossen), mit Draht (sehr schlecht geschlossen); die Tragetasche der Frau, der Geldbeutel.

Wohnungen mit Türen: die Wohnung des Paars, der Mutter, das Asyl (die Gegensprechanlage, die Gegensprechanlage am Mulholland Drive).

Übergabeorte: die Wohnung (die Zimmer mit Türen, die verschlossenen Aufzüge), die Garage (doppelt, mit Rolltür, mit Innenwand, mit Loch).

Die Schwellen (die Zugänge zum Versteck): die Autostrasse, die Böschung, das Einsteigen in den Bus (Hilfe auf der Schwelle), das Dach des Cabriolets, die Schlange am Amt (die versteckte Hilfe), die Telefonistin, die die Nummer der Mutter nicht vermittelt, der Zaun, wo er auf den Motorroller-Knirps wartet.

Die Deckung: vor den Verfolgern hinter dem Stahlzeug, im Wasser, in der Ufer-Baracke.

Die Orte: das Asyl, das Krankenhaus: der Zugang zur Station, die Vorhänge ums Bett (das verbotene Handy); die Polizeistation (Aufzug, Zugangsregelung am Counter), das Gefängnis.

Das Handy: der Bote, Vermittler entlang der Grenze offen (das dauernde Klingeln)/verdeckt (die anonyme SIM-Karte): die Übergabe des Handys durchs Loch in der Wand, die kurzen Gespräche der Versteckten, ohne Spuren (das Aufheben der alten Telefonkarte) — aber es braucht Strom.

Des weiteren: das Aufreissen des Nahrungsbeutels, das nackte Kaffeepulver, das Cabriolet (das Verdeck-Auto), die im Kinderwagen versteckte 1-Euro-Weste, das bare Geld, der von der Polizeidecke bedeckte Junge, die saubere Gefängniskleidung (ohne Taschen?), das bare Geld, das bare Geld.

Und nun die Pointe:
Bei der Übergabe des Kindes muß Bruno die Tür des Zimmers schließen, das zu der leerstehenden Wohnung des anonymen Hochhauses gehört. Das Handy, der Schwellenapparat, steuert die Abläufe. Bruno muss warten. Er steht derweil vor einer Tapete mit einem Muster von kleinen Blumen und Pflanzengruppen. Man kann sagen: eine „realistische“ Tapete für solch einen trostlosen Ort. In diesem Sinne indiziert die Tapete soziale Realität (im Tagesspiegel-Interview wird Barthes‘ „Realitätseffekt“ angesprochen). Lange halbnahe Einstellung. Und dann, mit einem Mal, bewegt sich etwas auf (in?) der Tapete: ein Ohr?, ein Tier?, ein Schmetterling?, eine Ente? Der erste Dardennes-Zoom fährt auf (in?) die Tapete und entdeckt, daß in (hinter?) der Tapete ein unerhörtes Geschehen vor sich geht: der Film vergißt daraufhin Bruno, Sonia, das Kind, das Geld, den Staat, den Regen, und stürzt im folgenden die Blütenbahnen eines blümchenfrischen Lenor-haften Eskapismus hinunter. Dieser Film aber, obwohl die Tapete, wie jede Tapete, wie jede Wand, glatt und flach ist — dieser Film ist versteckt in der Falte eines offenen Geheimnisses, eines Oberflächenreizes. Aus dem Off hört man sagen: „… a little bit of blue skies, lots of clouds, no wind, some rain last night, fifty-eight degrees.“

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