Februar 2017

Montag, 20.02.2017

Filme der Fünfziger XXVIII: Die Frühreifen (1957)

Inge (Heidi Brühl) ist empört. Sie möchte raus aus der Enge der elterlichen Wohnung, weg aus dem Ruhrpott und in die Sonne, den Süden. Dahin, wo man nachts das Fenster offen lassen kann, ohne dass am nächsten Morgen die Betten schwarz von Ruß sind. Ihr Freund, der Bergarbeiter Wolfgang (Christian Doermer), wohnt in einem Heim für junge Männer, schickt Geld an seine Mutter in der Zone und vertröstet Inge auf das nächste Jahr; dann könnten sie heiraten. Das lässt sich Inge nicht gefallen. „Immer nur sparen, sparen, sparen. Du bist wie mein Vater.“ Und der Vater (Paul Esser) ist wirklich ein Alptraum. Inge will das Leben jetzt genießen und sich nicht dauernd in die Pflicht nehmen lassen. Nicht von den Eltern, nicht von den Jungen. Sie zieht zu Freddy (Christian Wolff), der eine eigene Wohnung und einen schicken Mercedes hat.

Arthur Brauner hatte schon 1954 die Rechte an der literarischen Vorlage, dem Fortsetzungsroman „Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann“, erworben. Emil Burri und Johannes Mario Simmel schrieben ein erstes Drehbuch, Hans Oskar Wuttig und Gerda Corbett die endgültige Fassung. Als der Film nach dreijähriger Vorbereitung schließlich herauskam, startete fast gleichzeitig in den Kinos der BRD Georg Tresslers Film „Noch minderjährig“. Da konnten sich Brauner und der Europa-Filmverleih noch so viel Mühe geben, die Frühreifen von den Halbstarken abzusetzen – alle drei Filme und auch andere gehörten zum Thema und Programm der „Problemjugend“.
Heidi Brühl war den Zuschauern vor allem als die kindliche Dalli aus den problemfreien Immenhof-Filmen bekannt; in den „Frühreifen“ posiert sie gelegentlich wie Sissy (Karin Baal) in den „Halbstarken“, ist aber längst nicht so frech, so ehrgeizig und sexy. Was beide Filmfiguren verbindet, ist die heftige Abneigung gegen die biederen Zukunftspläne ihrer Freunde, die heiraten und eine Familie gründen wollen. Beide ahnen, dass sie aus dem Gefängnis ihrer Familie in eine neue Unfreiheit schliddern. „Wo Christian Doermer auftaucht, da riecht es irgendwie nach geistigem Krawall“ schreibt das Presseheft. Schön wär’s; in den „Frühreifen“ wie in den „Halbstarken“ ist Doermer der konservative Vermittler, das Idealbild des verantwortungsbewussten „Jungmannes“ mit Sorgenmiene. Er sieht zwar aus wie ein zorniger junger Mann, wird aber eben deshalb mit der Rolle des „Vernünftigen“ besetzt. Wolfgang und Jan aus den „Halbstarken“ sind die „guten Rebellen“.
Die reichen Schnösel Günther (Peter Kraus) und Freddy mit ihren Kumpanen klauen nachts aus Langeweile schwere amerikanische Limousinen, liefern sich Verfolgungsjagden (Günther nennt sie „Feindberührung“) mit der Polizei, und feiern mit den Freundinnen der arbeitenden Kumpels wilde Partys. Günther ist einfach nur ein dummer Junge, Freddy dagegen kultiviert den Lebensüberdruss, nennt Inge provokativ „Genossin“ und stellt die Frage, wozu man in Zeiten des Kalten Krieges und der permanenten atomaren Bedrohung noch lateinische Lyrik lernen muß.

Die reichen Jungs haben eine Wohnung, aber keine Eltern, die sich um sie kümmern. Inge ist zu Hause nur Beschimpfungen ausgesetzt; eine Freundin muss sonntags regelmäßig die Wohnung „wegen der Liebe am Sonntag“ verlassen, denn „wir haben doch nur den einen Raum“. Wegen dieser Drehbuchzeile wurde der Film erst ab 18 Jahren zugelassen. Aber solche, von Regisseur Josef von Baky fast beiläufig gesetzten Szenen, zeigen neben den plakativen Klischees ein Stück Alltagswirklichkeit. Inge und Wolfgang bei einem Sonntagsausflug, bei der sie der Gegenwart der Zeche nicht entkommen; der Freitagabend in einer Kneipe, die Modenschau in einem Kaufhaus, die gedeckten Tische einer Tanzbar am frühen Nachmittag. So sah das Freizeitvergnügen, so sah wahre Tristesse aus.

Die Handlung der „Frühreifen“ ist im Ruhrpott angelegt, im Milieu der Bergarbeiter und Neureichen. Deshalb sieht man tatsächlich Menschen bei ganz normaler Arbeit und mit ganz alltäglichen Problemen. Sabine Sinjen, von Drehbuchautor Robert Thoeren entdeckt, hat hier ihren ersten Jungmädchenauftritt. Peter Kraus legt ein tolles Gesangssolo hin; den Rest seiner Darbietungen muss man großzügig verzeihen. Christian Wolff, der feingliedrig zur gleichen Zeit auch in Veit Harlans „Anders als die anderen“ debütierte, spielt provokativ abgeklärt und kommentiert die Party seines Freundes: „In einer halben Stunde ist das eine Horde besoffener, gemeingefährlicher, schamloser Urwald…“ Der Rest geht in wilder Jazz-Musik unter; das war wieder die übliche und üble Diffamierungsroutine amerikanischer Musik, auf die offensichtlich kaum ein Film verzichten wollte; genauso wenig wie auf die schicken amerikanischen Autos.

Man kann viel altes Kino-Handwerk entdecken. Die Verfolgungsjagd von Polizei und geklauter Limousine ist unterdreht, damit sie rasanter aussieht. Diesen Effekt kannte man vor allem aus Western. Das Licht, sowohl außen als auch im Innern der Limousine, wechselt ständig, so dass man gar nicht weiß, ob es nun früher Abend, früher Morgen oder tiefe Nacht sein soll; und sind Freddy und Günther in dieser Sequenz nun Dämonen (Licht von unten) oder kalkweisse Gespenster (Licht von vorn)? In einer anderen Szene – Freddy fährt mit seinem Mercedes aus dem Bild – sieht man im Autofenster gespiegelt kurz den Kameramann und seinen Assistenten. Die Drehroutine ließ erstaunlich vieles durchgehen.

In filmportal gibt es aus dem Arthur Brauner Archiv eine ganze Reihe interessanter Dokumente über die Drehbuchentwicklung und im Filmblatt Nr. 39 hat Philipp Stiasny ausführlich über den Film geschrieben.

DVD in der Wirtschaftswunderkino-Kollektion No. 2: Peter Kraus (3 DVDs). Universum-Film

Freitag, 10.02.2017

Filme der Fünfziger (XXVII): Das Bekenntnis der Ina Kahr (1954)

Dieser Film von G.W. Pabst wird in den Büchern über Pabst nicht wirklich behandelt. Pabst habe den Film, nachdem er mit seiner italienischen Produktionsfirma in Konkurs gegangen sei, nur des Geldes wegen gemacht, ja machen müssen. Genaueres weiß man oder sagt man in diesem speziellen Fall nicht; es ist als grausten sich die Filmhistoriker überhaupt vor der Nennung der späten Arbeiten von Pabst wie „Ina Kahr“, „Rosen für Bettina“ und „Durch die Wälder, durch die Auen“, wobei – beim letzten Titel kann ich das verstehen.

Die Handlung von „Ina Kahr“ basiert auf einem Fortsetzungsroman, der in der Programmillustrierten „Hören und Sehen“ erschienen war. Nach „Hör Zu“ war „Hören und Sehen“ mit einer Auflage von 750.000 Exemplaren pro Woche die zweitstärkste Programmzeitschrift. Erna Fentsch, die Ehefrau von Carl Wery, schrieb das Drehbuch. In „Rosen für Bettina“ spielt Wery einen Arzt; die weibliche Hauptdarstellerin in beiden Filmen ist Elisabeth Müller. Müller ist kein Publikumsmagnet, aber ein ganz eigener Charakter in den Filmen der fünfziger. Ob in „Ina Kahr“, in „Bettina“ oder in „Gestehen Sie Dr. Corda“ ist ihre Rolle reines, fast unpersönliches Klischee. Man merkt der Schauspielerin an, dass sie unterfordert ist, aber man sieht auch, wie wunderbar sie durch Kleidung und Accessoires das Zeitkolorit der Figuren und darin eben die Konvention trifft. Eine dem Kapotthütchen ähnliche Kopfbedeckung und Elisabeth Müller wird zur strengen Ausgabe von Ruth Leuwerik, fehlte da nicht die Stimme und wäre da nicht diese unglaublich schlanke Figur. Es kommt mir vor als sei Frau Müller direkt den goldgeränderten Seiten der „Film und Frau“ entsprungen, als repräsentiere sie eben die Kultur der gehobenen Langeweile, des bescheidenen Luxus und der besonderen Probleme der etwas blasiert sein wollenden Kleinbürgerin. Wie konfus auch immer ein Stoff und ein Drehbuch sein mochten, Elisabeth Müllers Rolle war immer die letztlich klarer Intelligenz und Entschiedenheit, verbunden mit leicht extravaganter Schönheit, ausgestattet mit den Konturen der Zeit und den aus ihnen destillierten Widersprüchen.
Vieles, ja da meiste stimmt nicht in Stoff und Drehbuch von „Ina Kahr“. Die Prämisse – sie hat ihren Mann ermordet und könnte deshalb zum Tod verurteilt werden – glaubt schon mal niemand, denn der Prozess findet in der Gegenwart und in der BRD statt. Weil Ina Kahr schweigt, kommt sie in die Todeszelle, erlebt den hysterischen Ausbruch einer Mörderin und den stillen Beistand eines Kaplans („Ich komme auch zu Ihnen“). Das verhilft der Kamera zu interessanten Bildstrukturen mit weiten Räumen, die nur durch einzelne Personen, Gitter und Schatten belebt werden. Dann erzählt Ina Kahr ihre Geschichte; wie sie gegen den Willen ihres Vaters, der für einige Jahre in die USA verschwindet, Paul Kahr heiratet; wie sie ihm zur Selbstständigkeit verhilft, er aber immer wieder fremd geht; und wie sie dann entscheidet, sich und ihren Paul mit einer Kanne vergifteten Kaffees umzubringen, was daran scheitert, dass Paul gierig gleich die ganze Kanne auftrinkt und nun allein sterben muss.
Curd Jürgens als Paul Kahr spielt das Klischee der Masslosigkeit und der blondierten Aggressivität: jedes Streichholz, mit dem er die Zigarette anzündet, wird in großem Bogen weggeschleudert, jeder Drink heruntergestürzt, jede Frau erobert. Der Kritiker der neuen Zürcher Zeitung nannte ihn einen „Herzensbrecher verhalten-rabiater Eleganz“; andere sahen in ihm nur eine Albers-Variante, was wirklich ungerecht war.
Die Filmarchitektur baut dem Paar ein Haus mit unverputzten Wänden und Pfeilern – eine Inneneinrichtung wie aus Müsli-Riegeln mit Wucherungen aus Grünpflanzen, Tütenlampen und Wintergarten. Paul betreibt eine Werbeagentur, in der man sehen kann, was die Filmausstattung für den letzten Schrei des Designs hält. Man trinkt nicht Kaffee, sondern Mokka, heiratet aus Geschäftssinn und nicht aus Liebe, flirtet und posiert mit dem, was man für die Moderne hält. Die Werbeabteilung des Verleihs legte zur Sicherheit noch den Slogan einer weiteren Zeitgeist-Problematik dazu: „Eine Frau genügt nicht mehr – Das moderne Ehe-Problem.“ Oha.

Die Posen halten der Wirklichkeit nicht stand. Ina sorgt dafür, dass eine begabte Studentin (Hanna Rucker) in Pauls Werbeagentur eine Stelle bekommt. Sie hat sich in der Bewerbung als Mann ausgegeben, weil sie sonst die Stelle vielleicht nicht bekäme. „Das“, sagt Paul, „ist wohl eine überalterter Standpunkt.“ Wenig später soll er sich für eine Rundfunksendung mit seiner „Entdeckung“ präsentieren. „Aber“, protestiert Paul, “meine Frau hat sie doch entdeckt.“ „Aber Sie sind der Chef…“ So zitiert der Film in einem fort die Theorien des Fortschritts und verwehrt ganz selbstverständlich in der Erzählung die praktische Umsetzung. Ina, die ihrem Mann für den Aufbau seiner Firma Geld gegeben hat, will jetzt für ein eigenes Geschäft einen Kredit aufnehmen. Dafür braucht sie die Erlaubnis ihres Mannes. Paul hört sich das an, ohne Reaktion – damit ist diese Frage erledigt. Neben dem ausufernden Selbstmitleid des Mannes, der sich mit seinen Ansprüchen an Trieb- und Geschäftsleben permanent überfordert, und den Schuldzuweisungen, die Ina Kahr sich selber gibt, wird auch wieder amerikanische Jazz-Musik als Element des Sittenverfalls eingesetzt; so sieht die Strafe aus, wenn man seine eigene Kultur aus Engelschor und Geigenseligkeit verlässt.
„Das Bekenntnis der Ina Kahr“ ist – mit allen trivialen Zuspitzungen – ein Katalog der widerstreitenden Befindlichkeiten, ein gleichzeitig sorgfältig und schlampig gebautes Lügengebäude, eine fortdauernde Beschreibung der Krise, an dessen Ende auch noch die Versöhnung der Generationen simuliert wird. Vater und Anwalt warten auf Ina, die aus dem Gefängnis entlassen wird. „Professor“, sagt der Anwalt, „nehmen Sie sie mit nach Amerika, zeigen Sie ihr die Welt.“ Als sei ihr bisheriges Leben ein schrecklicher Irrtum gewesen und als ob es, gerahmt und geleitet von zwei Männern, nun erst beginnen könne.

DVD bei Filmjuwelen

Donnerstag, 09.02.2017

Kino-Hinweis: ORG

Während des Filmfestivals ist in der Sektion Forum ein Film zu sehen, über den ich hier schon mal geschrieben habe, im Zusammenhang mit dem „Living Archive“-Projekt des Arsenal: ORG, von Fernando Birri. Der Text vom März 2012 kündigt eine erste Sichtung an, nach der wir (entuziazm: Volker Pantenburg, Stefan Pethke, ich) und das Arsenal den Film so maßlos unglaublich bemerkenswert fanden, dass wir uns weiter mit ihm beschäftigen wollten.
2013 wurde deshalb eine erste provisorische Digitalisierung des Films gemacht. Mit dieser Digitalisierung sind wir an Wochenenden nach Frankfurt an die Goethe-Universität und nach Braunschweig an die Hochschule für Bildende Künste gefahren. Dort zeigten wir den Film und Anna Christine Antz, Lucie Biloshytskyy, Philippe Crackau, Olga Galicka, Zijian Guo, Markus Hörster, Eveline Jakubietz haben dann einen 24-minütigen Video-Essay zu ORG gemacht, den man sich beim Festival während der Ausstellung des Forum Expanded in der Akademie der Künste auf einem Monitor angucken kann (oder als Bonus-Material auf der nach der Berlinale erhältlichen DVD des Films).
Diedrich Diederichsen meint heute in der taz: Wer nur einen Film auf dieser Berlinale sehen will, sollte es mit diesem versuchen …

TERMINE
Freitag 10.2., 14 Uhr, Akademie der Künste
Donnerstag 16.2., 19.30 Uhr, Delphi
Sonntag 19.2., 14 Uhr, Arsenal 1

Weitere Informationen (pdf): https://www.berlinale.de/external/de/filmarchiv/doku_pdf/201703093_de.pdf


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