Februar 2016

Dienstag, 23.02.2016

Der Brief (Vlado Kristl; BRD 1966, Farbe, 80 Minuten)

Ein anti-avantgardistischer Film, an dem man sich die Augen verderben kann (und vielleicht auch die eigene Moral). Die Anweisung an den Kameramann lautete: nie auf das Hauptgeschehen draufhalten, immer auf das Nebensächliche, Beiläufige. Die Kamera ist also ständig in Bewegung, schwenkt nach rechts, nach links, nach unten, nach oben – über die Baumwipfel in den Himmel und wieder zurück. Eine Bildebene (35mm, Farbe), die sich so recht dazu leiht, die Tonspur mit Stimmen vollzustellen. Und mit Explosionen, Gewehrsalven, Schlachtlärm (wie schon in Arme Leute, 1963). Einige Einstellungen bleiben, wie zur Erholung, völlig stumm, statisch.
Der mit dem Brief (Kristl selbst) ist frohen Mutes, frohen Sinns (er will den Brief persönlich abliefern), ihm wird auch freundlich der Weg gewiesen – mit so vielen Links und Rechts, dass ihm wirr im Kopf wird. Der Kristl’sche frohe Sinn trifft auf deutschen Frohsinn – das kann natürlich nicht gut gehen, das ist nicht ‚löslich’. Kristl ist allein unterwegs, die andern treten in Gruppen auf: singende Gruppen, winkende Gruppen, rutschende Gruppen (auf dem Ozeandampfer wird kräftig am Steuerrad gedreht), angreifende Gruppen, fliehende Gruppen, robbende Gruppen – es ist Krieg, Revolution (den ganzen Film über). Diese Normalität steht von der andern ungeschieden da.
Froh macht auch (das ist der Kristl’sche Hinterhalt), dass alles Böse völlig ungehemmt rausgelassen werden kann: Flüche, Schimpfkanonaden, sprachliche Kunstwerke an Pöbeleien und Beschimpfungen bis hin zum Spuckwettbewerb als Gespräch (wer spuckt den andern am besten an) – da ist es natürlich nicht weit zur ganz praktisch ausgelebten Zerstörungswut (ein kleiner Gemüseladen wird zerlegt) und der slapstickartig sich steigernden Freude daran. Kristl selbst, nachdem er eine oder seine Frau geküsst hat, übt sich mit ihr im Fingerabhacken mit viel Ketchup und Rumgespritze. Bayrisches Fingerhakeln nach scharfer jugoslawischer Art.

September 1966 ging es los an der DFFB: Der Brief war einer der ersten Filme, den wir da zu sehen bekamen. (Helene Schwarz, die Sekretärin, hatte ein Taxi bestellt, um vom Theodor Heuss-Platz zur Akademie der Künste zu fahren und nahm ein paar von uns mit.) Jetzt scheint mir, dass die Kristl’sche Gestimmtheit doch irgendwie auch abgefärbt hat (der halbe junge deutsche Film ist schliesslich in Der Brief dabei) – das ist zwar nie ‚verbalisiert’ worden, es war einfach da. Unsere Stimmung war gut, aufgekratzt. Die Welt (die Philosophie) schreitet immer auch durch produktive Missverständnisse voran. (Das Unverständnis folgt später.)

(Gesehen im CinemaxX 8 auf der Berlinale, 19.2.2016.)

Sonntag, 14.02.2016

Berlinale: Rekonstruierte Weltpremiere

Im Panorama der diesjährigen Filmfestspiele wurde und wird noch einmal (21.2., 16.30, Zeughauskino) im Rahmen der Retrospektive „30 Jahre Teddy Awards“ die restaurierte Fassung des Richard Oswald Film „Anders als die andern“ (1919) gezeigt. Eine Weltpremiere sei das, die Rekonstruktion besorgte das Film-Archiv der UCLA. Da könnte man sich zu Recht fragen, warum erst ein amerikanisches Archiv darauf kommen muß, diesen ersten deutschen Schwulen-Film zu rekonstruieren. Gibt es etwa in deutschen Filmarchiven Ressentiments gegen Schwule oder liegt es daran, dass die deutschen Filminstitutionen einfach hinter dem Mond leben? Nichts von alledem trifft zu.
Den Film gibt es in einer vom Filmmuseum München rekonstruierten Fassung seit 2006 auf DVD (www.editionfilmmuseum.de); die Fassung, die jetzt als „Weltpremiere“ gezeigt wurde, enthält nicht das Standbild von der Beerdigung Paul Körners (Conrad Veidt), hat dafür aber die Vorlesung von Magnus Hirschfeld etwas verlängert. Neues Bildmaterial gibt es nicht. Im Grunde sahen wir also die Weltpremiere der neu hergestellten amerikanischen Zwischentitel.

Wie kann denn so ein öffentlicher Unfall passieren? Ich spekuliere mal: es liegt an dem Netzwerk. Die amerikanische non-profit Organisation „Outfest“ hat die Rekonstruktion des Films bezahlt und wegen der guten Beziehungen des Panorama zu „Outfest“ hat man die Fassung jetzt programmiert. Ein Blick ins filmportal hätte genügt, dann hätte man den Fehler vermieden. Das wäre dann allerdings keine Weltpremiere und auch nicht wirklich international gewesen. Es hätte nur gezeigt, dass die deutschen Filmarchive auch ganz gut arbeiten.

Jetzt gibt es also in der UCLA auch eine 35 mm Kopie dieser neuen Fassung; das können sich die deutschen Archive nicht leisten. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Kommentar von Chris Horak aus dem Jahr 2014 zur neuen Fassung von „Das Cabinet des Dr. Caligari“  von 2014 (https://www.cinema.ucla.edu/blogs/archival-spaces/2014/02/28/zerst%C3%B6rungswut-saving-german-silent-films). „I dared to ask why the Germans spend millions of Euros repeatedly restoring the five great German classics, while literally hundreds of German nitrate prints from the silent era rot in the archives in Germany and abroad.“ Die Antwort war, mehr oder weniger: „Weil es nur Geld für Restaurierung von Klassikern gibt.“ Und daraus lässt sich auch die Antwort auf die Frage ableiten, warum „Anders als die anderen“ noch einmal restauriert wurde: Weil es das Geld dafür gab. Und Chris Horak wäre kein guter Archivdirektor, wenn er das Geld nicht nehmen würde.

„Anders als die anderen“ gibt es auch auf YouTube; auf der DVD des Filmmuseum München sind noch weitere Zusatzmaterialien. Und auf der DVD „Anders als Du und ich“ (ebenfalls im fillmuseum münchen erschienen) gibt es den Briefwechsel von Richard Oswald mit Veit Harlan.

Freitag, 05.02.2016

Besserwisser

Manchmal werden verdiente Künstler für eine Großtat geehrt, die sie gar nicht vollbracht haben. Schon länger, aber dieses Mal im Grußwort von Dieter Kosslick zur diesjährigen Berlinale, trifft es Michael Ballhaus. Er habe, so Kosslick, der Filmgeschichte die kreisende Kamerafahrt geschenkt. Ja, Pustekuchen. Ballhaus ist ein toller Kameramann, aber die kreisende Kamerafahrt hat uns Richard Angst in dem sehr konventionellen Film „Herz der Welt“ von Harald Braun geschenkt. Das war 1952. Nur hat das damals niemand gemerkt; dann wurde das Geschenk einfach vergessen und verstaubte unter all dem anderen Krimskrams der Filmgeschichte wie weiland 3D.

Vielleicht hat Ballhaus in seinen Kinderjahren den Film sogar gesehen und weiß gar nicht, dass die Kamerafahrt dauernd in seinen Erinnerungsfantasien herumgekreist ist. Oder Fassbinder kannte den Film und hat mal eine Andeutung gemacht.

„Herz der Welt“ gibt es nicht auf DVD, aber hier ist ein Foto von den Dreharbeiten. Da sieht man, wie es gemacht wurde.

Herz der Welt003

 


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