Einträge von Stefan Ripplinger

Mittwoch, 08.07.2015

Made In Hell

Was Brighton Rock, das Buch, von Brighton Rock, den Verfilmungen (Boulting 1947; Joffe 2010), unterscheidet, ist nicht das Medium, sondern das Genre. Die Filme sind Krimis, Gangsterstücke, sie handeln von Gangs und ihren Taten. Graham Greene dagegen schrieb einen theologischen Roman; er handelt von einer marriage made in hell. Im Mittelpunkt der Filme steht Pinkie, der kindliche Mörder, im Mittelpunkt des Romans stehen Rose und Ida.
Rose ist, wie ihr Name schon sagt, Inkarnation Mariens (deren Sinnbild die Rose ist), einer der Verdammnis verfallenen Maria. Ida ist, wie ihr Name schon sagt, Personifikation von Arbeit und Tatkraft (althochdeutsch id), aber auch von wohlbeleibtem well-being; ihr Wahlspruch ist: „It’s a good world if you don’t weaken.“
Die Filme sind zynisch, Verbrechen geschehen ungehindert, Rettung kommt zufällig, wie ein Witz. Im Roman gibt es keine Rettung, aber eine seltsam jenseitige Welt, der Rose und sogar Pinkie angehören, und eine hiesige, die von Ida verteidigt wird, die zwar nicht mehr Gut und Böse unterscheiden kann, aber doch Richtig von Falsch, und Mord „wouldn’t be right“. Religion betreibt das Geschäft der Welt, die Welt das der Religion. Der von Ida vertretene Pragmatismus, der absolute Werte in relative Zwecke übersetzt, tut, ohne noch zu wissen, weshalb, das gute Werk, das nun so gut nicht mehr erscheint. Die von Rose verkörperte Liebe dagegen folgt der invertierten Jesusfigur, credo in unum Satanum, Pinkie, in die Hölle, und die befindet sich hienieden. Es ist eine unbedingte, nicht ganz einseitige Liebe zwischen unschuldiger Jungfrau und „cruel virginity“, die standesamtliche Trauung bloß der Tribut, der für diese Liebe entrichtet werden muss.
Was der Roman nicht einmal andeutet, muss der Film zeigen, der erste reflektiert sich dabei immerhin selbst. Frank, der Wäschereibesitzer, bei dem die Gangster untergekrochen sind, ist auch im Roman blind und muss sich von seiner Frau betrügen lassen. Im Film ist er darüber hinaus ein ohnmächtiger Zeuge, der den zweiten Mord hört, aber nicht sieht. Und auch beim ersten Mord ist ein Blinder zugegen. In einer Parodie auf die Divina Commedia lässt er sich von einem Mädchen in eine Geisterbahn führen, „Dante’s Inferno“. Als sie aussteigen, weint das Mädchen, er weiß nicht, warum.
Die erste Verfilmung von Brighton Rock bleibt nicht wegen ihres Zynismus, sondern Carol Marshs wegen in Erinnerung. Wer ihr geflüstertes „Yes, Pinkie“ gehört hat, wird es nicht mehr vergessen. Sie selbst hat den Film nie gesehen.

Donnerstag, 26.03.2015

Kommunisten

Serge Kaganski / Jean-Marc Lalanne: Es hat uns überrascht, dass Kommunisten mit Collagetechnik arbeitet und aus einigen Ihrer früheren Filme zitiert …
Jean-Marie Straub: Dieser Film schlägt zu und steckt ein, er ist ein Doppeltreffer (coup fourré). Und auf diesen Doppeltreffer bin ich überaus stolz, sowohl was seine ästhetische Konstruktion als auch, was das Politische angeht.
Kaganski / Lalanne: Wie sind Sie auf diesen „Doppeltreffer“ gekommen?
Straub: Ganz allmählich in der Nacht. Er ist das Ergebnis dessen, was lange und mühselig in der Nacht gereift ist. Ich hatte Lust, einen Film zu machen, der in der allerwidersprüchlichsten und abwechslungsreichsten Weise spricht. Ich habe noch nie einen Film mit so vielen Genres und Tonlagen gesehen. Es fängt ein bisschen wie Hawks an, mit einem langen Auszug aus Operai, contadini (Arbeiter, Bauern; 2001). Zu sehen ist die Entdeckung der kommunistischen Sensibilität.
Kaganski / Lalanne: Weshalb kommt Ihnen dieser Auszug aus Operai, contadini wie Hawks vor?
Straub: Weil die Menschen auf Augenhöhe gefilmt sind. Ganz anders ist es in der folgenden Sequenz aus der Perspektive der Lumière-Brüder und ebenfalls anders ist es in den drei Blitzszenen, die vorangegangen sind: ein Polizeiverhör, dann ein Stück schwarze, über die Folterung gedeckte Leinwand. Ich habe gar nicht erst versucht, es besser zu machen als Dreyer in Vredens dag oder Bresson in Un condamné à mort s’est echappé. Ich wollte die Folterung nicht bebildern. Dritter Blitz, das Paar von hinten. Anfangs wusste ich nicht, wie Kommunisten werden soll, das hat seine Zeit gebraucht. Anfangs wollte ich diese drei Blitze filmen. Der Rest ist dann dazugekommen.
Kaganski / Lalanne: Kann man sagen, dass der Film alle Bedeutungen durcharbeitet, die das Wort „kommunistisch“ haben kann?
Straub: Es ist mehr eine Erforschung der kommunistischen Seele. Die kommunistische Seele gibt es auch in den Apuanischen Alpen, also in den Dörfern, die sich in der Gotenstellung befanden und zu Oradours in Italien geworden sind. Das also konnte den Kommunisten, das konnte ihren Frauen und Kindern widerfahren. Darin liegt das Risiko des Kommunismus, dieser Sache, auf die die Menschen noch immer warten. Und wenn sie sich nicht verwirklicht, sind wir am Ende. Kommunisten ist eine Art Wette, eine Herausforderung. Ein Schrei der Verzweiflung.
(…)
Kaganski / Lalanne: Ist Kommunisten ein filmisches Testament?
Straub: Klingt nicht nett, aber ja, ein Testament ist es.
Kaganski / Lalanne: Öffnet dieser Film nicht gleichzeitig einen neuen Weg für Ihr Kino, weil er aus Einstellungen anderer Ihrer Filme komponiert ist?
Straub: Ja und nein. Ein System soll das nicht werden. Kommunisten ist ein Würfelwurf, man sollte nicht versuchen, ihn zu wiederholen. Es wäre schrecklich, würde das zur Methode.
Kaganski / Lalanne: Was verleiht Ihnen trotz allem die Lust, weiterzuleben und weiter Filme zu machen?
Straub: Die Leute auf der Straße, die ich vom Fenster aus sehe oder die ich treffe … Eine Wolke, die vorüberzieht … Die vergehende Zeit, das sich wandelnde Licht … Der abnehmende und der zunehmende Mond ..
Kaganski / Lalanne: Was fesselt Sie an den Passanten auf der Straße?
Straub: Alles. Eine einfache Handbewegung, ein sich aufhellender Blick, manchmal auch, wenn sich der kleine Finger rührt. Wirklich alles.
Kaganski / Lalanne: Interessiert Sie das oder bewegt Sie das?
Straub: Das interessiert mich und deshalb bewegt es mich. Es hat einer nicht das Recht, sich für etwas zu interessieren, das nicht auch eine Emotion in ihm auslöst.
(…)
Kaganski / Lalanne: Ist der Kommunismus eine Sache des Glaubens?
Straub: Der Protagonist aus der ersten Sequenz, aus Operai, contadini, spricht davon. Er sagt, dass er sich gerade verändert und Freude daran findet, dass die Kartoffeln wachsen. Das ist auch Kommunismus. Man muss zwar nicht Kommunist sein, um von einer wachsenden Pflanze angerührt zu werden – aber vielleicht doch.
Kaganski / Lalanne: Und das ist der Kommunismus für Sie?
Straub: Ja, ich glaube schon. Dieser Protagonist aus Operai, contadini sagt auch: „Die Sache zwischen ihr und mir begann zu wachsen, zu wachsen, zu wachsen.“ Was man den „Kommunismus“ nennt, betrifft auch die Liebesbeziehungen.
Kaganski / Lalanne: Sie denken, der Kommunismus beeinflusst, wie man sich liebt?
Straub: Aber ja, das ist der Film. Wenn ich daran nicht glaubte, steckte nichts dahinter. Dieses Gefühl hat sich in meinen Filmen verdichtet. Das schließt Corneille und die Idee mit ein, es gebe keine Liebe ohne Achtung. Zwar ist das bei ihm politisch anders gelagert, aber doch dieselbe Idee. Der Film besteht aus musikalischen und konzeptuellen Variationen über den Traum, Kommunist zu sein.
(…)
Kaganski / Lalanne: Weshalb können die politischen Parteien nicht dieses Ideal verwirklichen, das Sie „Kommunismus“ nennen?
Straub: Solange die Parteien der Sozialdemokratie nützen, ist von ihnen nichts zu erwarten. Die Sozialdemokratie versteht sich nur auf den Verrat. Sie stellt sich immerzu in den Dienst von Reformen zugunsten des Kapitalismus, und nichts sonst. Der Kapitalismus reformiert sich nicht. Der Kapitalismus verschwindet oder er verschwindet nicht. Solange er aber nicht beseitigt ist, breitet er sich immer weiter aus. Mit ihm gibt es keine Zusammenarbeit, denn er arbeitet mit niemandem zusammen. Weshalb ihm also den Hof machen? Der Kapitalismus ist die Sache der Unmenschlichkeit. Und die Sache der Unmenschlichkeit hat nichts zu sagen.
(Aus „Les Inrockuptibles“, 11.3.2015)

Mittwoch, 11.03.2015

Aneignung

Es ist ein Gedicht über einen Dichter. Als schwarze Jugendliche gefragt werden, wer Muhammad Ali sei, antworten sie: „A poet, a Muslim, a champ“, in dieser Reihenfolge. William Kleins Film „Muhammad Ali. The Greatest“ (1974) würdigt die poetische Kraft des Künstlers in Sturm-expressionistischen Einstellungen. In Kleins stets um die Protagonisten tänzelndem Weitwinkelobjektiv erscheinen die selbsternannten „owner“ von Cassius Clay wie die Ankläger der Jeanne d’Arc, als Lemuren. W.L. Lyons-Brown, Besitzer der Brown-Foreman-Schnapsfabrik, Farmer und Ölmagnat, erklärt, seine Familie habe die Vorfahren Alis / Clays besessen und nun besitze er ihn. Sklavenhalter- und kapitalistische Ökonomie gehen nahtlos ineinander über, die Sklaven sind zu Waren geworden, die Sklavenhalter zu Kapitalisten.
Vor diesem Hintergrund entsteht Alis Dichtung, die sich auf keine Tradition berufen kann. Wie die anderen ihn und seine Leistung sich aneignen, so eignet er sich ihre Kultur an, er nimmt sich, was er braucht, aus der Welt von Werbeslogans, Rundfunkdurchsagen, Plakaten, Events, die Klein hinreißend hintereinanderschneidet, als wäre es eine Jazz-Improvisation. Ali dichtet in Slogans, er ist der „king of the ring“, „They said the best was Sugar Ray / That’s before we all saw Cassius Clay“, er setzt Superlativ auf Superlativ bis ins Phantastische, „I’ve wrestled with an alligator, / I’ve tussled with a whale. / I did handcuff lightning / And throw thunder in jail.“
Unversehens geht seine Dichtung in eine atemberaubende Philippika über: „Everything in america that has been made the greatest has been painted and colored WHITE like jesus is WHITE santa claus is WHITE tarzan king of the jungle he’s WHITE miss america is WHITE miss universe is WHITE miss world is WHITE when you go to heaven you walk on a milky WHITE way before you go to heaven you’re washed in lamb’s blood he’s WHITE as snow they say they teach you in tv commercials there’s WHITE owl cigars WHITE swan soap WHITE cloud tissue paper WHITE rain hair rinse WHITE tornado floor wax everything seems to be WHITE i’m dreaming of a WHITE christmas angel’s hair is WHITE angel food cake is WHITE and mary had a little lamb his fleece was WHITE as snow.“
Er rappt das, kurz nachdem er Stepin Fetchit getroffen hat, den er liebevoll „Step“ nennt; für mich der sentimentalste Moment des Films. Stepin Fetchit, der erste afroamerikanische Superstar, aber stets der Underdog, so auch hier. Wäre er Alis Gegner, Sonny Liston, gewesen, sagt Stepin Fetchit, dann hätte er gegen sich selbst gewettet. Muhammad Ali war einer der ersten Afroamerikaner, die auf sich selbst gesetzt und gewonnen haben.

Montag, 23.02.2015

Schiffbruch mit Zuschauern

Unter den Filmen mit Mary Pickford ist „The Pride of the Clan“ (1916) einer der finsteren. Nach einer kurzen Vorstellung der Hauptpersonen entfesselt Maurice Tourneur, der Regisseur, die Elemente, als wäre er ein zweiter Victor Sjöström. Meer schäumt, Wogen brechen sich zornig am Kliff, Sturm fegt Baracken beiseite, finster färbt sich der Himmel und bleibt es, „Wild waste, wind swept, sea hammered bleak and gray / Where dwells the Clan Mac Tavish, midst the spray / Of waves that bring the fisher-folk their wage – – – / And death, as well, when wild the waters rage.“ Der Clan Mac Tavish lebt auf einer Insel mit dem sprechenden Namen Killean. Nach dem Tod seines Häuptlings – ein Schiffbruch mit Zuschauern – nimmt Marget Mac Tavish und damit Pickford ihre Paraderolle ein, die des Mädchens, das seinen Mann steht. Marget wird nach dem Gesetz des Clans zu seinem Häuptling, führt ihn mit Temperament und Peitsche. Doch sie rechnet nicht mit einer anderen, noch viel zerstörerischen Macht als der der See, es ist die Upper Class, die in Gestalt von Lord und Lady Dunstable anlandet. In den Augen dieser Blasierten sind Margets Lebendigkeit und Derbheit, die ihr auf Killean zustatten kommen, bloß deplatziert. Der Konflikt wird durchaus parodistisch ausgetragen, und doch bleibt der Film in seinem finstern Element. Denn ihres natürlichen Ortes entsetzt, macht sich Marget von der Insel los und lässt sich auf See treiben. Gerettet wird sie von Tieren und von Seeleuten, von einem Gottlosen und von Gebeten. Sjöström hätte ein anderes Ende gewählt, und es ist merkwürdig genug, dass der junge Kameramann dieses in Silhouetten und Schatten, mit viel Schwarz gemalten Films, John van den Broek, anderthalb Jahre später starb, als er für Tourneurs „Woman“ von einer Klippe das wogende Meer filmen wollte und von ihm verschlungen wurde. Seine Leiche wurde niemals gefunden.

Dienstag, 27.01.2015

Hier wächst Qualität für die Frische-Märkte von Reichelt

Als ob nicht meine Existenz schwer genug auf mir lastete, habe ich mir die zentnerschweren Existenzen der „Kinder von Golzow“ (Barbara und Winfried Junge, 1961–2007) aufgeladen. Es war mir nicht nach Operette. Der Reiz dieser 43-stündigen Dokumentation liegt nicht so sehr darin, dass sie über 40 Jahre lang das unerquickliche Geschäft eines Lebens in Deutschland, das Leiden und Dulden der Unteren, beobachtet, sondern in der vollkommenen Verkehrung der Voraussetzungen des Projekts. Das Projekt beginnt als ein Versuch, sozialistische Normalität und sozialistisches Ideal miteinander zu vergleichen, schönfärberisch zuweilen, oft erhellend, es endet mit der kapitalistischen Katastrophe, die auch Filmproduktion und Ästhetik mit sich reißt. Nun wird der Film zu einer radikalen Selbstrevision, er zeigt zuvor zensierte Passagen, er deckt schwierige Produktionsbedingungen auf, von einer inszenierten und – insbesondere von Hans Dumke, einem früh verstorbenen Kameramann der Defa-Wochenschau – glänzend fotografierten Geschichte wird er zu einer Folge von eiligen Improvisationen. Vor allem aber wird er Teil unserer kapitalistischen Situation, er stellt sich nicht nur mit seinen Protagonisten, sondern auch mit uns in die Schlange am Arbeitsamt. Indem Golzow kapitalistisch wird, golzowisiert sich der Film. Er hat uns Westlern dabei eine Enttäuschung voraus, er hat einen Sinn, eine Ideologie verloren. Die Ideologie in Winfried Junges Akzentuierung lautete etwa, der Aufbau des Sozialismus werde schwierig werden, nicht alles werde gelingen, aber, keine Angst, für jeden gebe es einen Platz. Mit 1989 gibt es nicht nur faktisch, sondern auch ideologisch für niemanden mehr einen Platz, für die Protagonisten nicht, für den Film nicht, auch für die Zuschauer nicht, es gibt bestenfalls befristete Stellen und ABM-Maßnahmen, es gibt nur noch Hetze und Hohlheit, und selbst da, wo zuvor gar keine tönenden Parteilosungen standen, steht nun z.B.: „Hier wächst Qualität für die Frische-Märkte von Reichelt“. Wenn Rüdiger Neumanns Zufallsfilme die äußere Schäbigkeit des Landes zeigen, zeigen die „Kinder von Golzow“ seine innere.

Samstag, 10.01.2015

Ein Mensch-Versuch

Der Regisseur schreibt an Tito: „Sehr geehrter Herr Präsident, ich wende mich an Sie mit der Bitte, mir in einem Fall zu helfen, in dem ich mir selbst nicht helfen kann.“ Wieder einmal sei einer seiner Filme verboten worden, diesmal habe es „Resni človek“ (Der General und der ernste Mensch; 1962) getroffen. „Jemandem gefalle ich nicht.“ Dabei sei sein Kurzfilm „scharf, modern, und ich schäme mich seiner nicht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Zeit finden, um ihn anzuschauen. Das ist umso wichtiger, da man mich beschuldigt, mit diesem Film hätte ich Sie beleidigen wollen.“ Dieser und andere Briefe von Vlado Kristl finden sich in dem erfrischenden Band Noch – immer nichts. Briefe und Zeichnungen. Herausgegeben von Wolfgang Jacobsen. Verbrecher Verlag. Kristls Briefe sind verspielt, kühn, traurig, prächtig, bunt. Das wunderschöne Buch bietet sie in farbigen Faksimiles, fein begleitet vom Herausgeber. Es wird am Dienstag, 13.1., im Fahimi, Berlin, Skalitzer Str. 133, 1. OG, ab 20:30 Uhr in der „Verbrecher Versammlung“ vorgestellt. Eintritt vier Euro.
Hier eine Besprechung von Dieter Wenk.

Freitag, 12.12.2014

Moral Authority

Yamanaka Sadao macht sich über die überkommenen Ehrbegriffe lustig. Heilige Versprechen werden gebrochen, alte Insignien gefälscht, aufgeblasene Würdenträger sind in Wahrheit krumme Hunde. Das könnte eine konservative Kritik sein, aber sie kommt von unten und erinnert deshalb wie von sehr ferne an Archilochos.

Irgendein Saier hat jetzt an meinem Schild seine Freude. Ich ließ ihn an einem Busch zurück; / tadellos war er gewiss, und ich tat es nicht gern. / Mich selbst aber hab‘ ich gerettet. Was kümmert mich jener Schild?

Es fehlt heute einer, der auf diese Weise David Cameron seine „moral authority“ um die Ohren haut, die doch immer andere (und nicht nur im waterboarding) ausbaden müssen.

Bei Yamanaka fragt ein verkommener Ronin einen stolzen Samurai, dem sein Messerchen gestohlen worden ist und der ob dieser Kastration den alten Regeln zufolge Harakiri begehen müsste: „Wie alt bist du? 53? Dann wird es doch höchste Zeit.“ Am Ende gibt es sowohl in Tange Sazen (1935) als auch in Kôchiyama Sôshun (1936) die western- oder gangsterfilmhafte Wendung, dass diejenigen abgesunkenen, verarmten, versoffenen Leute sich für eine Moral opfern, denen sie stets abgesprochen wird, dieselbe, die sich andere anmaßen, um ihr Ausbeuterregime zu decken. Vielleicht ist es aber gar nicht genau dieselbe Moral, sondern mehr ein menschliches (und deshalb spontanes) Können, das die Oberen behaupten und die Unteren tatsächlich besitzen. In Yamanakas bestem Film Ninjô kami fûsen (1937) wird diese Umkehrung sogar von Anfang an vollzogen. Es könnte sie einer romantisch nennen, ich nenne sie dialektisch.

Mittwoch, 15.10.2014

Phoenix

Als einer, der sich vom neueren deutschen Spielfilm nicht gerade verwöhnt fühlt, ging ich gestern mit sehr geringen Erwartungen in Phoenix von Christian Petzold (mit Harun Farocki) – und sah ein Meisterwerk. In einem Medium, das ganz auf Wiedererkennen abgestellt ist, die Verkennung zum Prinzip zu erheben, ist mehr als nur ein phantastischer Einfall. Es ließe sich eine Ästhetik darauf errichten – schon gut, ich tu’s ja nicht. Diese Ästhetik wäre jedenfalls wie eine Umkehrung von Althussers Ideologietheorie (mit der méconnaissance als Modus) und zugleich die der Hoffnungen, welche  Lévinas in den Widerstand des Gesichts („son refus d’être contenu“ usw.) gesetzt hat. Die Bilder sind außerdem bestechend. Es glaube doch bitte keiner, was ihm die Feuilletons darüber erzählen wollen, man schaue sich diesen Film einfach an.

Sonntag, 16.02.2014

Hinterwäldler

King Vidors Beyond the Forest (1949) kommt mir wie eine Fortsetzung von John Fords Doctor Bull (1933) vor. Hier wie da ein Kaff, das in einer trostlos gewordenen Vergangenheit verharrt, hier wie da untröstliche Frauen, die wegwollen, aber nicht wegkönnen, hier wie da der Zug, der in die Zukunft fährt („Chicago, Chicago, Chicago!“), aber den keine von ihnen besteigen darf, hier wie da ein Armenarzt, der die Stellung hält (bei Ford gespielt von Will Rogers, bei Vidor von Joseph Cotten).

Ein Unterschied besteht darin, dass es bei Ford schließlich einige doch noch in den Zug schaffen und bei Vidor am Schluss eine Leiche auf dem Bahnsteig liegt. Der zweite wesentliche Unterschied, der sich aus dem ersten unmittelbar ergibt, ist, dass an die Stelle von Fords meisterlich ausgeglichenem Stil ein grandios-manieristischer tritt, der an die Filme Sirks, inbesondere Written on the Wind, erinnert. Bette Davis verleiht ihrer Rolle bei Vidor eine ebenso triebhafte, selbstzerstörerische Kraft wie Dorothy Malone der ihren bei Sirk.

Der deutsche Verleihtitel Der Stachel des Bösen kann sich auf den Vorspruch zu Vidors Film berufen: „This is the story of evil …“ Ja, doch das Böse wird hier aus seiner Wurzel, als „Partikularwille“ (Schelling) entwickelt, es ist (tragische) Potentialität. Das heißt, die Frau, die Vidor zeigt, ist nicht ohne Grund böse, wird nicht ohne Grund zur Mörderin. Sie will sich ganz begreiflicherweise verwirklichen, aber kann es nicht. Beyond the Forest schildert gescheiterte Selbstverwirklichung. Es ist, recht verstanden, ein feministischer Film.

Noël Burch weist in seinem Buch De la beauté des latrines (L’Harmattan 2007), das mich überhaupt auf den Film aufmerksam gemacht hat, auf die Szene hin, in der eine neunfache Mutter, deren „Massenzucht“ Rosa Moline (Davis) gerade noch verspottet hat, über sie sagt, sie sei doch immer etwas Besonderes gewesen, „it’s hard on Rosa to be tied to a town like this“.

Burch arbeitet die feministische Lesart der Melodramen Vidors heraus: „In Beyond the Forest wird, wie schon in Duel in the Sun, die Unterdrückung der Frauen mit der der ‚Farbigen‘ in einen Zusammenhang gebracht.“ In Forest gibt es nämlich eine zweite Rebellin, es ist die indianische Hausangestellte der Molines, Jenny (Dona Drake), die Rosa fast aufs Haar gleicht. Sie hat nicht die geringste Lust auf ihren Putz- und Koch-Job und auf die Großtuerei der Dame des Hauses. Das Double Jenny deutet den tragischen Aufstand der Rosa materialistisch. „Sie macht sich lustig über die Rezepte, die Rosa aus Illustrierten ausgeschnitten hat, und ist überhaupt diejenige, die den Finger auf die Entfremdung Rosas legt.“ Diese Entfremdung äußert sich eben auch in kleinbürgerlichen Abstiegsängsten. Sie formen sich in einer alptraumhaften Passage aus, in der es Rosa, die ihren Mann, den Arzt, verlassen hat und endlich in Chicago ihr Glück machen will, in ein Elendsviertel verschlägt.

Jenny ist es aber wiederum, die der unglücklichen Mitkämpferin in deren Agonie beizustehen versucht. Dieser schockierende Schluss, aber auch die Bilder von den Flammen, die Tag und Nacht aus dem Sägewerk des Kaffs schlagen und Rosa nicht zur Ruhe kommen lassen, prägen sich tief ein (Kamera: Robert Burks).

Burch schreibt, dass die Luzidität dieses Meisterwerks sich nicht Vidor allein verdanken könne, der im selben Jahr The Fountainhead, „einen Film von trauriger Berühmtheit“, drehte. Ein Film wie Beyond the Forest  ist immer ein kollektives Werk. Leider vergisst Burch, an dieser Stelle Lenore J. Coffee zu erwähnen, die das Drehbuch schrieb, eine Überlebende jener frühen Zeit des Kinos, die noch von Frauen (als Produzentinnen, Regisseurinnen und Autorinnen) mitbestimmt war.

De la beauté des latrines ist eine polemische Abrechnung mit der herrschenden Kinogeschichtsschreibung, gerade auch der à la parisienne, die Burch mit wenigen Ausnahmen für maskulinistisch und bürgerlich hält (die Bevorzugung von Hawks scheint ihm da ebenso typisch wie die der Coens, von Lynch oder Tarantino). Er überzieht oft, auch frage ich mich, ob er sich immer die richtigen Gegner wählt (sein Titel bezieht sich auf die Autonomieästhetik von Théophile Gautier, der einmal schrieb, Kunst dürfe kein nützlicher Ort sein, denn der nützlichste Ort im Haus sei immer der Abort. Doch wer Gautiers Gedichte liest, etwa die Sammlung Émaux et Camées, wird sie eher elegant als elitär finden. Sie sind insofern nützliche Begleiter, oft liedhaft, durchaus populär). Dennoch ist Burchs Streitschrift höchst anregend, allein schon wegen solcher Analysen wie der der Melodramen von King Vidor.

Freitag, 19.06.2009

Amerika

François Bondy: „Wenden wir uns New York zu. Das war dein erster Kontakt mit Amerika.“
Romain Gary: „Es ist nahezu unmöglich, einen ersten Kontakt mit Amerika zu haben. Das ist vielleicht das einzige Land, das tatsächlich so ist, wie man es kennt, bevor man es betreten hat. Das erste, was dir auffällt, wenn du ankommst, ist, dass das amerikanische Kino das wahrste der Welt ist. Noch der schlechteste amerikanische Film ist wahrhaftig, er legt getreulich Zeugnis von den Vereinigten Staaten ab. Das gestaltet die Entdeckung Amerikas sehr schwierig. Dir bleibt nichts, als dich immerzu bestätigen zu lassen. Nimm irgendeinen amerikanischen Film, und jeder Fetzen des Filmstreifens ist vollgesogen mit Wirklichkeit, ganz gleich, wie banal und unwahrscheinlich das Ganze ausschaut. Amerika ist ein Film. Das ist ein Land, das Kino ist.“
(La nuit sera calme, Paris: Gallimard 1974, S. 118f.)


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