Montag, 08.01.2018

Lothringen!

Einführung zu einem Film von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub

von Volko Kamensky

1975 will das New York Film Festival Danièle Huillet und Jean-Marie Straub zur Präsentation ihres Filmes Moses und Aron einfliegen. Der Festivalleiter Richard Roud stellt hierzu einen Antrag auf Reisekostenzuschuss bei der „Export-Union der Deutschen Filmindustrie“, einer mit Geldern des Wirtschaftsministeriums finanzierten Organisation zur Bewerbung bundesdeutscher Filme im Ausland. Sie kennen diese Filmorganisation unter Umständen, heute trägt sie den nur vermeintlich lässigeren und internationaleren Namen „German Films“.

Richard Roud erhält folgende Rückmeldung:

„Dear Mr. Roud,
Thank you for your letter of June 30, 1975, regarding the German participation at the New York Film Festival.
We are sorry to tell you that we are in no position to help you with airfares for Danielle [sic] Huillet and J.M. Straub to come to your festival as both are French nationals and therefore the German authorities will not give any funds for such a trip.
The airfare for Werner Herzog will be paid so that there is no problem that he will be present at your festival.
With warm personal regards, we remain,
sincerely yours,
EXPORT-UNION der Deutschen Filmindustrie e.V.
Dr. R. F. Goldschmidt
[…]“

Jean-Marie Straubs Antwortschreiben, ehemals in der „Filmkritik“ [September 1975, S. 432] veröffentlicht, ist uns über den Sammelband „Augenzeugen. 100 Texte neuer deutscher Filmemacher“ überliefert:

„28. Juli 75
Ihr Faschisten, Ihr Ignoranten, Ihr Heuchler,
Richard Roud teilte mir euren Brief mit vom 9. Juli 1975 (Dr. G/El). Ich würde mich hüten von euch Zuhältern einen Pfennig anzunehmen (Roud hatte euch ohne mein Einverständnis geschrieben), aber: mache euch darauf aufmerksam, daß ich beim bundesdeutschen [deutschen im Orig. unterstrichen] Amt für gewerbliche Ausübung als deutscher Filmregisseur eingetragen bin, und werde euch – mit eurem eigenen Brief – alle mögliche Publizität machen.
Mit Haß,
Jean-Marie Straub“

Nicht nur, um selbst einmal etwas zu dieser Publizität beitragen zu können, beginne ich mit diesem Schriftwechsel. Vielmehr soll im Folgenden, anhand des 1994 fertiggestellten Filmes Lothringen!, einigen in diesem Brief angesprochenen Problemen Raum gegeben werden:

– der Frage danach, wer angeblich Deutscher ist und wer nicht;

– der Tatsache, dass man mitunter gezwungen wird deutsch zu sein oder zu werden (etwas, das in Nichts an Aktualität verloren hat);

– ganz allgemein: dem Nationalismus, dem Faschismus, der Ausgrenzung.

Es soll aber auch beispielhaft an diesem Film aufgezeigt werden, wie es Danièle Huillet und Jean-Marie Straub einmal mehr gelingt anhand von Worten, Bildern und Tönen einen Freiraum herzustellen innerhalb eines Systems, das all seine Kräfte daran setzt, genau solche Freiräume zu verhindern.

Dass ich mich heute und hier auf den kürzeren Film des Programms beschränken werde und Sicilia! außen vor lasse, hat keineswegs damit zu tun, dass es zu Sicilia! nichts zu sagen gäbe. Vielmehr scheint mir Lothringen! schlichtweg der Film zu sein, der in Deutschland zu wenig diskutiert und zu häufig nicht verstanden wurde – und nicht verstanden werden wollte. Und das, wohl gerade weil er explizit mit Deutschland zu tun hat („Ihr Ignoranten, Ihr Faschisten, Ihr Heuchler“).

„Colette Baudoche“ lautet der Titel der literarischen Vorlage zum Film Lothringen!.
1909 verfasst von einem rechten französischen Schriftsteller namens Maurice Barrès – überzeugter Nationalist und Katholik.

Die Handlung des Romans ist in Lothringen um 1905 angelegt, d.h. in einem von Preußen annektierten Lothringen, das nach und nach germanisiert wird und aus dem somit alles Französische verschwinden soll. Ein 25-jähriger Ostpreuße namens Fritz Asmus (im Roman nahezu durchgängig als „Monsieur Frédéric Asmus“ bezeichnet) wird in seiner Funktion als Lehrer in die lothringische Stadt Metz entsandt. Er soll dort einen französischen Lehrer ersetzen, genau genommen: verdrängen. Er bezieht ein Zimmer bei einer älteren Dame, Madame Baudoche, die mit ihrer 18-jährigen Enkelin Colette Baudoche zusammen lebt. Einzig die finanzielle Not zwingt die beiden Frauen das Zimmer an den Preußen zu vermieten, dem sie zunächst äußerst reserviert gegenübertreten.

Doch nach und nach erschließen sich dem Preußen die Vorzüge der französischen Kultur. Die französische Sprache weckt bei ihm ein tieferes Interesse, er lernt schnell hinzu, stellt die „pangermanistischen“ Allmachtsfantasien seiner preußischen Mitbürger in Frage und weiss so nach und nach, in kleinsten Schritten der Annäherung, die beiden Frauen für sich zu gewinnen. Der 25-jährige verliebt sich schließlich in die 18-jährige, hält um ihre Hand an und bekommt nach bangem Warten einen Korb verpasst. Colette Baudoche hat es sich nämlich reiflich überlegt: Mag der Mann auch noch so reizend sein, einen Deutschen wird sie niemals heiraten können. „Nehmen Sie es mir bitte nicht krumm“, so in etwa verabschiedet sie sich vom preußischen Verehrer.

Durch den gesamten Roman hindurch wird das Französische als alte Zivilisation, das Preußische hingegen als junge, primitive oder gar heidnische ausgewiesen. Und so erscheint das Buch zunächst als eine einzige Ansammlung von Ressentiments – auf der deutschen Wikipedia wird es amüsanterweise als „antideutsch“ bezeichnet [*].

Für ein französisches Publikum zur Festigung seiner nationalen und rechten Gesinnung geschrieben, scheint das Werk heute vielleicht ausschließlich noch für deutsche Leser aufschlussreich. Schließlich erhält man als solcher hier so etwas wie einen schonungslosen französischen Blick auf deutsche Lebensart. Deutsche, so erfährt man, ernähren sich von minderwertigem Aufschnitt und Wurstwaren aller Art. Allerdings nur so lange, bis sie das Beste kennenlernen dürfen, was die lothringer Küche zu bieten hat: die Quiche Lorraine. Man sieht und hört die Unterschiede immer und unerbittlich: Auf der einen Seite der hämmernde disziplinierte germanische Schritt der Kolonisatoren, auf der anderen „das freie Gleiten der Eingeborenen“, wie Barrès es bezeichnet. Der offene Kamin, eine französische Erfindung, wie hier behauptet wird, ist dem – den Deutschen gar so lieben – Ofen in jeder Hinsicht überlegen. Und schließlich: Wie bettet man sich in Preußen? „Seit Generationen wird unter dem gleichen Federbett geschwitzt“, erklärt Barrès angewidert. Endlich in Frankreich angekommen: Ein Laken, eine Bettdecke – Freiheit!

Doch für diesen ganzen Schrott interessiert sich der Film Lothringen! wenig. Ganz im Gegenteil, Jean-Marie Straub beschreibt [*; Abschnitt 1], wie er den Roman „Colette Baudoche“ als junger Mensch nicht habe lesen können, weil er die patriotischen Inhalte derart abstoßend gefunden habe. Erst später gelingt ihm die Lektüre: „Im Buch waren 30 Seiten, die sich mir widersetzten“, so erläutert er, „und weil sie sich mir widersetzten, habe ich beschlossen einen Film daraus zu machen.“ Und an anderer Stelle: „Was mich interessiert, ist etwas, das mir fremd ist, was sich mir zunächst widersetzt, mich sogar abstößt. Etwas, woran ich mich messen muss. Etwas, was mich beschäftigt, weil es sich mir entzieht. Ich will meine Zeit nicht mit etwas vergeuden, was sowieso schon in meinem Kopf war.“ [*, Abschnitt 7]

Jean-Marie Straub, das muss an dieser Stelle gesagt werden, ist 1933 in Metz geboren. Als Schüler hat er die „zweite deutsche Besatzung“, so bezeichnet er sie, erlebt. Und auch wenn der deutsch klingende Nachname dazu verleitet anzunehmen, Straub sei vielleicht zweisprachig aufgewachsen, sei von klein auf mit der deutschen Sprache vertraut, so ist dies nicht der Fall. Erst über Texte und Musik von Bach habe er Deutsch gelernt, im Grunde gemeinsam mit Danièle, d.h. erst nach der Übersiedelung nach München als junger Mann. Als Kind in Metz hingegen, unter nationalsozialistischer Herrschaft, sei die Unterrichtssprache zwar Deutsch gewesen, er aber sei bemüht gewesen, so wenig wie möglich davon aufzunehmen. „Auf dem Pausenhof der Schule oder des Gymnasiums“, so schildert er, „haben wir statt deutsch zu sprechen – wenn man französisch sprach wurden die Eltern nach Schlesien oder wohin weiss ich deportiert – haben wir einfach gar nicht gesprochen, wir schwiegen“ [zit. nach: Jean-Louis Raymond (Hg.): Rencontres avec Jean-Marie Straub et Danièle Huillet, Paris 2008, S. 102 ff].

In einem Publikumsgespräch nach einer Projektion des Filmes Lothringen! an der Pariser Filmhochschule FEMIS stellt Straub 2010 richtig, was Alain Badiou kurz zuvor wohl in Libération behauptet hatte, nämlich, dass Straub einen „germanischen Geist“ (esprit germain) hätte. „Ich habe Filme auf deutsch gemacht […] und ich habe Filme in Deutschland gemacht. Nicht mehr und nicht weniger. Was soll der Quatsch?“ so Straub, um dann vor dem Publikum zu einer Geschichtslektion auszuholen.

Der deutsch-französische Krieg von 1870, auf den der Roman „Collette Baudoche“ immer wieder Bezug nimmt, sei ein von Frankreich begonnener Krieg gewesen, in der Hoffnung die lahmende Wirtschaft anzukurbeln. Das sei die übliche Vorgehensweise kapitalistischer Ökonomien, nur dass man sich hier, einmal mehr, kräftig verschätzt hatte und unterlag. Die preußischen Sieger forderten Entschädigungen für getötete Streitkräfte und vernichtetes Kriegsmaterial. Da die Banque de France aber schon vor dem Krieg pleite gewesen sei, habe man auf französischer Seite keine Mittel gehabt den Forderungen gerecht zu werden, weshalb die Regierung in Paris kurzerhand entschloss, einen Teil des Landes an die Sieger zu verschenken. Es handelte sich dabei um die Schatzkammer des Landes, voller Eisenerze und Kohle. Reich an Bodenschätzen, aber weit genug von Paris entfernt, sodass es dort niemanden berührt, was mit den in Elsaß-Lothringen lebenden Menschen geschieht. Es sei einfach ein Territorium gewesen mit einem bestimmten ökonomischen Wert, das den Besitzer wechselte.

Nahezu über Nacht werden die Menschen in Lothringen damit konfrontiert sich entscheiden zu müssen: entweder bleiben und „deutsch werden“ oder „französisch bleiben“ und gehen müssen. Binnen kürzester Zeit entsteht unter katastrophalen Bedingungen eine Massenflucht in Richtung des französischen Landesinneren. Zigtausende verlassen alleine Metz. Die Bahnen sind überlastet, und die Menschen weichen mit Tiergespannen oder häufig schlichtweg zu Fuß auf die Landstraßen aus. Zeitgleich mit diesem Exodus setzt sich ein zweiter Strom weiter östlich in Gang: deutsche Kolonisatoren machen sich auf den Weg, um neue Ländereien in Besitz zu nehmen, um in ihrer Verwaltungslaufbahn endlich eine Sprosse weiter zu klettern oder etwa, um einen höher dotierten Posten als Lehrer zu ergattern.

99,9% der Pariser seien mit der Annexion von Elsaß-Lothringen im Jahr 1871 einverstanden gewesen. Es hätte nur einen gegeben, der dagegen gewesen sei, vielleicht noch einen halben mehr. Aber dieser eine, so Jean-Marie Straub, sei der Schriftsteller Barrès gewesen.

Hier kommt ein Einwand aus dem Publikum: Das könne doch nicht sein, es habe doch schließlich die Commune gegeben. Daraufhin Straub: „Die Commune in Paris war kurz zuvor vernichtet worden mithilfe der preußischen Truppen. Die Pariser hatten Bismarck regelrecht um Hilfe angefleht, um sie von der Commune zu befreien.“

Was ist von alledem im Film Lothringen! zu sehen?

Der Film beginnt überraschenderweise nicht etwa in Lothringen, sondern weiter östlich. Genau gesagt in Koblenz, also bei den Siegern, am sogenannten „Deutschen Eck“. Der erste Blick des Filmes ist auf das monumentale Kaiser-Wilhelm-Denkmal gerichtet: 1871 zur Feier des Sieges über Frankreich und zur Feier der Deutschen Reichsgründung errichtet. Wie immer bei den Filmen Danièle Huillets und Jean-Marie Straubs, ist nichts an der Wahl des Drehortes zufällig. Vielmehr ist auch dieser Drehort einmal mehr von Geschichte überfrachtet, blickt man vielleicht gar auf eine Schutthalde voller Zeichen und Verweise.

Das gigantische Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck, das wir in der ersten Einstellung sehen, ist aber nicht etwa das 1871 erbaute. Schließlich wurde dieses durch einen US-amerikanischen Granateneinschlag 1945 schwer beschädigt und die kläglichen Überreste eingeschmolzen. Mehr noch: Zunächst von 1953 bis 1990 als sogenanntes „Mahnmal der Deutschen Einheit“ ausgewiesen, wurde der Ort mit der Realisierung genau dieser „Deutschen Einheit“ überflüssig. Schnell formiert sich eine Initiative zur Rekonstruktion des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, und bereits 1988 sollen sich 80% der Koblenzer für einen Wiederaufbau ausgesprochen haben. Ein zunächst mit privatem Geld finanziertes neues Reiterdenkmal wird schließlich der Stadt Koblenz aufgedrängt und 1993 auf den Sockel platziert. Aufschlussreich ist der Tag dieser Wiedereinweihung: Es handelt sich um den 2. September und somit um den sogenannten „Sedantag“, jenem Tag, der an die Kapitulation der Franzosen im Jahr 1870 erinnert. Die deutsche Wikipedia fügt dieser Information lapidar und vermutlich gespielt dümmlich den Nebensatz hinzu: „was aber lediglich in Frankreich Beachtung fand“ [*]. Dieser „Faustschlag aus Stein“, wie Kurt Tucholsky ihn einmal bezeichnet hat, und den wir zu Beginn des Filmes sehen, ist also nicht jener von 1871, sondern einer von 1993, und wurde nicht einmal ein Jahr vor dem Filmdreh aufgestellt.

Die zweite Einstellung des Filmes ist die Ansicht einer historischen Landkarte, die nachzeichnet, wie sich preußische und französische Truppen vor Metz auf dem Plateau de Gravelotte gegenüberstehen. Aus dieser Schlacht müssen sich die Preußen 1870 mit herben Verlusten zurückziehen. Jean-Marie Straub behauptet, Preußens Intelligenz sei hier in Form seiner besten jungen Männer verscharrt worden.

Im Film zu hören sind hier zwei Elemente: Zum einen eine Komposition Joseph Haydns, die auch als Deutschlandlied bekannt geworden ist; zum anderen Schüsse. Laut Straub das Resultat eines Übungsmanövers französischer Streitkräfte, zufällig aufgenommen während der Dreharbeiten 1994 im Umland von Metz.

Erst mit der dritten Einstellung befinden wir uns in Metz. Doch auch hier wieder ein doppelter „Faustschlag aus Stein“. Der Blick geht vom Hauptpostamt zum Hauptbahnhof. Beide Bauwerke wurden von den deutschen Kolonisatoren errichtet und verkörpern mit jedem einzelnen architektonischen Element ihren Machtanspruch. Die sogenannte „wilhelminische Architektur“ scheint uns aus Deutschland bekannt, doch in Lothringen dürfte sie nochmals auf die Spitze getrieben worden sein. Alles soll hier wehrhaft wirken und zugleich eine vermeintlich uralte oder zumindest mittelalterlich-ritterliche Kultur heraufbeschwören. In Fachkreisen als „neo-romanisch“ bezeichnet, wird diese überhebliche und menschenfeindliche Architektur vom Autor Maurice Barrès abfällig als „style néo-schwob“ markiert – neuschwäbischer Stil.

Die Großmutter Baudoche erklärt es dem jungen Preußen in der Erzählung ganz deutlich: „Die Formen, die ihr baut – wir haben keinen Platz darin.“ Und tatsächlich ist der Bahnhof von Metz bestenfalls zweitrangig in Hinblick auf Personentransporte ziviler Art errichtet worden. In erster Linie handelt es sich hier nämlich um eine Art Streitkräfteturbine, das heißt, um eine gigantische Maschine, die mit der Absicht entwickelt wurde, zigtausende deutsche Soldaten binnen kürzester Zeit förmlich los schleudern zu können. Innerhalb von 24 Stunden sollte hier eine ganze Armee umsetzbar sein. Die Richtung sollte je nach Bedarf festlegbar sein: entweder nach Westen also nach Frankreich hin, oder nach Osten, das heißt Russland.

Jede Einstellung des Films ließe sich so, und noch deutlich gewissenhafter als hier, auf die Auswahlkriterien ihres jeweiligen Drehortes prüfen. Überhaupt haben Danièle Huillet und Jean-Marie Straub immer wieder bestritten, ihre Filme seien das Resultat von Reduktionen. Vielmehr würde es ihnen um Konzentration gehen, um das Treffen einer ganz bestimmten Auswahl.

Geht man die literarische Vorlage in Form des Romans „Colette Baudoche“ durch, und spürt darin die Textzeilen auf, die im Film Verwendung gefunden haben, so zeigen sich auch hier eindeutige Kriterien: Übernommen wurde ausschließlich das, was entweder direkt politische Missstände darstellt oder was einen Weg andeutet, wie man sich solchen auch als Einzelperson widersetzen kann. Sowohl die Großmutter Baudoche, als auch ihre Enkelin Colette werden als Frauen dargestellt, die sich in einer scheinbar machtlosen Situation, darauf besinnen, überraschend doch schlichtweg „nein“ sagen zu können.

Das wäre an sich natürlich noch lange nichts außergewöhnliches, denn das Kino erzählt in schier endloser Variation genau dieses Märchen vom machtlosen Individuum, das sich plötzlich seiner Kräfte gewahr wird und gegen das Böse erhebt. Nur zu gerne identifiziert man sich als Kinobesucher mit einer solchen Person.

Danièle Huillet und Jean-Marie Straub scheinen uns als Zuschauer aber auf einen anderen, deutlich unbequemeren Platz zu verweisen. Mir zumindest kommt es so vor, als hätten die Filmemacher hier eine Ausnahme ihrer Regel der strikten Nicht-Identifikation mit den dargestellten Personen gemacht.

Ist es nicht vielleicht so, dass wir uns als Zuschauer durch diesen Film bewegen wie jener „Monsieur Frédéric Asmus“? Von Deutschland aus kommend durchstreifen wir Lothringen. Entdecken Landschaften, Bauten und Vegetation. Begreifen in unserer Ignoranz zunächst nicht die Hintergründe und Zusammenhänge, obwohl doch alles offen vor uns liegt. Erst nach und nach erschließen sich uns die Gründe der zunächst nur geheimnisvoll wirkenden Widersprüche.

Zweimal nur sehen wir im Film die Ansicht einer Person. Es ist beide Male Colette. Beim ersten Mal als Rückansicht, wie sie sich nur kurz und widerwillig uns zuwendet, um verstehen zu geben, dass sie niemals eine Deutsche werden könne. Das zweite Mal frontal: Und auch hier lediglich, um uns eine endgültige Absage zu erteilen. Der Film ordnet uns also vielleicht den Platz jener Person zu, die auch Barrès in seinem Roman als durchaus bemüht, aber immer noch zu ignorant ausweist.

[vorgetragen am 27.10.2017 im Zeughauskino Berlin anlässlich einer Aufführung im Doppelprogramm mit Sicilia! im Rahmen des Projektes Sagen Sie’s den Steinen. Zur Gegenwart des Werks von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, kuratiert von Annett Busch und Tobias Hering in Zusammenarbeit mit Antonia Weiße. Der Text erscheint hier aus Anlass von Jean-Marie Straubs 85. Geburtstag am 8. Januar 2018]

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