Einträge von Johannes Beringer

Freitag, 21.04.2017

„Für Helmut Färber“

Am 26. April 2017, 18 Uhr, wird im Kino Brotfabrik in Berlin der Mizoguchi-Film Sansho Dayu (Japan 1954) zu sehen sein – für Helmut Färber, zu seinem Achtzigsten. Als Dank auch für eine einmal stattgehabte „kinematographische Ausbildung“, veranlasst von Antonia Weiße.

Im Münchner Filmmuseum eine ‚carte blanche’ für Helmut Färber (14. + 27. April 2017) – und ein Text von Michael Girke.

In ‚konkret’ April 2017 ein Geburtstagsgruß von Stefan Ripplinger: ‚Wo wir stehen, was wir sehen, wer wir sind. Helmut Färber, der Erkunder des Kinematografen, wird achtzig.’

In der Jubiläumsnummer 100 von ‚Trafic’ (Winter 2016) – mit der Überschrift „L’écran, l’écrit“ – hat Helmut Färber sich einem Buch gewidmet, das ihn die Wiederbegegnung zu lohnen schien: Hartmut Bitomsky, „Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit“, 1972 herausgekommen im Luchterhand Verlag, Neuwied/Darmstadt. Der Text von Färber (in der Übersetzung von Pierre Rusch) ist „dem Gedächtnis von Michael Pehlke“ gewidmet.

Freitag, 13.01.2017

Hurra für Frau E. (Günter Peter Straschek, BRD 1967, 16mm, s/w, 7 Minuten)

Kurzes Portrait einer Frau mit vier Kindern: ihre Altbau-Wohnung, das Beisammensein mit den Kindern, das Herumtollen von zwei Jungen, die Kinderzeichnungen mit dem schwarzen Schamdreieck, die zwei Betten mit den beiden Hochbetten – das Statement eines Fürsorgebeamten und einer Frau von einer Institution für uneheliche Kinder – ein Schwenk (zweimal wiederholt) auf der Strasse bis zum Lokal ‚Bird-Land’– eine Fahrt an der Potsdamer Strasse mit dem Strassenstrich – die Umarmung (Aufblende / Abblende): Frau E. und der schwarze GI.
Es ist Frau E., die im Off ihre Geschichte erzählt: ihre gescheiterte Ehe, der Geliebte später, der sie wie ein ‚Beefsteak’ behandelt hat und nach dem Liebesakt eingeschlafen ist, ihre Liebesbedürftigkeit, die Kinder, die sie gekriegt hat, weil es die ‚Anti-Baby-Pille’ noch nicht gab, ihre Einkommensverhältnisse.
(Es wäre daran zu erinnern, dass die technische Ausstattung in dieser frühen Zeit an der DFFB noch mangelhaft war und oft mit ungeblimpter Kamera gedreht werden musste: die Erzählung nur mit dem Tonbandgerät aufzunehmen hiess also auch, aus der Not eine Tugend machen.)

Zwei Auslegungen wären möglich: Frau E. kommt mit dem Geld nicht zurecht und muss sich etwas dazuverdienen, um die vier Kinder zu versorgen. Ausweg in die Prostitution, im Lokal ‚Bird-Land’ verkehren GIs. (In der Nähe ist der Strassenstrich an der Potsdamer.)
Oder: Frau E. sucht nach Zuneigung – vielleicht geht sie ins ‚Bird-Land’ oder arbeitet dort und hat sich mit einem schwarzen GI eingelassen. Das abgesetzte, inszenierte Schlussbild – die Umarmung mit dem GI – betont eher diese Auslegung.
Das ‚Hurra’ stünde dann für die Tapferkeit, mit der sich Frau E. durchs Leben schlägt, und für ihren Freimut, die Offenheit ihrer Ausdrucksweise.

(Der Film ist bei einer Sichtung des Harun Farocki-Instituts am 7.1.2017 im Arsenal 2 gelaufen, zusammen mit Dark Spring von Ingemo Engström.)

Dienstag, 11.10.2016

Oderland. Fontane. Film von Bernhard Sallmann (D 2016, 72 Minuten).

Ein Film aus Landschaftstotalen, die unverrückt stehen – also gewählt und komponiert. (Nur einmal eine nähere Einstellung von oben auf ein Oder-Fliessgewässer.) Und eine Frauenstimme (Judica Albrecht), die Fontane liest – Passagen aus „Meine Kinderjahre“, 1893, und „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, 1892. Ebenfalls sorgfältig ausgewählt und zusammengestellt.

Bestechende Idee, die stoische Anwesenheit der Landschaft mit ausgewählten Textstellen Fontanes zu konfrontieren, in denen ja geschichtlich sehr reiches, gut dokumentiertes Material verarbeitet ist (bis zurück ins 13. Jahrhundert, anhand von Namen auch, Hexenprozessen, Kriegshändeln und Krieg, dem immer noch bekannten Derfflinger, Frau von Friedland als Pionierin der Landwirtschaft, der Architektur des ganz jungen Schinkel, dem Naturforscher und Dichter Adelbert von Chamisso u.a.m.). Man lernt, in welcher Weise das Oderland, über die Jahrhunderte hinweg, kolonisierte, kultivierte, gestaltete, ausgenutzte Landschaft war – und doch kann es auch den Anschein haben, als sei die ‚Menschenhand’ nur vorübergehend dagewesen. Als ob das, was sie hinzugefügt hat, sehr vergänglich sei – dem gegenüber, was die Landschaft von sich aus ist. Die Natur hat ihre eigene Geschichte, bewegt sich in langsameren Zyklen – ist also, bei aller äusseren Veränderung, von einer Stetigkeit, die es erst mal zu begreifen gilt.

Wie in der Malerei und der Dichtkunst scheint es auch beim Film (ein eher neues Phänomen) diejenigen zu geben, die sich mit ‚Landschaft’ befassen. Aber die Motivlage hat sich völlig verändert: mit dem, was früher einmal ‚Besinnlichkeit’ hiess, hat die Zuwendung zur Landschaft heute nicht mehr viel zu tun. Der Gegensatz zu dem, was technologisch-gesellschaftlich (im ‚Ultratechnoikum’) passiert, ist derart, dass sich ein Abgrund zu öffnen scheint – zwei Welten stehen sich gegenüber. Bei der einen, unterliegenden Welt verharren, heisst dann: Abgrenzung, Opposition, vielleicht auch Rückzug. Auf jeden Fall verweist die Anwesenheit der Landschaft auf das ‚ganz Andere’, ‚Ausgeschlossene’ – und doch immer Präsente. Durch die verschiedenen Wetterlagen hindurch, dem immer wieder anderen Licht, dem immer wieder veränderten Himmel (oft wie verhangen, was den Landschaftstotalen ein malerisches Gepräge gibt), bildet sich etwas Allgegenwärtiges ab. Das könnte man mit Hölderlin die ‚grosse Natur’ nennen.

vlcsnap-2016-10-09-16h49m45s189

Der Film läuft auf dem Festival DOKLeipzig 2016 (Schaubühne Lindenfels, 01.11.2016 19:30 / CineStar 5, 02.11.2016 21:45 / Passage Kinos Filmeck, 05.11.2016 17:00).

Montag, 22.08.2016

Ach Viola (Film von Rainer Boldt, DFFB 1971, 35 ½ Minuten)

Was für eine Exposition!
Eine Totale nimmt, aus einer Seitenstrasse heraus, einen Aspekt der ‚Schlacht am Tegeler Weg’ auf – wildes Geschehen, Wasserwerfer, Polizei, steinewerfende Demonstranten (ein Häufchen Pflastersteine liegt wie griffbereit am Strassenrand). Das Bild friert ein, wird zum Standbild, das sich langsam in seine Bestandteile aufzulösen scheint (zum Negativ wird). Eine helle Männerstimme (der Autor?) gibt im Off eine Bestandesaufnahme der Ausserparlamentarischen Opposition. (Dieser Novembertag 1968, an dem sich die aufgestaute Wut über die Nazi- und Klassen-Justiz Luft machte, die Polizei in die Flucht geschlagen wurde, war Apotheose und Endpunkt der APO.) „Westberlin im November 1970“. Musik hat eingesetzt, nachtdunkle Gebäude, abgesetzt gegen den helleren Nachthimmel, dann schwarze Nacht, ein paar Lichter, man erkennt die Leuchtschrift ‚First National City Bank’, den sich auf dem Europacenter drehenden Mercedes-Stern, ein Polizeiauto, das Gesicht einer Frau – schläft sie, träumt sie? Über der ganzen nächtlichen Sequenz – zu spüren sozusagen die kalte kapitalistische Hand auf der Stadt – hängt der (statische) symphonische Akkord von Charles Ives’ „The Unanswered Question“, mit der darüber gesetzten, von der Trompete formulierten Frage, den immer erratischer werdenden Antworten der Bläser. Die Musik verklingt dissonant – in die Stille hinein hört man eine Kirchenglocke sechs Mal schlagen, die Frau hat die Augen geöffnet, die Uhr an ihrem Arm macht sichtbar, dass sie (nachts wie tags) unter dem Diktat des getakteten Alltags steht. Sie steht auf, macht Licht, nimmt ein Medikament. Zuvor schon (flashartig) eine Einstellung aus einem Chemielabor – jetzt tun die zwei Frauen, die da arbeiten, ihren Überdruss kund: sie haben genug davon, tagaus, tagein Urinproben zu analysieren – eine Veränderung muss her.

Ach Viola hebt sich von andern DFFB-Filmen aus der Zeit ab – ist filmisch und ästhetisch avancierter. Das ist ein Geflecht von sorgfältig montierten Einstellungen und Tönen; der Film arbeitet nicht nur mit Realzeit, sondern auch mit Wiederholungen, Variationen, stellt einen Empfindungs- und Denkraum her. Das bedeutet aber auch, dass das ‚eingreifende Filmen’ und vor allem das Konzept des ‚Zielgruppenfilms’ verabschiedet ist – zugunsten des Autorenfilms. Scheint mir legitim, insofern das ja auch wie ein Blick von aussen ist – ein Soziogramm einer Gruppe von Leuten vielleicht, ein Verweis auf die Zeit. Der Einsatz der Musik, „Die unbeantwortete Frage“ – ihr ist später ein gesummtes, instrumental werdendes Liedchen („Backstreet Girl“ von Jagger und Richards) hinzugesetzt –, mag zwar auf die Aktualität, die Zeit zielen, weist aber auch stark darüber hinaus. Will den Lauf der Welt in sich hereinnehmen oder anrufen.
(Merkwürdig die Rolle, die gerade dieses Stück von Ives damals bei einigen Filmakademisten und Ex-Filmakademisten gespielt hat, auch bei Harun Farocki, aber scheinbar unabhängig voneinander. Bei solchen wohl, die operativ dachten, Konstruktionsideen hatten, mit Fiktion umgingen.)

https://dffb-archiv.de/dffb/ach-viola

Donnerstag, 14.04.2016

Familiengeschichten – Filme von Tamara Wyss (29.4.1950 – 30.3.2016)

Ein Notizbuch von Clara Westphal aus dem Jahr 1906, das Tamara Wyss aufgefunden hatte, führte dazu, dass sie sich (in ihrer im Mai 1990 für einige Zeit in Berlin bezogenen Wohnung) eingehender mit Moses Mendelssohn zu beschäftigen begann: Moses war der Urgrossvater von Clara, diese die Grossmutter von Tamaras Grossmutter. Daraus wurde der Film Auf der Suche nach Herrn Moses (D 1990, 60 Minuten; Kamera Ingo Kratisch).
Stadtfahrten im Auto, im Fond sitzt Tayfun Bademsoy und liest – später auch an Schauplätzen – aus Moses Mendelssohns Briefen und Texten, aus der Friedrich Nicolaischen Beschreibung der ‚Reise nach Potsdam’, ebenso Offiziöses, königlich Verlautbartes. – Durch welches Tor wurde der 14jährige, aus Dessau herbeigewanderte Jude nach Berlin hereingelassen: bestimmt nicht durch das Hallesche- oder Potsdamer-Tor, am ehesten durch das Rosenthaler Tor (wo in der Nähe schon ‚seinesgleichen’ wohnte). Auch 1990 passiert man Grenzkontrollen in der Stadt – auf dem Weg von Berlin nach Potsdam beispielsweise, den Moses Mendelssohn 1771 an einem Sabath teilweise zu Fuss zurücklegte, um der ‚Herbestellung’ von Friedrich II. Folge zu leisten (ein Kursächsischer Staatsminister wollte mit ihm über Philosophie diskutieren). Es ging auch um die Aufnahme in die ‚Königliche Academie’, die letztlich nicht zustande kam, obschon die besten Geister der Zeit das Genie von Moses Mendelssohn akklamierten. Davor und danach: ständige Beschränkung seines eigentlichen ‚Rechts um Existenz’ (die Zuzugs- und Niederlassungsrechte für Juden waren limitiert), besonders auch, als es um die Heirat mit Fromet Guggenheim ging.
In der westberliner Staatsbibliothek sind Erstschriften und Dokumente Mendelssohns einzusehen: „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ von 1767, seine Bibel-Übersetzung aus dem Hebräischen (deutsch in hebräischen Lettern), die Abhandlung „Evidenz in metaphysischen Wissenschaften“ von 1763, für die Mendelssohn den ersten Preis der ‚Königlichen Academie’ vor Kant erhielt, ein Geschäftsjournal von 1779-1781, das Mendelssohn als Prokurist führte. – Zwei Familienangehörige konfrontiert Tamara Wyss mit einem Familien-Foto der sieben Kinder von Clara Westphal, die (wie sie sagt) alle getauft waren, diskutiert mit ihnen insbesondere darüber, wie es den da Abgebildeten während der Nazizeit ergangen ist. – Ein Steinmetz arbeitet an einem neuen Gedenkstein für Moses Mendelssohn; eine kleine Zeremonie: auf dem ältesten jüdischen Friedhof in Berlin, an der Grossen Hamburger Strasse, wird der Gedenkstein feierlich enthüllt und eingeweiht.

Der Jangtsekiang und der Drei-Schluchten-Staudamm: Tamara Wyss, indem sie den Spuren ihrer Grosseltern, Fritz und Hedwig Weiss (ab 1951 Wyss) folgt, gerät mitten hinein in die Umsetzung dieses gewaltigen Projekts, findet Zugang zu den Menschen, die da ‚verpflanzt’ werden. (In Still Life, 2006, behandelt Jia Zhang-ke dasselbe Sujet.) Als Kind schon hatte Tamara von ihrer Grossmutter viel über China erzählt bekommen – dann entdeckte sie, beim Aufräumen eines Kellers, Fotografien, Tonaufnahmen, Aufzeichnungen und Briefe der Grosseltern (Fritz Max Weiss stand vor dem Ersten Weltkrieg im konsularischen Dienst des Deutschen Reichs in China, war ab 1911 Konsul in Chengdu, von 1914 bis 1917 in Kunming/Yunnan). Der Fund resultierte erst in einem kleinen Film, dann, über zwei Reisen, im Projekt Die chinesischen Schuhe (D 2000-2004, 105 Minuten); damit verbunden gab es Ausstellungen in China und eine Buchvorstellung („Gestern, im Land von Ba und Shu“, Sichuan University Press 2009) in Chengdu.

Bemerkenswert auch, dass Tamara Wyss 1975-1978 im Zusammenhang der DFFB an einem Langzeit-Projekt auf den Kapverden beteiligt war, bei dem mehrere Filme gedreht wurden. Darunter die 15minütige Dokumentation Ein ehemaliges Konzentrationslager – womit Tarrafal gemeint ist (siehe dazu den Kurzfilm von Pedro Costa von 2007 unter ebendiesem Titel).

Filmografie auf http://www.tamara-wyss.de/deutsch/filme_de.html

Dienstag, 23.02.2016

Der Brief (Vlado Kristl; BRD 1966, Farbe, 80 Minuten)

Ein anti-avantgardistischer Film, an dem man sich die Augen verderben kann (und vielleicht auch die eigene Moral). Die Anweisung an den Kameramann lautete: nie auf das Hauptgeschehen draufhalten, immer auf das Nebensächliche, Beiläufige. Die Kamera ist also ständig in Bewegung, schwenkt nach rechts, nach links, nach unten, nach oben – über die Baumwipfel in den Himmel und wieder zurück. Eine Bildebene (35mm, Farbe), die sich so recht dazu leiht, die Tonspur mit Stimmen vollzustellen. Und mit Explosionen, Gewehrsalven, Schlachtlärm (wie schon in Arme Leute, 1963). Einige Einstellungen bleiben, wie zur Erholung, völlig stumm, statisch.
Der mit dem Brief (Kristl selbst) ist frohen Mutes, frohen Sinns (er will den Brief persönlich abliefern), ihm wird auch freundlich der Weg gewiesen – mit so vielen Links und Rechts, dass ihm wirr im Kopf wird. Der Kristl’sche frohe Sinn trifft auf deutschen Frohsinn – das kann natürlich nicht gut gehen, das ist nicht ‚löslich’. Kristl ist allein unterwegs, die andern treten in Gruppen auf: singende Gruppen, winkende Gruppen, rutschende Gruppen (auf dem Ozeandampfer wird kräftig am Steuerrad gedreht), angreifende Gruppen, fliehende Gruppen, robbende Gruppen – es ist Krieg, Revolution (den ganzen Film über). Diese Normalität steht von der andern ungeschieden da.
Froh macht auch (das ist der Kristl’sche Hinterhalt), dass alles Böse völlig ungehemmt rausgelassen werden kann: Flüche, Schimpfkanonaden, sprachliche Kunstwerke an Pöbeleien und Beschimpfungen bis hin zum Spuckwettbewerb als Gespräch (wer spuckt den andern am besten an) – da ist es natürlich nicht weit zur ganz praktisch ausgelebten Zerstörungswut (ein kleiner Gemüseladen wird zerlegt) und der slapstickartig sich steigernden Freude daran. Kristl selbst, nachdem er eine oder seine Frau geküsst hat, übt sich mit ihr im Fingerabhacken mit viel Ketchup und Rumgespritze. Bayrisches Fingerhakeln nach scharfer jugoslawischer Art.

September 1966 ging es los an der DFFB: Der Brief war einer der ersten Filme, den wir da zu sehen bekamen. (Helene Schwarz, die Sekretärin, hatte ein Taxi bestellt, um vom Theodor Heuss-Platz zur Akademie der Künste zu fahren und nahm ein paar von uns mit.) Jetzt scheint mir, dass die Kristl’sche Gestimmtheit doch irgendwie auch abgefärbt hat (der halbe junge deutsche Film ist schliesslich in Der Brief dabei) – das ist zwar nie ‚verbalisiert’ worden, es war einfach da. Unsere Stimmung war gut, aufgekratzt. Die Welt (die Philosophie) schreitet immer auch durch produktive Missverständnisse voran. (Das Unverständnis folgt später.)

(Gesehen im CinemaxX 8 auf der Berlinale, 19.2.2016.)

Montag, 26.10.2015

Fastentuch 1472

Sich mit einem fremden Objekt befassen – nicht aus dem Weltraum, sondern aus dem eigenen Kulturraum, dem europäisch-deutschen (Zittau im Dreiländereck Deutschland, Tschechien, Polen). Ein irdisches Objekt also, von dem wir uns geschichtlich so weit entfernt – uns ihm entfremdet – haben, dass es uns tatsächlich vorkommt wie von einem andern Stern. Ein Objekt allerdings, das eine ganz vertraute Geschichte erzählt, in Bildern und Worten spricht, die an etwas rühren, das uns von altersher bekannt sein müsste.
Mehrfache Arbeit, die dieser Film leistet: er bringt uns optisch / kinematographisch die Bilderzählung nahe, die auf dem Grossen Zittauer Fastentuch in einer Folge von neunzig Bildern dargestellt ist – und findet eine Sprache für dieses (aus dem Alten und dem Neuen Testament) Dargestellte. Er begibt sich in die Bilder hinein, spricht aus ihnen heraus, transponiert den darin enthaltenen Ausdruck samt den Legenden in ein heute verständliches Deutsch. Dann bestimmt er – historisch, materiell, ideell – den Charakter dieses Objekts, situiert es durch Interviews mit Personen, die dazu massgeblich etwas zu sagen haben, aus heutiger Perspektive neu.
Das macht, dass uns dieses fremde Objekt sehr nahe kommt – und doch der notwendige (weil gegebene) Abstand gewahrt bleibt. Ein mittelalterliches Weltbild eröffnet sich, das ganz im Glauben lebt, innig ist, von naiver Frömmigkeit. Den da dargestellten biblischen Figuren haftet überwiegend der Gesichtsausdruck eines kindlichen Staunens an, wie wenn der oder die (anonymen) Maler einfach die schöne Einfalt aufgegriffen hätten des gläubigen Volkes um sie herum.

Schon die Bezeichnungen, mit denen wir diese Welt charakterisieren, entfernt sie von uns, macht den Abstand und die ‚Verlorenheit’ klar. (Es sei denn, wir gucken ein bisschen unseren Kindern und vielleicht den Simpeln und Toren zu.) Aber lautet die Lektion nicht vielmehr: verloren waren nicht die Menschen dieser vergangenen Welt, verloren sind vielmehr wir. Wir haben uns (mit unseren heutigen Fantasmen, im Bann der „Technosphäre“, dem „Diktat des Augenblicks“) gut erheben über ein ‚geschlossenes Weltbild’ (das immerhin für eine gewisse Geborgenheit bürgte) – in ein paar Jahrzehnten schon wird man unser heutiges Weltbild als genauso antiquiert ansehen. ‚Was haben die sich bloss eingebildet, damals!’ (Vorausgesetzt irgendeine Art Urteilsvermögen ist noch in Kraft in der künftigen Menschheitsgeschichte.) Und wenn man sich vor Augen hält, dass der Abstand zum Fastentuch-Weltbild (vor dem Hintergrund der ‚Schöpfungsgeschichte’, den ca. 4,6 Milliarden Jahren Evolution auf dem Planeten) eigentlich nicht mehr ist als ein Wimpernschlag, will einem scheinen, dass diese Art Überstürzung und Überhebung nur im Nichts (woher wir gekommen sind) enden kann.

Fastentuch 1472 – Film von Bernhard Sallmann (D 2015, 93 Minuten).
Der Film läuft am 28., 29. und 31.10.2015 auf der Dok-Leipzig. Und am 24. November 2015 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin.

Samstag, 17.10.2015

Liebe – Erinnerung – Stammheim

Aus Karsten Heins Fotoroman „Das vierte Album“ wird ein Kinoereignis: Lesung, Filmmusik und Leinwand-Projektion.

Kino fsk, Oranienplatz, Berlin, Montag, 19. Oktober 2015, 20 Uhr, mit Diskussion.

Montag, 21.09.2015

Hamburger Filmmacher Cooperative (1968 – 1972)

Im Kino im Sprengel in Hannnover läuft, zusammengestellt von Peter Hoffmann, vom 25. September bis 5. Dezember 2015 ein umfangreiches und gut dokumentiertes Programm zur Hamburger Cooperative. Also Filme, die auf den Hamburger Filmschauen liefen und die größtenteils über die Cooperative verliehen wurden: Filme der Hamburger Filmschauen 1968 und 1969, und als letzter Programmblock die Hamburger der Filmschauen ’70 und ’71. Dazwischen bezieht die Retrospektive auch das Vorfeld und das ausgedehnte Umfeld des in der Hamburger Coop repräsentierten ‚Anderen Kinos’ mit ein. (Klaus Wyborny / Die Cinegrafik Produktion – Helmut Herbst, Franz Winzentsen u.a. / Der radikale Underground – Wien, Zürich, Köln / Hellmuth Costard / Politische Filme der Filmmacher Coop / Filme vom Dörnberg und vom Kasseler Filmkollektiv / Filme von Werner Nekes und Dore O. / Filme von Lutz Mommartz und Bernd Upnmoor.)
Vieles ist unbekannt oder so gut wie (oder kennt jemand die ‚politische Filmarbeit’ am ‚Jugendhof Dörnberg’?), anderes kann wiederentdeckt werden, und mein Lieblingsfilm Na und? (1967) von Marquart Bohm und Helmut Herbst ist auch dabei.

Dienstag, 15.09.2015

Cinéma Cinémas

Zehn Jahre gab es dieses Kino-Magazin auf Antenne 2 (1982-1992) – es war auch hier, über Kabel auf TV5 (glaube ich) zu sehen. (Ich habe ab 1986 ein bisschen geguckt und war immer wieder mal ganz entzückt.)
Claude Ventura: „Wir wollten in das Magazin unsere Emotionen und Träume vom Kino reinpacken, fernab jeder Idee von Promotion. Es gab für uns keine didaktischen Absichten, kein Nachrichten-Erfordernis, keinen Aktualitäts-Imperativ, wir folgten dem Schlag unserer Herzen …“
Michel Boujut: „ … Entscheidend für unseren Zugang war dieser Hang zur Fiktion, denn der bestimmte alles Übrige und stellte unsere Identität her. Das gab den Anreiz, den richtigen Blickwinkel zu finden, eine Ambiance herzustellen, Situationen zu erfinden. Eine Suite in einem Hotelpalast, ein Bahnhofquai, ein Swimming Pool, ein fahrendes Auto, ein Waschsalon oder eine nächtliche Bar – die Klischees schüchterten uns nicht ein, solange sie die Farben des Traums hatten und unserer Vorstellungswelt entsprachen.
Cinéma Cinémas bestand aus Resonanzen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen dem Hier und dem Anderswo, vor allem aber dem Echo zwischen den beiden Küsten des Atlantiks. Es galt, ein Gleichgewicht zu finden zwischen rohem Dokument und besonderem Portrait, Begegnung und Chronik, Interview und essayistischem Fragment. Unsere Ermittlungen und Nachforschungen führten uns unweigerlich auf die Spur der geliebten Phantome von gestern (Louise Brooks, Gene Tierney, Faulkner, Goodis, Capra, Ford, Hitchcock, Welles, Cassavetes und anderen), aber auch der Cineasten, Szenaristen und Schauspieler von heute, den kleinen und den grossen, denjenigen, die man vergisst, und denjenigen, die man beweihräuchert.“

Neben dem Kernteam Anne Andreu, Michel Boujut (die markante Kommentar-Stimme der Beiträge), Claude Ventura gab es auch den in Kalifornien stationierten Philippe Garnier und verschiedene weitere Mitarbeiter (André S. Labarthe, Guy Girard, Christian Meunier, Alain Nahum u.a.m.). Nicht zuletzt die Mitarbeit der Regisseure selber, die ‚screen tests’ mit Schauspielern beisteuerten, einen ‚Filmbrief’ / ‚Lettre d’un cinéaste’ inszenierten (Luc Moullet, Alain Cavalier etwa) oder, wie Godard, dem Team die Türöffner-Szene mit Eddie Constantine / Lemmy Caution aus Alphaville als ‚jingle’ überliessen.
(Ich habe zitiert und übersetzt aus dem Booklet zu „La Collection Cinéma Cinémas“, INA 2008 – eine Auswahl von 12 Episoden von je einer Stunde auf vier DVDs.)


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort