Sonntag, 26.10.2008

Kann Film forschen? oder: Wie hinters Licht führen?

Im Sommer 2008 wurde der Film AUFSCHUB (2007) von Harun Farocki in der Humboldt-Universität zur Aufführung gebracht. (TAZ-Interview) Allein aus vorliegendem und nur zum Teil geschnittenem Filmmaterial des jüdischen Lagerinsassen Rudolf Breslauer stellt Farocki einen 40 minütigen Stummfilm zusammen, der die vorhandenen Einstellungen auf darin enthaltene Informationen befragt und untersucht. Breslauer arbeitete im Auftrag der deutschen Lagerleitung an einer Dokumentation über das Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden. Dieser Film, der als Anschauungsmaterial für das Besucherzentrum gedacht war, wurde tatsächlich nie vollendet. Breslauer selbst wurde weiter nach Osten deportiert und ermordet.

In Farockis Film AUFSCHUB gibt es die Einstellung eines Kindes hinter Glas in einem Wagonabteil. Dieses Kind schaut nach draußen in Richtung Kamera und hebt wie zum Gruß winkend die Hand. – Ich schreibe dies aus der Erinnerung, die Einstellung liegt mir nicht als Kopie vor. Die Details sind hier aber auch nicht entscheidend. – In der Diskussion nach der Vorführung bemängelten verschiedene Zuschauer den sentimental-suggestiven Charakter der Montage dieser Einstellung innerhalb des Films, der doch vorgibt, sich dem Material zuvorderst rational, begrifflich nähern zu wollen. Farocki wies diesen Einwurf zurück und parierte die Diskussion an einer Stelle sinngemäß damit, er mache diese Arbeit schon seit dreißig Jahren und man müsse ihm schon zugestehen, dass er weiß, was er tut.

Wie auch immer: Diese Situation macht klar – die Auslegung oder Wirkung einer Montagefolge ist auch nach Jahrzehnten Schnitt- und Filmanalyseerfahrung nicht eindeutig kontrollierbar. Und ich bin sicher, niemand weiß das besser als Harun Farocki. Seine Reaktion ist vielleicht mehr als ein Aufschrecken zu verstehen, wie: hier ist mir etwas aus der Hand geglitten, das dingfest gemacht werden muss – so wie Mütter zuweilen Diskussionen zu beenden versuchen unter dem nicht hintergehbaren Hinweis: Aber ich bin doch Deine Mutter!

Wenn Film das aber nicht kann, eindeutige Bestimmungen herbeizuführen, selbst mit Hilfe eindeutig sinnvoller Sprache nicht schafft, kalkulierbare Wirkungen hervorzurufen, ist er dann überhaupt wissenschaftsfähig? Selbst das amerikanische Kino als das kalkulierteste, von dem gesagt wird, auf 10 Hollywood-Großproduktionen kommen immerhin 9 Flops, bestätigt den filmischen Irrationalismus. Damit ist vielleicht auch der apodiktische Gestus vieler Off-Dokumentarfilmkommentare erklärbar – der Gestus des so und nicht anders, friss oder stirb, ran an Sarg und mit geheult und auf jeden Fall: hier geht es lang und es gibt kein zurück, der Film läuft nur in eine Richtung – aus der Angst einfach, den Ariadnefaden zu verlieren, der Theseus wieder aus dem Labyrinth an den Ausgansort zurückführt.

Nun kann man natürlich fragen, wen interessiert das? Warum sollte Film überhaupt Wissenschaft sein? Ich komme darauf, weil bei Farocki, bei Didi-Huberman (BILDER TROTZ ALLEM, München 2008) völlig berechtigt gefordert wird, bestehendes Film- und Bildmaterial neu zu befragen und selbst bei einem Projekt wie KUNST-DER-VERMITTLUNG geht es ja letztlich um eine Befragung bestehenden Materials. Und die Frage davor ist: Wie geht so etwas mit Film?

Mit Ausnahme von Erkenntnisverfahren wie Offenbarungsreligionen, bei denen man von vorneherein im Licht sitzt und Gewissheit hat, ist die Bewegung bei Verfahren wie Wissenschaft und Kunst, und hier zumal beim Film, zunächst eine sehr ähnliche. Man könnte sie beschreiben als HINTERS LICHT FÜHREN. Der Beobachter, der Wissenschaftler, der Regisseur, der Kameramann, ja selbst das Kinopublikum sitzt hinterm Licht oder mit dem Licht im Rücken, guckt quasi aus dem Dunklen auf das ausgestellte Objekt im Licht. In der klassischen Wissenschaft geschieht das in emotionaler Quarantäne, in Methoden wie Handlungs- und Aktionsforschung ist das Eingreifen des Forschers unter Auflagen gestattet, wenn nicht sogar gefordert, und Bestandteil des Settings. Wie alle Wissenschaftler und Künstler ist der Filmemacher zunächst Analytiker; denn zum Arbeiten wird in jedem Fall eine Hypothese gebraucht und die setzt eine Analyse voraus – wie fundiert auch immer. Traditionell geht es darum, Zuschauer emotional zu binden und zu führen. Avanciertere Methoden versuchen sich dabei selbst zu reflektieren, dem Filmemacher und dem Zuschauer seine Verstrickung zu verdeutlichen und so einen emanzipierteren Erkenntnisgewinn zu verschaffen, was in der Psychoanalyse nicht anders vonstatten geht. Das alles will nur sagen: Film ist ein Erkenntnisverfahren – auch wenn man es manchmal nicht glauben mag.

Wo Wissenschaft allerdings unter der Maxime der Verallgemeinerungsfähigkeit steht, liefert Kunst nur ästhetische Lösungen für ein spezielles Problem, für einen speziellen Ort. Es handelt sich um Vorschläge, die erst zum Leben erweckt werden, wenn Sie in den Diskurs gelangen, erst in der Diskussion auf allgemeine Praxis hin geprüft werden, so dass man sagen kann: Ein Film, über den nicht gesprochen wird, den gibt es eigentlich gar nicht. Solange bis ihn jemand entdeckt und davon berichtet.

Als die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin in der Mitte der achtziger Jahre wieder einmal um ihr Existenzrecht kämpfen musste, hatte man sich in Teilen des Studentenrates auf die Formel geeinigt, die dffb als Filmforschungsinstitut zu verkaufen, an dem Filmforscher ausgebildet werden. Nur einer der Studenten ging dann allerdings meines Wissens soweit, den Radius dahingehend zu erweitern, die Projektion seines Abschlussfilms bei geöffnetem Saallicht vorzunehmen.

Christoph Willems – DER MANN AUS DEM OSTEN (1990)

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