Juni 2016

Donnerstag, 23.06.2016

Zur Ordnung

Das wohlbekannte Problem, dass der Kapitalismus allerhand produziert, aber keinen Sinn, lässt sich innerhalb des Kapitalismus nicht lösen. Weil die Kunst von einer Lösung dispensiert ist, hat sie sich des Problems in einigen ihrer besten Werke annehmen können, von Sartres La Nausée über Becketts Theater bis zu dem Spielfilm Ordnung (1980) von Sohrab Shahid Saless. Saless unterscheidet sich von den Existenzialisten und Nihilisten dadurch, dass er das Problem verortet. Sein Ort ist die Bundesrepublik. Schon in Reifezeit (1976), einem Antwortfilm auf Jeanne Dielman aus der Perspektive des Kindes, hat er dieses Land genauer und finsterer porträtiert, als es die sentimentalen Herzog, Kluge, Wenders hätten tun können. Das nimmt der Finsternis ihre Absolutheit. Denn die Gesellschaft der Siebziger erscheint von heute aus gesehen idyllisch. Damals war bloß der Spießer der Feind, heute ist es auch der dezidierte Anti-Spießer, namentlich der inzwischen zum Rassismus gravitierende, ansonsten liberale, hässliche Medienmensch. Innerhalb des gegebenen historischen Rahmens konnte das Problem aber nicht eleganter bearbeitet werden als in dem nicht genug zu preisenden flauen, faden Schwarz-Weiß von Ordnung. Darin schreit ein Ingenieur, der nicht mehr bauen will, erst „Aufstehen!“, dann „Auschwitz!“ Heinz Lievens Gesicht ist das Emblem des Ekels.
Die Deutschen ehrten den Exiliraner Saless, der einen der besten Filme über ihr Land gedreht hat, damit, dass sie „Die Aufenthaltserlaubnis ersetzt nicht die Arbeitserlaubnis“ in seinen Pass stempelten.
Sohrab Shahid Saless, Ordnung, Berlin, Zeughauskino, 25.6., 20 Uhr

Mittwoch, 22.06.2016

Wer nimmt die Blicke ernst?

1931 - Wer nimmt die Liebe ernst... Erich Engel
Wer nimmt die Liebe ernst …? (1931 Erich Engel)

„Ordnungssysteme, die kollabieren: Das ist die Moderne für diesen wunderbaren, wunderbar unaufgeregten, wunderbar unaufgeregt asozialen Film“, den man sich heute um 20 Uhr im Filmclub 813 als 35mm-Kopie anschauen kann.

1937 Conrad Veidt - Dark Journey
Dark Journey (1937 Victor Saville)

1944 - Bees in Paradise - Val Guest
Bees in Paradise (1944 Val Guest)

1947 they made me a fugitive - cavalcanti
They Made Me A Fugitive (1947 Alberto Cavalcanti)

1948 - Wake Of The Red Witch - Edward Ludwig
Wake Of The Red Witch (1948 Edward Ludwig)

Alle haben es getan: Lewis Allen, Ingmar Bergman, Zbynek Brynych, Alberto Cavalcanti, Benjamin Christensen, Cecil B. DeMille, Gordon Douglas, Julien Duvivier, Jean Epstein, Norman Foster, Freddie Francis, Alfred Hitchcock, J. Lee Thompson, Mervyn Leroy, Leo McCarey …

1948 - Impasse des Deux Anges. Maurice Tourneur

In Impasse des Deux Anges (1948 Maurice Tourneur) stehen zwei Menschen nach Jahren des Getrenntseins überraschend vor einander. Das Erstaunen der Frau wird akzentuiert durch eine Großaufnahme. Sie weiß nichts anderes zu sagen als seinen Namen: „Jean!“.

1948 - Impasse des Deux Anges - Maurice Tourneur

Aus reglosem Gesicht schauen seine Augen, im Unterschied zu ihren Augen, direkt in die Kamera.
Was nach allgemeiner Auffassung als Regelbruch gilt, tatsächlich aber zu allen Zeiten gebräuchlich war und nur in seltenen Fällen illusionszerstörend ist, wirkt auf höchst intensive, vielfach verschiedene und bislang ungeklärte Art und Weise.
Der Blick von Paul Meurisse findet schon im nächsten Gegenschuss durch eine sanfte Neuausrichtung zurück in die Blickachse zu Simone Signoret, hinein in die Vertrautheit. Danach wird beider Dialog über die Schultern hinweg gefilmt, bis sich beide in einer Seitenansicht im Profil den Bildraum teilen.
In einem Straßencafé sitzen sie dann später nebeneinander und es ist die Frau, die mit Worten vorsichtige Schritte unternimmt, in eine gemeinsame, geisterhafte Erinnerung einzutreten. Aber bevor die Rückblende einsetzt, huscht Signorets Blick für einen Moment in die Leere, hinein in die Kamera.
Ins Nichts, das, wie wir ja im Stillen wissen, nirgendwo verlässlicher zu finden ist als bei uns Zuschauern.

1948 - Impasse des Deux Anges . Maurice Tourneur
Impasse des Deux Anges (1948 Maurice Tourneur)

1956 - the wrong man
The Wrong Man (1956 Alfred Hitchcock)

1965 the naked prey - cornel wilde
The Naked Prey (1965 Cornel Wilde)

1965 - the skull - freddie francis
The Skull (1965 Freddie Francis)

1965-dr. terror's house of horrors - freddie francis
Dr. Terror’s House of Horrors (1965 Freddie Francis)

1968 the detective - gordon douglas
The Detective (1968 Gordon Douglas)

1968 - Im Banne des Unheimlichen - Alfred Vohrer
Im Banne des Unheimlichen (1968 Alfred Vohrer)

1972 - Blutiger Freitag - Rolf Olsen
Blutiger Freitag (1972 Rolf Olsen)

1981 - Die Todesgöttin des Liebescamps - Anders
Die Todesgöttin des Liebescamps (1981 Christian Anders)

und so weiter und so weiter

Donnerstag, 16.06.2016

Karten, Pläne (VII)

1915 - Alias Jimmy Valentine - Maurice Tourneur
Alias Jimmy Valentine (1915 Maurice Tourneur)

Der Plan zu einem Bankraub, den der Räuber nicht ausführen wird. Ein falscher Name schenkt ihm Gelegenheit zur Läuterung. Nicht im erprobten Talent, sondern im Abweichen vom dem, was bislang Gewohnheit war, liegt seine Zukunft.

1921 - Forbidden Fruit - Cecil B. DeMille 1

Forbidden Fruit (1921 Cecil B. DeMille)

Aus dem kartografischen Wandschmuck des Ölmillionärs ragen kleine Bohrturmmodelle heraus. So eine Idee ist nichts Ungewöhnliches bei Cecil B. DeMille, der die Menschheit mit der Badewanne und mit dem modernen Kino bekannt machte.

Modern. Was ist das? Es gibt da mindestens zwei Auffassungen. Eine sagt: Was wirklich modern ist, bleibt modern. Andererseits muss das, was modern ist, notwendigerweise ummodern werden, damit etwas neues modern sein kann.

1921 - Forbidden Fruit - Cecil B. DeMille 3

Hier wird der Plan für einen Einbruch fixiert. Das, was zu wissen nötig ist, passt auf eine Manschette. Alles Wissenswerte tragen die Leute in DeMilles Filmen am Leib.

1921 - Forbidden Fruit - Cecil B. DeMille 2

Zu den Partys in DeMilles Strandhaus brachten die weiblichen Gäste ihre Abendgarderobe fürs ganze Wochenende mit; Männer waren gebeten ihre eigenen Hosen mit einem im Gästeschlafzimmerschrank bereitgestellten Hemd zu kombinieren. Es gab zur Auswahl drei russische Hemden – rot, weiß oder schwarz – und dazu als Schmuck eine goldene oder eine silberne Kette.

1937 - Souls at Sea - Henry Hathaway
Souls at Sea (1936 Henry Hathaway)

Nackt. Das ist die ideale Art zu reisen, zumindest war sie das in einem nie realisierten Filmprojekt von Henry Hathaway: A Passage to India. Die Dokumentation einer Pilgerreise. Hathaway erzählte Polly Platt, was die Pilger machen: „they start out from Kashmir and go on foot out of India up into the Himalayas to a big cave. The last fourty miles, they take off their clothes and they go naked through the ice and the snow to a cave where there’s a phallic symbol hanging down.“

1939 - The Arsenal Stadium Mystery - Thorold Dickinson
The Arsenal Stadium Mystery (1939 Thorold Dickinson)

Wie war die Situation auf dem Spielfeld, als der Tod eintrat?

Prügeleien in Fußballstadien werden schon seit einiger Zeit nicht mehr gesendet. Auch Flitzer sollen nicht den Weg ins Gedächtnis der Zuschauer finden. Vor ein paar Tagen nannten die deutschen Sendeanstalten diese (von der Uefa vertretene) Strategie: Zensur! „Die Realität“ solle nicht sichtbar werden! (Wo doch diesmal klar zu sehen wäre, von wem die Gewalt ausgeht! Nicht von Deutschen!)

Wo mit Bedacht zwischen zwei Gütern entschieden werden muss, melden immer häufiger nicht nur die Rechten, ihr „Wir“ sei von Fremdherrschaft bedroht. „Ich meine, wir dürfen uns nicht vorschreiben lassen, was bei UNS im Land Satire ist, durch einen AUSLÄNDER, wo immer er herkommt.“ Das sagte Renate Künast im Bundestag am 12.5.2016.

„Deutsch ist zwar unmusikalisch, aber ohne Zweifel die ausdrucksvollste aller Sprachen“, bemerkte Sherlock Holmes anlässlich einer Sturzflut deutscher Schimpfworte aus dem Mund eines überführten Spions zu Beginn des ersten Weltkriegs. *

Die Wahnsinnsidee vom Kulturvolk in Notwehr, sie wurde 1914 fixiert im Manifest der 93. Es lohnt sich das zu lesen.

1943 - Forever And A Day - Edmund Goulding b
Forever And A Day (1943 Edmund Goulding, Robert Stevenson, u.a.)

Nigel Bruce, der unsterbliche Darsteller des Dr. Watson, war im ersten Weltkrieg von elf Kugeln ins linke Bein getroffen worden. In Forever And A Day lauscht er schlechten Meldungen, die ihn zwingen, mit einem Fähnchen auf einer Karte, den Frontverlauf bei Lille zu korrigieren.

Gedreht mitten im Krieg, um die Moral zu stärken; aber der Film verlässt das Haus nicht. Die Tradition ist sein Bewegungsraum. Schwer melancholisch.

Horace and Pete

Es ist Mitte Juni, so soll auch dieses Jahr schon beinah halb vorbei sein. Meine Top-Ten 2016 sähe bislang so aus (alphabetisch): Alice Through the Looking Glass (James Bobin), Die Geschichte des Grafen Porno zu Gailsberg (Sadi Kantürk), Horace & Pete (Louis C.K.), Louie – Season 5 (Louis C.K.), Ovation! (Henry Jaglom), Pawn Sacrifice (Edward Zwick), Spotlight (Thomas McCarthy), Un + Une (Claude Lelouch), Unterwäschelügen (Klaus Lemke), Verfluchte Liebe – deutscher Film (Sievert & Graf).

1947  Cheyenne - Raoul Walsh
Cheyenne (1947 Raoul Walsh)

Jeder kleine Kreis markiert einen Überfall. Der fleißige Räuber hinterlässt Gedichte.
„I’m happy the frontier is settling down / With a thriving bank in every town / Let the riders and nesters deposit their pay / So I and my gun can take it away. / The Poet“

Dazu 5 Entdeckungen im ersten Halbjahr 2016 (in Kinos in Köln, München, Nürnberg, Tel Aviv): A Day in the Life of Bonnie Consolo (1975 Barry Spinello), Brennende Langeweile (1978 Wolfgang Büld), La lunga notte del ’43 (1960 Florestano Vancini), Der Pfarrer von St.Pauli (1970 Rolf Olsen), Die Spanische Fliege (1955 Carl Boese).

1949 - The Doolins of Oklahoma - Gordon Douglas

Von seiner Frau (Virginia Huston) wird der Outlaw (Randolph Sott) gefragt, ob es denn nicht irgendwo einen Zufluchtsort gäbe, wo sie gemeinsam leben könnten. Zwischen Texas und Kansas sei dieser Streifen Land, sagt er und zieht einen Fetzen Landkarte aus der Hemdtasche.

1949 - The Doolins of Oklahoma - Gordon Douglas b
The Doolins of Oklahoma (1949 Gordon Douglas)

Er: „No Man’s Land they call it. They have no laws there. This is a strip 35 miles wide and 10 miles long. A man could change his name and nobody would care who he was and what he had been.“
Sie: „Well then let’s go, now, and together.“

„Ein Film mit einem langen Atem und ohne Langeweile.“ (Joe Hembus: Westernlexikon)

1951 - Anne of the Indies - Jacques Tourneur
Anne of the Indies (1951 Jacques Tourneur)

„Kommt, ihr Unglücklichen, in denen noch verborgene Vorzüge stecken – kommt und empfangt die sicheren tugendhaften Kräfte von Fluss, Wald und Feld! Zwei Monate (Juli und August 1877) habe ich sie eingesogen, und sie beginnen, einen neuen Menschen aus mir zu machen. Jeden Tag Zurückgezogenheit – jeden Tag mindestens zwei, drei Stunden Frieden, Baden, keine Gespräche, keine Bindungen, keine Kleidung, keine Bücher, keine Manieren.“
Walt Whitman nennt in seinem Tagebuch das Nacktherumlaufen „mein adamisches Luftbad“.

Marianne de ma jeunesse .1955 Julien Duvivier
Marianne de ma jeunesse (1955 Julien Duvivier)

„Der Nudismus ist das Geheimnis einer guten Gesundheit“, sagt Michel Simon in La fin du jour (1939 Julien Duvivier)

A Shot in the Dark 5
Elke Sommer und Peter Sellers in…

A Shot in the Dark 9
A Shot in the Dark (1964 Blake Edwards)

Ein Wandschirm, mit dem Stadtplan von Paris bedruckt. Davor eine als Uhr getarnte Zeitbombe.
Drumherum ein als Bilderstrecke getarnter Text über das Preisgegebensein und das Moderne.

Als ich vor drei Jahren anfing, mich für Karten und Pläne in Filmen zu interessieren, war nicht abzusehen, dass es mir gelingen würde – in Kapitel II – entlang vieler Bilder ein bedeutsames Thema (den Vater-Sohn-Konflikt) zu behandeln. Eine feine Sache, die mir dann in den Kapiteln III, IV, V und VI glatt misslang.

His last bow 1917

Es gibt die schöne Stelle in Journey to the Center of the Earth (1959 Henry Levin), wenn sich die Expedition dem Erdmittelpunkt nähert und es wärmer und wärmer wird und auch Arlene Dahl immer mehr Kleidungsstücke ablegt.

„Modern zu sein, war nämlich immer schon modern,“ sagt Liselotte Pulver in Charly Steinbergers Monika und die Sechzehnjährigen (1974), mit einem zufriedenen Lächeln.

Was aber ist das nun genau? Modern zu sein. Und was wäre das Gegenteil?
Einem Mann stirbt der Hund. Seine Tochter ist eine kaltherzige Karrierefrau. Der liebenswerte Spaßvogel trifft den Entschluss, seine Tochter zu erden. Nackt, so steht sie zu guter Letzt ihrem fellbedeckten Vater gegenüber. Aus kapitalistischer Prostitution im tristen Ausland holt er sie heim ins grüne Vaterland. Der Film, der in Cannes keine Palme bekam, ist zwar besser – aber auch 160 Minuten länger als sein Trailer.

The Globe, Swanage
The Globe (1887), Swanage, Dorset, Postkarte

Die am ehesten naturnahe menschliche Gesellungsform ist, laut Sir Galahad, nicht die Familie, sondern die Frauensippe, in deren Schutz neues Leben und Reichtümer gedeihen, während Männer „ihrer Naturfunktion nach flüchtig und ewig wechselnd“ vorbeiziehen. „Mit dem ‚Vaterschaftswahn’ aber beginnt jegliche Unnatur, mag ihm auch sonst noch so Großartiges entstammen.“
(Sir Galahad alias Bertha Diener: Mütter und Amazonen, 1932)

Plötzliche Erkenntnis durch Billianfilme: ‚Männer’ gibt es gar nicht wirklich. Es liegt nur an ihrer langweiligen Verkleidung; ein Teil von uns spielt lebenslang diese tristen, sachlichen, unfreundlichen Hosenrollen. Von Natur aus sind aber alle mehr so Frauen wie bei Billian. Ich muss mir angewöhnen, das so zu sehen. Es ist lustiger und lässt die Welt gleich viel vertrauter wirken.“
(Silvia Szymanski: Filmtagebuch einer 13-Jährigen #16: 15. Hofbauerkongress)

The Italian Job (1969)
Michael Caine in The Italian Job (1969 Peter Collinson) via

Michael Caine on Acting in Film (1987): “We hang on to each others eyes. That’s the most important thing in film: eyes.” Filmschauspielern mit blonden Wimpern empfiehlt er nachdrücklich: Mascara.

2013 Water Music
Water Music (2014 Collective One Take) – Eine Alpendurchquerung mittels Sizilien-Landkarte

„Der Ritter De la Tour Landry erzählt in der Belehrung für seine Töchter von einem sonderbaren Orden minnender Adliger und Frauen, der in seiner Jugend in Poitou und anderswo bestanden habe, Sie nannten sich ‘Galois et Galoises’ und hielten ‘une ordonnance moult sauvaige’ (‘eine gar strenge Ordensregel’), deren vornehmlichste Bestimmung war, dass sie sich im Sommer warm in Pelze und gefütterte Hauben kleiden mussten und Feuer im Kamin brannten, während sie im Winter nichts als einen Rock ohne Pelz tragen durften, keine Mäntel oder anderen Schutz, keinen Hut, keine Handschuhe oder Muff, wie es auch fror. (…) Man kann in dieser wunderlichen Verirrung – so sonderbar, dass der Schreiber sie schwerlich ausgedacht haben kann – kaum etwas anderes sehen als eine asketische Steigerung des Liebesreizes. (…) ‘Und ich fürchte sehr, dass jene Galois et Galoisinnen, die in diesem Aufzug und bei diesen Liebesspielen starben , Märtyrer der Liebe wurden’“
(Johan Huizinga: „Herbst des Mittelalters“, 1919)

Bedwyr Williams Polar Bear Island Coastline 2014

Bedwyr Williams: „This Polar Bear in Scott Polar Research Institute has been deep cleaned. The blue edging looks like a coastline as if it were an island. It would be a boring island apart from the head region and the nether regions.“

Donnerstag, 02.06.2016

Filme der Fünfziger XIX: Vergiß die Liebe nicht (1953)

Frühstückszeit im Einfamilienhaus. Drei Kinder, der Ehemann Franz (Paul Dahlke), seine Frau Anna (Luise Ulrich) und die Haushälterin Stadler (Annie Rosar) laufen geschäftig herum. Es wird palavert, es lärmt wie in einem italienischen Familienfilm. Schließlich sitzen alle am Tisch, nur die Ehefrau springt immer wieder auf, kümmert sich, hastet, besorgt, was fehlt und bekommt vom Frühstück schließlich nur noch die Reste. Vater Franz plant eine Wochenendreise nach Innsbruck; im Auto ist für Anna kein Platz mehr frei. Egal, geht schon. Als sie ins Haus zurückkehrt, sitzt die alte Haushälterin mit der „Vogue“ im Sessel und klärt die Ehefrau auf: Anna rackert sich ab für die Familie und bekommt kein Gehalt, keine Weihnachtsgratifikation, nicht die geringste Anerkennung und muss im Urlaub sogar zu Hause bleiben. So beginnt „Vergiß die Liebe nicht“ in der Regie von Paul Verhoeven. Gleich präsentiert er einen Gegenentwurf zu dieser normalen Ehe. Statt mit der Familie in den Kurzurlaub zu fahren besucht Anna ihre Freundin, die Frau eines Modesalonbesitzers. Dieser Mann springt auf, wenn ein Aschenbecher fehlt und bringt seiner Frau das Frühstück ans Bett. In einer Woche hat Anna Geburtstag; aus der Modekollektion des Mustergatten schenkt ihr die Freundin schon jetzt einen Pelzmantel und schicke Kleider – Himmlisch!
Immer wieder wird Anna von der Kamera isoliert und spricht im Off mit sich selbst. Sie ist frustriert und mag es nicht sagen, sie verliebt sich auf ihrer Urlaubsreise und traut sich nicht recht; Anna fremdelt mit der Familie, aber auch mit der ungewohnten Welt des Charmes, ihren schicken Kleidern und neuen Chancen als attraktive, allein reisende Frau. Ihre Off-Stimme kommentiert und reflektiert jede neue Wendung, erst unsicher, dann immer selbstbewusster und dann sogar mit selbstironischem Unterton. Paul Verhoeven inszeniert ein Spiel im Spiel – mit der Allerweltsgeschichte, dem Alltag und einer nur leicht gewagten Romanze.
„Vergiß die Liebe nicht“ war eine der seltenen intelligenten Filmkomödien der frühen BRD, akzentuierte realistisch und ironisch die patriarchalische Konstellation in einer von wirtschaftlichen Nöten freien Familie und funktionierte natürlich auch als Lebenshilfe für alle Frauen, die sich von ihrem Mann vernachlässigt fühlten. Brav und leider gar nicht mehr so spannend geht es im Film und im Leben zurück in die Harmonie des Familienidylls. In einer Parallelgeschichte fällt eine der Töchter auf einen verheirateten Schürzenjäger herein; ganz allein irrt sie nachts durch die Straßen und wird von einer Polizeistreife nach Hause gebracht. Wie gefährlich eine solche Romanze doch werden kann; gottlob ist es nicht zum Letzten gekommen, nicht bei der Tochter und nicht bei der Mutter. „Die Mutter“, so sah es der Kritiker des film-dienst, „besteht die Ehekrise, die sie mit verstärktem Verantwortungsbewußtsein in den Kreis ihrer gleichförmigen Alltagspflichten zurückkehren läßt.“

Im Fachblatt „Der Blumenbinder“ wurde auf die Möglichkeit der Produktwerbung hingewiesen; dafür gab es vom Verleih einen Plakataufsteller mit dem Spruch: „Denkst Du an Liebe/ Vergiß die Blumen nicht! Denkst Du an Blumen – Vergiß die Liebe nicht!“. Ob das Ehen gerettet hat? Treffend wäre ein anderer Spruch gewesen, dessen Urheber ich mir leider nicht gemerkt habe und der auch wenig kommerziellen Nutzen gehabt hätte: „In der Ehe verliert das männliche Auge seinen Glanz – Zunächst perlt es wie Sekt, dann wie Kamillentee.“

In der Kategorie „Problemfilm“ bekam „Vergiß die Liebe nicht“ 1953 den Bundesfilmpreis.

Nicht als DVD.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort