Dienstag, 21.10.2008

Assess and Evaluate

Am Strand lag einer, der, nachdem er seine Liege an ein schattigeres Plätzchen gezogen hatte, die Taschenbuchausgabe des „Baader Meinhof Komplex“ zu lesen begann. Der Impuls, in den Schatten zu gehen, deutete darauf hin, dass er noch nicht lange am Urlaubsort war; seine noch blasse Haut stützte den Eindruck. Wahrscheinlich waren er und seine Freundin (wie wir vor knapp zwei Wochen) abends spät auf der anderen Seite der Insel gelandet und dann heute Morgen mit dem Leihwagen weitergefahren. Heute war Freitag, gestern war der Edeleichinger in Deutschland angelaufen. Ich rechnete mir aus, dass sich – spätestens jetzt – die Taschenbücher am Flughafen stapelten, und da hatte dieser Urlaubsleser kurzentschlossen zugegriffen.

Ja, so musste es gewesen sein.

Das prozessierende Denken, das von einem unscheinbaren Tatbestand auf seine möglichen Hintergründe schließt, um daraus die denkbaren Folgen und notwendigen Reaktionen abzuleiten, hatte – das merkte ich an dieser Gedankenkette – von den Lee Child-Romanen auf mich abgefärbt. „He had been taught to assess and evaluate,“ heißt es in einem der Bücher über Jack Reacher, und diese basale Krimi-Formel überträgt sich so wirkungsvoll auf den Leser, dass ich einmal nachts nicht schlafen konnte, weil die Spannung kaum auszuhalten war. Welche widerwärtigen Dinge würde sich Hook Hobie oben in der schallisolierten Büroetage des WTC noch ausdenken? Es gibt aber noch einen zweite Facette von Reachers Methode: „and to use pure force of will to succeed“ – die Fred-Niezsche-Meets-Dirty-Harry-Seite der Romane, die manchmal ein bisschen nerven kann.

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Urlaubshaft am Urlaub sind nicht mehr der Strand, die Sonne und das Meer. Urlaubshaft ist die Lizenz, zwei Wochen lang keine Emails zu lesen. Man sollte deshalb keine Urlaubsanträge mehr einreichen, sondern beim Arbeitgeber beantragen, offline sein zu dürfen. Auch die „out of office“-reply macht kaum Sinn, wenn das Büro 33 x 22,5 x 2,5 cm groß ist und einen fast immer begleitet. Diesmal war das Büro zuhause geblieben und wir mieden die Internet-Cafés wie ein trockener Ex-Alkoholiker das Kneipenviertel.

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In einer der Pensionen gab es Satelliten-Fernsehen. Die deutschen Sender funktionierten nicht, aber irgendwo weit hinten, auf Programmplatz 749, blieb ich an CNN INTERNATIONAL hängen. Es war der Tag, an dem das amerikanische Finanzhilfepaket nicht zustandekam. Bei den Pressekonferenzen wechselten sich Republikaner und Demokraten ab. Ich kannte diese Leute nicht, die über hunderte Milliarden Dollar entscheiden müssen und war überrascht von ihrer Ruhe. Auffällig auch der saloppe Tonfall, ganz in der Linie des amerikanischen Pragmatismus. We need to get the job done, sagte einer immer wieder hemdsärmelig, und ein anderer replizierte – noch näher an der Idee des Tellerwäschers – let’s clean up the mess. In den Werbeblöcken zwischendurch wurden einem die Vorzüge des Finanzstandorts Dubai mit einer Vehemenz eingeprügelt, gegen die die 0190-Clips in den Privatsendern wie höfliche Einladungsgesten wirkten.

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In eigentlich jedem Buch von Ross Thomas fährt jemand einen Chevrolet. Deshalb hielt ich es für passend, dass unser Leihwagen ebenfalls ein Chevrolet war. Wenn ich hier also schriebe: „We got back into our Chevrolet and started crossing the island to be back at the coast before dusk“, würde es, ohne gelogen zu sein, fast wie eine Zeile aus einem Ross-Thomas Roman klingen. Ich müsste dann allerdings verschweigen, dass es sich bei Thomas meist um einen IMPALA handelt, während unser Modell MATIZ hieß und wahrscheinlich selbst nicht genau weiß, wie es zum Namen Chevrolet gekommen ist.

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Großartig an den gelben Ullstein-Versionen der Ross-Thomas Bücher sind die nachlässigen Übersetzungen. Wenn jemand ein Büro sucht, das auf dem vierten Flur liegt und ein anderer ein Mädchen aufgreift, dann weiß man sofort, in welchem literarischen Kosmos man sich bewegt. Schon ein Titel wie GEHEIMOPERATION GELBER HUND! Wenn ich einen Krimi schreiben würde, dann müsste er genau diesen Tonfall treffen. Er müsste so klingen, als sei er schnell und etwas fahrig, aber mit einem Gespür für den Drive des Ganzen aus dem Amerikanischen übersetzt worden.

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Vierzehn Tage ohne Kino. In einer der größeren Städte auf der Insel lief ausschließlich MAMMA MIA, und so ausgehungert waren wir nun doch nicht. Erst am Tag des Rückflugs, als wir ein paar Stunden in der Hauptstadt der Insel zu überbrücken hatten, ergab sich die Gelegenheit. BURN AFTER READING lief hier schon, ein oder zwei Wochen früher als in Deutschland. Aber fünf Ross Thomas- und zwei Lee Child-Romane hatten mich so vollständig in den Bann des Geheimnisvollen gezogen, dass ich mich nicht damit abfinden wollte, dass hier zwar alle Gesten, aber kein Geheimnis zu finden sein sollte. Wir waren die einzigen Gäste in einem großen Multiplex-Kino. Draußen in der Mall tranken die Jugendlichen ihren Starbucks-Kaffee und kauften in klimatisierten Geschäften Kleidung, die so aussah wie die Kleidung in Berlin auch aussieht. In zwei Stunden sollten wir Chevrolet am Flughafen auf dem Parkplatz des Autoverleihs abstellen. Es war schon Nacht, als die Maschine endlich abhob.

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