Mittwoch, 23.05.2012

Am Anfang waren Schafe

TRAS – OS – MONTES  (Antonio Reis/M.M. Cordeiro 1976)

Diese Exposition muß eine Inspiration für SWEETGRASS (Castaing-Taylor/Barbash, USA 2009) gewesen sein: Unter einem langen Schwenk über die nordportugiesische Berglandschaft Tras-os-Montes sind die unablässigen Rufe eines Hirten zu hören: „Zurück! Zurück, ihr blöden Schafe! Zurück!“. Dann ein paar Einstellungen vom Treiben der Tiere und schon ist man mit dem Hirtenjungen in einem der Dörfer der abgelegenen, armen Region.
Das entschiedene „Zurück“ klingt wie ein Kennwort. Gekocht und geheizt wird mit offenem Feuer in verrauchten Räumen, uraltes Holz überall und roher Stein. Ochsenkarren, Frauen spinnen Wolle mit Spindeln, arbeiten an einem riesigen archaischen Webstuhl. Das Transportmittel ist der Esel. Die einzige Verbindung zur Stadt und Gegenwart stellt die Eisenbahn her, die im Dunkeln an einer Station hält. Eine Mutter überläßt dieser Geisterbahn ihre Tochter, die als Dienstmädchen in der Stadt eine Stelle antritt. Wie dieser Zug mit schriller Pfeife durch die Dämmerung rattert, beschließt den Film in einem grandiosen Schwenk, dem aufsteigenden weißen Rauch der Dampflok folgend.
Alltagsmomente transformiert der Film in magische Zeitlosigkeit. Kinder gehen am vereisten Fluss spielen. Ein Junge fischt aus dem Wasser einen glatten schwarzen Stein und erfindet spontan die Legende seiner Entstehung. Ein andermal strolchen die Kinder durch ‚das große Haus‘, wo sie unter Spinnweben alte Porträts und wertvolles Mobiliar bestaunen und einen Phonographen entdecken – der wundersamerweise sogar Musik spielt. Man erfährt nichts über die Bewohner des Hauses, die es verlassen haben. Sie könnten jeden Moment zurückkehren und das Leben dort fortsetzen. Sind sie ausgewandert? Das Haus wartet mit der Zeit.
Ein Mädchen wurde vor einem Jahr verheiratet und besucht zum ersten Mal ihre Familie – sie kommt in Festtracht auf einem Esel geritten und nur diese trippelnde Wegbewältigung, minutenlang, wird gezeigt, bis sie zum Hof gelangt. Ein schlichter, gleichförmiger Ritt durch die Landschaft, die stolze Haltung der jungen Frau, zugleich ihre Kindlichkeit, und die Ungeheuerlichkeit dieses Jahres, was sich in dieser Zeit für das Mädchen verändert hat, wird ahnbar.
Eine Fahrt in spiegelglattem Fluss, der in steilen Fels gebettet gar nicht zu fließen scheint, enthebt die Handgriffe des Netzauswerfens und -einholens beim Fischfang aus jeglicher Profanität.
Am Ende resümiert ein Schmied, auf den Amboß hämmernd, seine mehr als 60jährige Tätigkeit – kein Ackerbau ohne den Schmied. Er hat, seit er 15 Jahre alt wurde, nichts anderes getan.
In wahrer Bildsprache verknüpft dieser Film die menschliche Existenz mit der Landschaft, der Arbeit, den Tieren. Und ohne story erzählt er Geschichte. Und ohne sichtliche Ausflüge in die Vergangenheit macht er die Zeit zu einem Ganzen, wo die Gegenwart nicht dominiert. Gegen Ende des Films eine einzige Referenz – der Postbote bringt einen Brief, datiert von 1970, ein Mann sendet Grüße aus Deutschland an die ganze Familie.

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