Mittwoch, 03.10.2012

Kritik und Klinik

Die Ausgabe der Schriften von Serge Daney – „La Maison cinéma et le monde. 1. Le Temps des Cahiers 1962-1981 (Paris 2001) und „2. Les Années Libé 1981-1985 (Paris 2001) – ist jetzt komplettiert worden durch „La Maison cinéma et le monde. 3. Les Années Libé 1986-1991 (P.O.L. éditeur, Paris 2012). Dieser Band, 870 Seiten stark, samt Index, ist angeordnet in dreizehn Komplexen, es geht also nicht nur um Texte am ‚Leitfaden der Filme’, sondern auch um Wiederbesichtigungen, Filme am TV, Dreharbeiten, Gespräche, die ‚politique des auteurs’, die ‚poétique des acteurs’, Figuren, Buchbesprechungen, Bilderpolitik, um dies und jenes (‚Ici et ailleurs’), Kunst und Industrie, um das, was sich im ‚Innern der Medien’ abspielt, um Tennis, rumänische Telechroniken und den Golfkrieg. (Bereits in frühere Bücher aufgenommene Texte oder Teile – „Le Salaire du zappeur“, 1988 und 1993, „Devant la recrudescence des vols de sac à main“, 1993, „L’Amateur de tennis“, 1994 – sind in diesem Band 3 nicht enthalten.)
Der Schritt von den ‚Cahiers’ zur Tageszeitung ‚Libération’ (wo Daney den Bereich ‚Cinéma’, später die Seiten ‚Rebonds’ betreute) war sicher einer ins Ungewisse, vielleicht auch ins Freie – das tägliche Schreiben (in den Niederungen des Tagesjournalismus) stellte einen andern Anspruch an die eigene Formulierungsgabe, forderte sie heraus. Es kam darauf an, das Schreiben geschmeidig zu halten und dennoch Konsistenz zu erreichen, den bei den ‚Cahiers’ geprägten Stil in der täglichen Auseinandersetzung zu formen und zu stählen. (Nur ein Beispiel für die Vielzahl der Sujets: am 30. Januar 1986 schreibt Daney einen Nachruf auf die am Vortag verstorbene Lilli Palmer.) Wo ich auch blättere, in diesen Seiten, – es kommt mir immer interessant vor, sicher wäre da (wie im Tagesjournalismus von André Bazin) mancher Theoriebrocken zu heben.
Ich übersetze noch einen Abschnitt aus ‚Serge Daney, le voyeux’ von Pierre Eugène (‚artpress’, Nr. 391, Paris, Juli/ August 2012), der diesen Band 3 vorstellt (und unter anderem auch eine „Parallele“ Serge Daney – Saint-Simon zieht). „Es bedarf einer längeren Lektüre, um das schätzen zu können im Schreiben von Daney, was durch ein fragmentweises Lesen nicht unbedingt erscheint. Das sind seine Beunruhigungen und Besorgnisse. So gibt es eine permanente Sorge um die ‚Gesundheit’ (so wie man sich um die Gesundheit des Königs sorgt): die schlechte Gesundheit des Kinos, die ‚falsche gute Gesundheit’ des Fernsehens, die Krise der Drehbücher und der Ideologien, das Ende der grossen Erzählungen, Identitätswirren, das Erstarken der Rechten, der Zerfall der UdSSR … Ein Subtext, der sich immer stärker bemerkbar macht. Die Kritik, wie Daney sie sieht, wird zu einer Art Klinik, die den Zustand des Kinos zum Zeugnis für den Zustand der Welt nimmt. Eine Kino-Hypothese, an der Daney eisern festhalten wird, – der dokumentarische Blick (auch der an der Seite der Fiktion) als Vermittlung [‚passeur’] einer Erfahrung der Welt.“

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