Sonntag, 16.03.2008

It Always Rains on Sunday

von Volker Pantenburg

Beim Umsteigen auf dem Flughafen greift sich mein Computer ein Drahtlosnetzwerk aus der Luft. Nicht nur das: Wie von Geisterhand erscheinen auch die Namen anderer Rechner in der Umgebung auf dem Bildschirm. „Peter X’s notebook“ oder „Jimmy Y’s mac“, sechs oder sieben Stück insgesamt. Einige der fremden Festplatten sind so ungeschützt, dass ich mir Peter X’s Geschäftspost oder Jimmy Y’s Urlaubsfotos ansehen könnte, wenn meine Neugier oder meine kriminelle Energie dazu ausreichen würden. Ein paar Tage später, im Starbucks am Astor Place, wehen die Infrarotwellen „Walid Raad’s notebook“ auf meinen Bildschirm; wenn man seinen Namen oder die Worte „Atlas Group“ googelt, erfährt man, dass er an der „Cooper Union“ gleich nebenan unterrichtet. Es gibt also nicht nur den gewollten und allerorten beobachtbaren Digitalexhibitionismus, sondern auch (als seine Rückseite) einen oft ungewollten Digitalvoyeurismus, der einen aus dem Hinterhalt anspringt, sobald man den Rechner aufklappt.

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Wenn man ein Geschäft daraus machen kann, die Leute ins Netz zu bringen, muss man auch Geld damit verdienen können, sie wieder aus dem Netz zu entfernen. Im Time Out New York ist ein Artikel darüber, wie schwierig es ist, seine Spuren im Netz zu löschen. Inzwischen gibt es Dienstleistungsunternehmen, die sich dafür bezahlen lassen, Ungewolltes tilgen zu lassen: „ReputationDefender and RemoveYourName.com will both go after icky references to you on other people’s sites; they’ll either apply to get them taken down (sometimes possible) or bump them so deep into search-result pages that they become all but unfindable. It’ll cost you anywhere from $40 to remove or conceal one troublesome mention to $1,995 for a package that will search and destroy—or hide—information you that you want gone (this is popular with businesses looking to remove bad reviews and the like).“

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Für die amerikanische Filmgeschichte haben die Stufen zum Osteingang des Philadelphia Museum of Art den gleichen Stellenwert wie die Treppe von Odessa für die sowjetische. Und gleichzeitig ist die eine Treppe die Antithese der anderen. Rocky: Der Held als Individualist. Du kannst es schaffen. Panzerkreuzer Potemkin: Das heroische Kollektiv. Ihr müsst euch wehren. Eine Stallone-Statue mit Boxhandschuhen ist unten rechts neben der Treppe aufgestellt. Oben, wo er im Film die Arme hochreckt, was ihm im strahlenden Sonnenschein fast jeder Tourist nachmacht, sind zwei metallene Turnschuhabdrücke in den Steinboden eingelassen. Vielleicht schubsen die Touristen in Odessa ja ihre Kinderwagen die Treppe runter oder die Besuchergruppen marschieren auf Befehl der Reiseleiter im Gleichschritt treppab.

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Die größte Überraschung im Museum sind die Fotografien von Lee Miller. Ihr Name kam mir bekannt vor, aber ich hätte nicht sagen können woher. In den Zwanziger Jahren arbeitete sie als Model, dann setzte sie sich in den Kopf, Man Ray in Paris zu assistieren. Dort Kontakte zur Kunstszene und eine tragende Rolle in Cocteaus LE SANG D’UN POÈTE (die armlose Statue). Sie beginnt zu fotografieren, und in den frühen Dreißigerjahren entstehen zahlreiche Fotos für Mode- und Lifestylemagazine. Porträts von Chaplin und Picasso sind darunter, aber auch abstrakte Studien von Ornamenten und urbanen Szenen. Im zweiten Weltkrieg lässt sich Miller als Kriegsfotografin für Vogue akkreditieren; als eine der wenigen Frauen unter den Berichterstattern geht sie nach Europa. Die letzten Kriegswochen verbringt sie in Köln, München, Dachau, Bergen-Belsen. Aus dieser Zeit stammt die Fotoreportage, die in der Juniausgabe von Vogue erscheint („Believe it“, Vogue, 1. Juni 1945). Miller beschreibt, wie nett die Kölnerinnen und Kölner sie aus den zerbombten Häusern und auf den Straßen anlächeln und wie widerlich und empörend ihr das vorkommt. „From what kind of escape zones in the unventilated alleys of their brains are they able to conjure up the idea that they are a liberated, not a conquered people?“ Im Mai, als Hitler in Berlin ist, entsteht eine Serie von Bildern in seiner Wohnung in München. Einer der Amerikaner liegt mit „Mein Kampf“ auf Hitlers Sofa. Und ein besonders bekannt gewordener, unheimlicher Abzug zeigt Lee Miller in Hitlers Badewanne. „Hitler surrendered while we were in his bathroom“, erinnert sich David Sherman, der das Badewannenfoto von Lee Miller gemacht hat. Man sieht und hört ihn, alt und bärtig, in der Dokumentation über Miller, die im Museumsshop zwischen die Bücher, Souvenirtassen und T-Shirts hinausgesendet wird.

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Arbeitshypothese: Cai Guo-Qiangs Pyro- und Feuerwerksvideos verhalten sich zu denen Roman Signers wie ein großangelegtes und etwas pathosverdächtiges Epos zu einem verlegen-bescheidenen Kalauer.

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Im Stadtmagazin lese ich etwas über eine Ausstellung von Michel Gondry. Von außen ist die Galerie so verkleidet, dass sie wie eine anständig runtergerockte Videothek aussieht; man weiß zuerst nicht, ob man richtig ist, und so soll es wohl auch sein. Drinnen dann ein symphatisches Durcheinander. Irgendetwas zwischen Publicity Stunt (der Film, der wie die Ausstellung BE KIND, REWIND heißt, läuft parallel in den New Yorker Kinos an), Abenteuerspielplatz und Making-of-cum-exhibition. Eine Reihe von Sets ist aufgebaut: Wohnungstür, Café, Auto, Zelt mit Lagerfeuer im Wald, miniaturisierte Skyline mit Modellautos davor, alles hübsch zusammengebastelt. Die Gruppen von Jugendlichen, die sich zu 45-minütigen Workshops zusammenfinden und danach in den verschiedenen Teilen der Galerie ihren Film drehen, haben ihren Spaß.

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Ich wohne bei Freunden in Greenpoint oberhalb von Williamsburg. In den Supermärkten und Geschäften wird Polnisch gesprochen. B. arbeitet als Anwältin bei der Firma, die Saturday Night Live produziert, bei ihnen liegen reichlich SNL-DVDs herum. Wir gucken zusammen den Best of-Zusammenschnitt mit Will Ferrell (gerade ist SEMI-PRO angelaufen, die nächste Folge von Will Ferrells Sportarten-Projekt nach Nascar und Eiskunstlauf: diesmal Basketball). Meinen Lieblingssatz sagt Christopher Walken als Musikproduzent Bruce Dickinson beim „Behind the Music“-Sketch über die Aufnahme von Blue Öyster Cult’s „(Don’t Fear) The Reaper“: „I got a fever. And the only prescription is: More cowbell“. Später lese ich, dass der Sketch seit seiner Ausstrahlung am 8. April 2000 eine erstaunliche popkulturelle Karriere gemacht hat. Siehe auch den ausführlichen Wikipedia-Eintrag „More Cowbell“.

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Morgens unter der Dusche bringt mich das wasserfeste Radio auf den neuesten Stand, wie sich die causa Eliot Spitzer entwickelt. Julianne Moore distanziert sich nach seinen Fehltritten von ihm. Sie und viele andere haben ihn bei seiner Kandidatur als Gouverneur unterstützt. Jetzt, nach der Geschichte mit den Prostituierten und den Finanztransaktionen, die aufgrund der von ihm verschärften Kontrollgesetze ans Licht kamen, sagt Moore „I’m so pissed“ und fügt hin zu: „He’s so fucking embarassing“. Das Wort „structuring“, das die von Spitzer betriebene translegale Praxis beschreibt, große Geldsummen zur Verschleierung der Transaktionswege in kleinere Beträge zu zerteilen, hat in den dreieinhalb Tagen meines Aufenthalts eine erstaunliche Karriere gemacht. Am ersten Tag wurde es im Radio erklärt wie ein Fremdwort, am zweiten war es schon allen geläufig, und am dritten Tag spricht jeder mit einer Selbstverständlichkeit davon, als hätte er sein Leben lang mit nichts anderem zu tun gehabt.

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In einem Buchladen in Williamsburg kaufe ich ein gebrauchtes Exemplar von John Faheys „How Bluegrass Music Destroyed My Life“. Ich hatte das Buch schon länger lesen wollen, aber irgendwie hatte es sich bisher nicht ergeben. Die Übersetzung zu kaufen, die Karl Bruckmeier bei Suhrkamp unter dem Titel „Blaugrasmusik“ herausgegeben hat, wäre mir merkwürdig vorgekommen; man würde sich Faheys Platten ja auch nicht auf dem Klavier nachspielen lassen. In dem Buch ist ein vehementer Text gegen Antonioni, den ich hier gern posten würde. Nicht, weil ich etwas gegen Antonioni hätte, sondern weil mir der Text so gut gefällt. Fahey erinnert sich daran, wie er 1969 von MGM kontaktiert wird. Es sei wichtig, er müsse morgen nach Rom fliegen, um für Antonioni Musik aufzunehmen. Gegen seine erste Intuition lässt Fahey sich überreden, und das Unglück nimmt seinen Lauf. „Well, anyway, the next day as it has all been prearranged by other people, not me, a limo comes and picks me up. And it is driven by a chauffeur.
I have never once in my life been in a limo with a chauffeur. See, they are trying to make me feel important. And despite all that I have learned and despite all my reservations and all my existential resolutions and religion, these guys are winning and I am beginning to feel like everything is

IMPORTANT.

And I hate it but I can’t completely stop it.
I didn’t ask for a limo and a chauffeur. What do I want with a limo and a chauffeur?
Nothing. I like to keep a low profile. I can drive better than most chauffeurs, anyway. See how they insinuate themselves into your life and get you to think like they think?
Everything is important. I am important.
I hate it.“

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Jeder meiner kurzen New York-Aufenthalte hatte seine Begleitmedien: 1998 hatte ich mir gerade einen MD-Recorder zugelegt und konnte mir einbilden, dass den kleinen quadratischen Speicherplatten die Zukunft gehörte. Mein Freund L. kaufte sich einen digitalen Fotoapparat von Olympus mit 0,31 Megapixel Auflösung (heute ist die Auflösung eines Fotohandys zehnmal so hoch). Drei Jahre später, als die Trümmer in Lower Manhattan noch qualmten und ein beißend-scharfer Geruch in der Luft lag, hielt ich nach Telefonzellen Ausschau und war froh, genügend Quarters in der Hosentasche zu haben. Thanks for choosing a Verizon Payphone. Wieder drei Jahre später hatte ich mein Laptop dabei, fand aber in der Wohnung, in der wir wohnten, kein Kabel, mit dem ich mich ans Netz anschließen konnte. Mein Mobiltelefon funktionierte nicht, Worte wie „Triband“ fielen, wenn man mir die Gründe dafür auseinandersetzte. Jetzt, wo erneut vier Jahre vergangen sind, stellen sich diese Fragen gar nicht mehr. SMS zu schicken oder Wireless-Netzwerke zu finden ist selbstverständlich geworden und das Reisen um ein paar pragmatische Aufgeregtheiten ärmer. Auf der Bedford Avenue telefonieren drei von vier Fußgängern. Mit der anderen Hand schieben sie den Kinderwagen. Meine Quarters bleiben ungenutzt und beleidigt im Portemonnnaie liegen. Nach der Landung in Berlin gebe ich sie zusammen mit dem übrigen Kleingeld meinem Sitznachbarn. Er fliegt nächste Woche zurück nach Los Angeles.

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