Mittwoch, 12.09.2007

Deutscher Herbst

I.
Die Landung war haarsträubend. Bis unmittelbar vor dem jähen Aufsetzen auf der Piste befand sich das Flugzeug in grotesker Schieflage. Jeden Augenblick musste die rechte Tragfläche das trockene Gestrüpp neben dem Asphalt touchieren. So hatte ich mir das Ende nicht vorgestellt. –
Eine Minute später rollte die Maschine gemächlich auf ihre Parkposition, als sei nichts gewesen.

II.
Irgendjemand hatte geschrieben, das griechische Fernsehen reagiere auf die rapide Vervielfachung der Brandherde mit einer Vervielfachung der parallel geschalteten Übertragungsfenster für Korrespondentenberichte; eine Dringlichkeitsadresse der Bildregie. Zwei bis drei Blicke auf die Nachrichtensendungen zeigen, dass die Aufteilung des Bildschirms in oft sechs Teilbildchen hier eine übliche Konvention ist, unabhängig davon, worüber berichtet wird. Weil von den sechs Personen, die aus je einem Teilfenster wie aus dem Türchen eines Adventskalenders herausgucken, aber immer nur einer befragt werden kann, müssen die Anderen über quälend lange Zeiträume hinweg stillhalten und schweigen. Aus Mitleid mit diesem Schweigenmüssen und der Unbill des Unbeschäftigtseins wird gelegentlich umgeschnitten auf andere Einstellungen, die mit dieser Person oder dem berichteten Ereignis vermutlich in Verbindung stehen. Manche der Schnittfolgen wiederholen sich wie Bildschirmschoner und begründen kleine, wiederkehrende Loop-Häppchen, in denen das Verhältnis der montierenden Erzählgeste zur erzählten Zeit unklar wird. Diese kurzen Montagen machen skeptisch gegenüber dem Live-Charakter des Gezeigten. Was sehen wir? Passiert das jetzt gerade oder ist das längst passiert? Das Dürftig-Informative wird als Hübsch-Ornamentales verkauft und damit entwertet.

III.
Wir hatten von einem Freiluftkino in einem Dorf im Landesinnern der Insel gehört. Mit den gemieteten Vespas waren wir einmal vorbeigefahren, um uns nach dem Programm zu erkundigen. Ein freundlicher alter Mann, der kein Englisch sprach, hielt uns einen Din-A4-Zettel im Vierfarbdruck entgegen. Zurzeit lief ein griechischer Film, aber ein paar Tage später sollte „MUSIC AND LYRICS“ starten, mit Hugh Grant und Drew Barrymore. Dann würden wir wiederkommen.
Am besagten Tag, wir waren früh dran, empfing uns der Sohn. Er zeigte uns den von einer Mauer eingefassten, handballfeldgroßen Zuschauerraum mit 30 Tischen, um die je fünf Plastikstühle herumgruppiert waren. Wohin man blickte duftende Pflanzen und Kräuter. Wir sollten abends pünktlich kommen, es könnte voll werden. Er selbst habe das Kino von seinem Vater übernommen, der wiederum habe weitergeführt, was sein Vater begonnen hätte. Im kommenden Jahr würden sie ein großes Fest machen, mit Musik, da werde ihr Kino seinen 80. Geburtstag feiern: In der Inselprovinz waren wir unverhofft auf eine Nebenschlagader der griechischen Cinéphilie gestoßen.
Ab halb neun fanden sich die Zuschauerinnen und Zuschauer ein, meist Familien. Die Mädchen lockten die zahlreichen Katzen zu sich, um sie zu streicheln und von Hand zu Hand weiterzureichen. Der Kinobetreiber nahm die Bestellung auf, denn überraschenderweise konnte man hier auch Pizza bestellen, die nach etwa der ersten Viertelstunde des Films geliefert würde! Außerdem solle man sich zum Ende des Films hin wie bei jeder Vorführung auf frischgebackene Doughnuts von seiner Mutter einrichten. Jeder bekomme ungefähr fünf Stück, mit Honig, das sei im Preis inbegriffen, und wenn das Kino voll sei, mache seine Mutter eben ein paar Hundert davon.
Gerade war mir der Gedanke gekommen, dass die Mücken jetzt wahrscheinlich das einzige wären, was den Filmabend noch stören könnte, da machte der Kinobesitzer noch eine letzte Runde um die Tische, um auf jedem Tisch je ein Fläschchen mit Insektenschutz unterschiedlicher Marke und Herkunft zu placieren. Hatten sie hier denn wirklich an alles gedacht?

IV.
Auf die Frage der schwäbischen Hotelbesitzerin, was sie da beim Frühstück lese, antwortete S., das sei das ZEIT-Dossier zum Deutschen Herbst. Bei dem Wetter, antwortete die Hotelbesitzerin kopfschüttelnd mit Blick auf die strahlende Sonne, fügte dann aber verständnisvoll hinzu, dass es in Deutschland tatsächlich empfindlich abgekühlt sei.

V.
Der Barbier nahm die Haut am Hals und um den Mund herum zwischen seine Finger, um die Oberfläche zu straffen und dann energisch das Rasiermesser anzusetzen. Mir kamen ein Gedanke an UN CHIEN ANDALOU und einer an Hanekes CACHÉ empfindlich in die Quere. Schon wieder, wie im Flugzeug, krampfte sich meine Hand um die Lehne eines Sitzes. Und wieder verflüchtigte sich der Schreck gleich darauf, um im Äther der Folgenlosigkeit zu verschwinden.

VI.
Sexualimbiss. Schnellschnitzel. Freizeitkapitän. Paketluke. Gumminapf. Flauschpullover: Abschaffelworte, Genazinokomposita.
Romanhelden könnten nicht gegensätzlicher sein als Quincy Durant und Artie Wu einerseits und Abschaffel andererseits. Die lässige Souveränität von Wu und Durant, das Locker-Geschmeidige daran, das auch bisschen nerven kann: Immer sind es Tausender oder warum nicht gleich Millionendollarbeträge, die den Besitzer wechseln. Bangkok, Saigon, Pelican Bay, Malibu, Kambodscha – der Globus schnurrt dem Kriminalplot zum Provinznest zusammen. Für Abschaffel dagegen ist es schon ein Erdbeben, wenn der armselige Hornung mittags in der Kantine ein Stück des Pastetchens von Frau Schönböcks Teller auf seinen Teller herüberschaufelt, weil ihm ein paar Groschen fehlen. Scham: das Zentralgestirn, um das Genazinos Protagonist sich dreht. Vergrößerungswahn, der das Mikroskopische ins Monströse wendet. Aber unter dem Strich ist Genazinos provinziell-bundesrepublikanischer Schamkosmos umfassender als Ross Thomas’ weltumspannende Transaktionsketten.
Zugegebenermaßen ist das ein merkwürdiger Vergleich.

VII.
Wir waren zurück, gerade zwei Wochen weg gewesen. In der Zwischenzeit hatte Owen Wilson versucht sich umzubringen, Charlotte Gainsbourg war ins Krankenhaus eingeliefert worden und Oberschledorn hatte es auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft. In den Schaufenstern der Schreibwarengeschäfte lagen die Taschenkalender für 2008. Wir füllten an der Gasetagenheizung Wasser nach und stellten das Heizungsthermostat ein paar Grad wärmer.

– Volker Pantenburg –

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