Montag, 02.03.2015

Karsten Hein, Das vierte Album (2014)

Zur Happy Hour in die Melancholie

Dieses Buch, auf den ersten Blick eher unscheinbar (wenn auch schwergewichtig), entwickelt einen starken Sog nach vorne hin, ans Ende des Buches – und damit auch nach hinten, in die Vergangenheit: erst einmal auf die unmittelbar vergangene (um 2005 herum, als der Hauptteil der Fotos gemacht wurde), dann auf eine zeitlich weiter abliegende (bezeichnet durch das Datum der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 in Stammheim). Ich habe zuerst an La jetée von Chris Marker gedacht und an Vertigo, dann auch an En la ciudad de Sylvia von José Luis Guerín, aber „Das vierte Album“ ist ja ein ‚Fotoroman’, ein Buch mit Bildern und Texten.
Und die Ausgangslage ist nicht fiktiv, sondern real: Kazimierz Henrykowski, genannt Kazik, Fotograf und Bildreporter in Berlin (Büronachbar von Karsten Hein), hat 2005, unmittelbar nachdem er mit einem Flug aus Warschau in Tegel angekommen war, eine junge Frau fotografiert, an der Wand des Frauengefängnisses Plötzensee entlanggehend, die ihn nicht mehr losgelassen hat. Er folgt ihr also (Pergamonaltar, Flughafen Tempelhof) und verliert sie – sieht sie später zufällig wieder, als er in einem Café Unter den Linden sitzt (ein Zufall, der ihn stark beschäftigt in seinen Notizen). Er folgt ihr erneut, mit grösserer Notwendigkeit (Hauptgebäude der FU in Dahlem, Schliessfach voll mit ihrem Gepäck) und wird von ihr entdeckt, als sie vor einem Schaukasten steht und selbst fotografiert. Sie ist keinewswegs empört, spricht Kazik vielmehr als Fotograf (mit Presseausweis) an und bittet ihn, sie zu begleiten in den folgenden Tagen.
Ein kleines Archiv in Berlin hat Karsten Hein ausgemacht (nach Fotos), das die beiden dann besucht haben: der freundliche Archivar, „spezialisiert auf die Geschichte der linken Gruppen in der alten Bundesrepublik“, ist ein „Hüter der Erinnerungen an eine Zukunft, die es nicht gab“. Das Mädchen, stellt sich heraus, ist auf der Spur ihrer vermissten Schwester, Mitglied einer „Knastgruppe“, bestehend aus vier oder fünf ganz jungen Leuten, die kurz vor oder nach dem Mauerfall in Berlin und auch in dem Archiv waren. Weitere Stationen sind das Naturkundemuseum, ein Besuch bei Ewa, einer Freundin von Kazik, Studium eines Buches von Frances A. Yates über „Gedächtnis und Erinnern“ (zuerst London 1966) – ein ganzer (übersetzter) Exkurs von Kazik ist hier eingeschaltet über die Ars Memoriae, die Mnemonik / Memotechnik in der Antike. Die Aufnahmen von dem Mädchen werden zunehmend intimer, Kazik scheint sich in sie verliebt zu haben … „Fotos als gefrorene Erinnerungen“: Kerstin oder Kirsten, wie das Mädchen vielleicht heisst, ist wieder aus seinem Leben verschwunden.

Kazik ist zwei Jahre später (November 2007) an den Folgen eines Autounfalls gestorben: davor hatte er sich obsessiv mit den gesammelten Bildern befasst, sie „wie in einem Album“ zusammengestellt, die drei erstellten Versionen wieder verworfen – sich in seiner Bilderwelt verloren. Daher der Titel „Das vierte Album“: Karsten Hein ist von Ewa gebeten worden, sich der Sache anzunehmen (leichter gesagt als getan) und diese Herzensangelegenheit Kaziks abzuschliessen und herauszugeben.
Es gab in diesem Nachlass auch rätselhafte Bilder, nicht leicht zuzuordnen – nicht zuzustellen durch das Gewicht der Worte. „Fotografien haben der Gravitation von Worten wenig entgegenzusetzen, wie ich von Kazik gelernt habe. Auch unscheinbare Worte besitzen die Kraft, ein Bild in ihre Richtung zu lenken. Andererseits, wenn man über ein Foto, dessen Darstellung und Entstehung völlig offen sind, nachzudenken beginnt, öffnet sich einem der Boden unter den Füssen.“ (S. 86)
„Die Frau sei wie elektrisiert gewesen“, berichtet der Archivar, „als sie einen Grundriss des siebten Stocks des Gefängnisses von Stammheim entdeckte, in dem die RAF-Gefangenen 1977 untergebracht gewesen waren. Sie kannte die Zeichnung offenbar durch ihre Schwester.“ (S. 96) Der Archivar berichtet dann noch, die Schwester habe „die etwas befremdliche Fähigkeit“ besessen, „den Bericht, den Irmgard Möller, die einzige Überlebende der ‚Nacht von Stammheim’, darüber angefertigt hatte, wörtlich hersagen zu können; ebenso die ominösen ‚13 Widersprüche’ der staatlichen Ermittlungsstellen über den Tathergang jener Nacht.“ (S. 100)
Die Beschäftigung mit der „Nacht von Stammheim“ habe Kazik nicht mehr losgelassen, schreibt Karsten Hein; er sei es ja auch aus seiner Heimat gewohnt gewesen, offiziellen Versionen nicht zu glauben.
„Da sass er nun, dieser arme Pole, ohne recht zu wissen, wie er überhaupt dazu gekommen war, mit dieser bösen Hinterlassenschaft unserer westdeutschen Geschichte und zerbrach sich den Kopf über eine Frage, die die Deutschen selbst und selbst die Linke schon längst nicht mehr interessierte.
Er verstand nicht die Tragödie des Deutschen Herbstes, die Gnadenlosigkeit dieser Auseinandersetzung mitten im Frieden, in diesem reichen Land. Aber er nahm es als ‚deutsch’ hin.“ (S. 220)
Hat sich mit und in diesen Ereignissen, insbesondere der Nacht von Stammheim, die Neue Bundesrepublik konstituiert? Was ist aus der „Knastgruppe“ geworden (deren Mitglieder noch Kinder waren 1977)? Was ist mit der vermissten Schwester passiert?

Karsten Hein, „Das vierte Album“. Fotoroman mit Bildern von Kazimierz Henrykowski und einem Text von Karl-Heinz Dellwo. A-3970 Weitra (Verlag der Bibliothek der Provinz) 2014, 238 Seiten, 20 x 28 cm, Hardcover.

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