Dienstag, 23.12.2008

… trotz allem …

sonbahar – herbst
von özcan alper, tr+d, 2008

der film beginnt mit einer untersuchung beim gefängnisarzt, dann wird ein mann aus dem gefängnis entlassen. er macht sich auf die reise, eine lange busfahrt, entlang am ufer des schwarzen meeres ins gebirge der osttürkei. die reise endet in einer abgelegenen gegend. das sammeltaxi hält auf der schmalen gebirgsstrasse, passagiere steigen aus und verschwinden in den hängen, in einiger entfernung stehen vereinzelt häuser an den berghängen. von einem dorf kann man nicht eigentlich sprechen.
der mann steigt auch aus und kommt, nach 10 jahren haft wegen politischer betätigung, wie wir unterwegs erfahren, nach hause. dort lebt seine mutter in einem alten holzhaus. die alte frau kocht, hängt wäsche auf, hackt holz, fast immer sehen wir sie mit den alltäglichen verrichtungen beschäftigt. wenn seine mutter spricht, erscheinen türkische untertitel, sie spricht hemsin (1), er antwortet ihr auf türkisch. die meisten der nachbarn sind alt, am ersten abend nach seiner rückkehr sind einige von ihnen im haus versammelt.
der mann schläft, in seinem alten zimmer, wo ein bild von subcommandante marcos an der wand hängt. oder auf der bank vor dem haus, die so herum steht, dass er, statt auf die großartige landschaft zu schauen, auf das haus blickt.
wir im kino sehen diese landschaft im hintergrund, wenn der mann sich umdreht und wieder einschläft, sich eine zigarette anzündet, von der er husten muss, und sie wieder ausmacht. trotzdem raucht er fast ständig, und hustet.
viel reden tut er nicht. wenn er schläft, träumt er von demonstrationen, von gefängnis und soldaten. die träume sind videobilder, wenn er aus ihnen aufschreckt, findet er sich in seinem zimmer in dem haus, in dem er aufgewachsen ist. und blickt durch das fenster auf die bäume der gegenüberliegenden talseite.
die erinnerungen an die zeit vor dem gefängnis sind packen von vergilbten briefen und fotografien, gefunden in der alten truhe auf dem dachboden des hauses. ein familienbild, von vieren sind zwei noch übrig, der vater ist gestorben, die schwester hat geheiratet und ist weggezogen.
auf seinen wegen in der umgebung des hauses trifft er alte menschen, einmal eine kleine gruppe von männern, die am straßenrand sitzen, in deren unterhaltung oft von „turizm“ die rede ist. einzige hoffnung in der region, die wiederholten, langen einstellungen auf die landschaft erwecken sehnsucht beim betrachter, auch dort sein zu wollen, in der ruhe der unberührten natur. dass es sich bei diesen bildern um bittere ironie handelt, wird nur langsam zur gewissheit.
außer seiner mutter trifft der mann einen alten freund, der manchmal in die nächstgelegene stadt am ufer des schwarzen meeres fährt, um prostituierte zu treffen und ihn mitnimmt. dort betrachtet er das schaufenster eines buchladens, wir sehen die türkische ausgabe von „heidi“ ausgestellt.
im buchladen begegnet er das erste mal einer frau. später, bei einem der besuche mit dem freund, sehen sie sich wieder. sie kommt aus georgien und ist als prostituierte in der türkischen hafenstadt nahe der grenze gelandet.
die beziehung, die sich zwischen den beiden entwickelt, ist ebenso sporadisch wie die besuche in der stadt es sind, und nicht nur die kilometer der schlecht befestigten straße zwischen meer und gebirge liegen zwischen ihnen. beide sind nicht die, die sie einmal sein wollten und anstatt der perspektive einer glücklichen liebesgeschichte zeigt uns der regisseur fernsehbilder von der weltmeisterschaft im eiskunstlauf, wir sehen ein sportlerpaar in perfekt einstudierten bewegungen durch die arena gleiten.
einmal sehen sie beide denselben film im fernsehen, einen liebesfilm, sie in ihren anonymen hotelzimmer in der stadt und er im haus in den bergen, wo der fernseher und auch das selten klingelnde telefon die einsamkeit nur verstärken. so macht er sich dann noch einmal auf den weg in die stadt und will sie treffen, sie aber hat sich entschieden nach georgien zurückzukehren. vielleicht verpassen sie sich nur um wenige augenblicke, kurz deutet die montage an, sie könnten sich gleich doch noch begegnen, es noch schaffen. was schaffen? welche hoffnung? danach sitzt er wieder in seinem zimmer, er schlägt seinen pass auf,
„türkiye“ lesen wir, das ist wahr und vielleicht nicht richtig, oder es ist nicht die wahrheit, aber realität.
in der letzten einstellung des films folgen wir wieder seinen blick auf das fenster und in einem langen, langsamen zoom endet das bild auf dem gegenüberliegenden berghang. der herbst ist vorbei, es hat geschneit, und im schneegestöber sehen wir einen kleinen trauerzug.
das war sein leben. er ist zum sterben nach hause zurückgekehrt.

sonbahar ist mit präzision zwischen allen „hot topics“ in der türkei plaziert, der verhandelte politische konflikt ist der fundamentale der assimilierungspolitik gegenüber den ethnischen minderheiten in der türkei. und ebenso präzise wie unspektakulär verfährt der film mit den möglichkeiten des kinos.
die videobilder in „sonbahar“ sind als „amateurbilder“ gekennzeichnet, sie dokumentieren politische kämpfe, sie zeigen die staatliche repression, sie lassen die gefahr in der sich die befinden, die diese bilder mit unruhiger hand festgehalten haben, erahnen.
und sie gehören zu einem traum, für den der protagonist in sonbahar 10 jahre im gefängnis verbracht hat, aus dem er als todkranker mann zurückkehrt an den ort seiner herkunft.
wenn er aus seinen gefängnisalpträumen erwacht, ist da der blick auf das fenster in seinem elternhaus. auf der leinwand ein kleiner viereckiger ausschnitt der landschaft in der schwarzen fläche der hauswand, nochmals kadriert im fensterkreuz.
es mutet an wie ein cineastisches zitat des vierten und zuletzt bekannt gewordenen heimlich gemachten bildes aus auschwitz, welche die einzigen überlieferten fotografien sind, die von häftlingen eines sonderkommandos gemacht werden konnten. dieses letzte foto zeigt den unscharfen blick auf einige baumwipfel durch die geöffnet stehende tür einer gaskammer. (2)

bilder, die auf den ort der kamera zeigen. die hier, im gegensatz zu der erregten kamera der videobilder, wiederholt und bedacht den blick in die berge der osttürkei als gefangenen blick inszeniert.
und die der regisseur, im unterschied zu den autoren der zitierten fotografie, im kino als ort der kollektiven anschauung einsetzen kann.
kino, das im gegensatz zum fernsehen, wie es hier gezeigt wird, nicht ein ort des getrenntseins ist.

der film ist heute in der türkei angelaufen, die nachmittagsvorstellung im majestic ist ausverkauft. nach dem verlassen des kinos stehe ich auf der istiklal caddesi im zentrum von istanbul. menschenmengen, trotz der kälte und des strömenden regens.
erst nach einer stunde fällt mir das paket wieder ein, das der protagonist unter dem arm trägt, als er nach 10 jahren wieder an seinem heimatort ankommt. ein großes, in papier und plastik gehülltes bild, das nicht ausgepackt wird.


(1) hemsin ist ein ursprünglich armenischer, türkisch-assimilierter dialekt, der in einer region der nordosttürkei gesprochen wird. (zurück)

(2) hierzu: Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, aus dem Französischen von Peter Geimer, München: Fink 2008. (zurück)

– maren grimm | 20.12.2008 –

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