Donnerstag, 11.07.2002

Festrede.

von Harun Farocki

Der Filmbetrieb ist ein System wichtiger Menschen, ein Feudalismus, neu aufgeführt für Geld. Einige sind da wichtiger als andere. Ein Hoflieferant oder Friseur kann noch so viel zum Hofleben beitragen, er wird nie in den Rang der Herrschaften aufsteigen. Bei der Literatur gibt es das, daß der arme Dichter unter der Brücke verreckt, während die Literaturprofessoren im Bratenrock von seinen Zeilen wohlleben. Auch da gilt, daß der Primärtexterzeuger mehr gilt als der Sekundärtexterzeuger. Die ganze Sache mit primär und sekundär ist unhaltbar, und schon das gibt dieser Auszeichnung eine Wichtigkeit. Diese Subjekt-Objekt-Beziehung, wer wen?, auch in Umkehrung, hat eine unhaltbare Vorstellung von Handlung und Verursachung zur Grundlage. Das wurde schon im 19. Jahrhundert verworfen, vor den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über Relativität und Unschärfe. Schon da wurde kritisiert, daß die Syntax der Wortsprache die falsche Idee der Verursachung einschreibt, und so wird fast immer das Ausdruckssystem Film zur Anwendung gebracht. Statt X Subjekt von Y Objekt muß ein Ausdruck gefunden werden wie X in Beziehung zu Y. Dazu könnte der Film beitragen und ich glaube, bei Grafe und Patalas lesen gelernt zu haben, gelernt zu haben, in Filmen dieses Potential zu entdecken, gerade gegen die Hauptrichtung.

Für Texte über Film wird etwa so bezahlt wie für Gedichte. Man wird dem Filmkritiker, Filmschriftsteller, kaum je vorwerfen können, er mäste sich am Leibe, sauge das Blut des armen Filmregisseurs. Auch Regisseure, über die geschrieben wurde, verkommen, aber meist wird für deren abgelehnte Exposeprosa, noch mehr gezahlt als für Texte über Filme und Film. Texte gelten wenig beim Film, wenn sie nicht zum Produktionsgeld streben.
Vor zwei Jahren habe ich allerdings einen kurzen Film gesehen, den ein Regisseur, Chris Petit, über einen Kritiker, Manny Farber, gemacht hat. Wie Frieda Grafe ist Farber keine Institution, kein Kritiker, der ein Zahlpublikum mitschafft und auch keiner, der symbolische Münze prägt und ausgibt. Und in diesem Sommer sah ich einen langen Film, den Cozarinsky über Henri Langlois gemacht hat. Langlois sammelte Filme und führt sie vor, er programmierte, wie Enno Patalas. Es müßte eigentlich selbstverständlich sein, Filme aufzubewahren, ohne antiquarisch zu sein, und auch, Filme zu rekonstruieren, wie man das bei den Texten von Schriftstellern tut. Die Arbeit von Frieda Grafe wie von Enno Patalas wären ein Movie wert, und beider Arbeit ist, wie bei interessanten Bücher, eigentlich nicht in eine Bilderfolge zu bringen.
Am Ende dieses Films über Langlois gibt es eine Überraschung, auf einmal wird ein Rosebud gesucht und gefunden. Langlois habe als Kind etwas verloren, als Smyrna an die Türken fiel und niederbrannte und die Familie nach Frankreich zog. Das habe er mit dem Filmesammeln und Filmeretten ausgleichen wollen. Das erscheint nicht unschlüssig, weil mit den Bildern vom Untergang des griechischen Smyrna eine unangemessen süße Wehmut aufsteigt. Das kann Lust machen, nach anderen Bildern von anderen Verlusten zu suchen, bei denen einem ewig wird, was verloren, besonders, wenn man es nie gehabt hat. Der Kinofilm ist ein besonders schöner Verlustgegenstand. Schon die neue Kopie hat feine Kratzer, wenn man sie zur Vorführung gebracht hat, zuvor hat schon das Negativ gelitten als man eine Kopie davon zog. Man kommt zur Erhaltung um ein Umkopieren nicht herum. Wie die Lebenserinnerung aber ist die Bedeutungsschicht des Films an den Träger gebunden, der Transfer geht nicht ohne Verlust ab. Das gilt auch für das Schreiben über Film. Bachtin, auf den Frieda Grafe und Enno Patalas Nachdruck legten, ihm gelang es als Literaturwissenschaftler zum Helden seiner Erzählung zu werden, etwa so, wie „Ulysses“ eher als ein Buch von Joyce und nicht als Buch über Bloom verstanden wird. Wenn das wahr ist, daß man beim Lesen/Zuschauen besetzt, dann identifiziert man sich hier mit Helden, deren Gestalt so unvorstellbar ist wie die der Elementarteilchen.

1968 hat Frieda Grafe in einem kleinen Gegenmanifest ausgeführt, daß die russischen Linguisten die wirkliche geistige Revolution angestoßen hätten. Die Formalisten waren die einzige neue Denkrichtung, die der Kommunismus hervorbrachte. Untersuchungen zur Produktivkraft der Sprache/ des Denkens, das ist noch immer eine Inspiration für das Kino-Denken. Bachtin und andere wie Eichenbaum, Jakobsen, Lotman, Propp, Tynjanov oder Sklovskij, ihr Parallel- Umsturz-Versuch bestand darin, daß sie die Sprache sozialisieren wollten. So wie Marx ausführte, das Kapitel nähme die Menschen in Dienst, die Ausgebeuteten wie die Ausbeuter, so ist von den russischen Früh- oder Vorstrukturalisten herzuleiten, daß die Sprache die Texte produziert und die Autoren dazu in Dienst nimmt. Das ist nichts, was man ein für alle Male versteht, es erfordert permanente Umwälzung. Patalas hat einmal eine Sozialgeschichte der Stars geschrieben, die man vergegenwärtigen sollte, aber hauptsächlich haben Grafe und Patalas zu sogenannten Autorenfilmern geschrieben und solche Filme programmiert. Es kommt darauf an, gerade in diesem Gegensatz die Aufhebung des geistigen Eigentums aufzufassen. Die Entnennung kommt nicht ohne Namen aus. Man erreicht sie nicht mit einem koketten Gewaltakt, wie es Brecht versuchte, der die Identitäten in der Kalkgrube auslöschen wollte. An den Texten von Frieda Grafe ist zu erfahren, wie sie einen Film weder symptomatisch liest, was eine Art von Filmsoziologie wäre, noch als Besitztitel bewertet, als Investition ansagt oder absagt, was der geläufige höfische Filmklatsch wäre. In ihren Texten erscheint der Film für sich und sie setzt ihn nicht gegen das sonst Übliche ab, wie ich gerade ihr Schreiben. Ich setze das jetzt fort und komme auf einen Völkerkundler in dem Roman „Gorki-Park“, der aus Skelett-Funden Menschenfiguren rekonstruiert. Am Ende seiner Dienstzeit stellt sich heraus, daß alle Figuren ihm selbst gleichen. Sein Nachfolger ist ein Zwerg, der sich selbst Werktreue zuschreibt, weil er keinen Leib hat, der sich als Vorbild aufdrängen könnte, reiner Geist. Es kommt in dieser Erzählung darauf an, weder der eine noch der andere zu sein. Während Adorno, der Enno Patalas als Schüler reklamierte, schrieb, in den meisten Fällen wäre es schon eine Anmaßung, ‚Ich‘ zu sagen, besteht heute meistenfalls die Anmaßung darin, von sich zu sagen, man sei ein ‚Nicht-Ich‘ .

Die kommunistischen Parteien waren zu buchgläubig, um die Formalisten ertragen zu können. Foucault erzählt in einem Interview, noch in den 80erjahren sei es in Ungarn verboten gewesen, über drei Sachen zu reden: über Hitler, über Horthy und über den Strukturalismus, weil der auf die Formalisten zurückgehe; ein Feind, der im eigenen Lager geboren. Über Frankreich, wo die kommunistische Partei kaum Macht ausübte, außer auf Intellektuelle, nicht nur auf Sartre, auch auf Duras, kam es um 1970 zur Proklamation einer Filmlinguistik. Das war ein verspäteter Roter Zug, auf den Frieda Grafe und Enno Patalas nicht aufspringen wollten. In Deutschland, wo sich die Intellektuellen die Kommunistische Partei zur Selbstkasteiung eigens erfinden mußten, wurde viel die Brechtsche Radiotheorie zitiert, nach der alle Empfänger Sender werden sollten. Frieda Grafe schrieb, ein intelligenter Film schließe den Zuschauer ein, beim Empfang. Das traf. Ich dachte an einen Lehrstoff: ob das Licht sich mit Wellen oder Partikeln fortpflanze. In der Schule lernt man, weder Newton noch Huygens hätten recht gehabt, man müsse sich etwas zwischen den beiden Denk-Modellen vorstellen oder jenseits davon. Das sind die Sujets für den Film der Zukunft, die Sachverhalte, für die es kein Vorstellungsmodell gibt. Man kann die Relativitätstheorie nicht abbilden und auch nicht den tendenziellen Fall der Profitrate. Man kann auch die Liebe nicht zeigen, und dennoch gibt es Liebesfilme. Seit einem Jahrhundert bereitet sich das Kino, seit 50 Jahren das Fernsehen, mit Filmen über Liebe und Tod auf die großen Zukunftsaufgaben vor. Weder die Bachtin-Revolution noch die von Lenin ist bisher groß ins Kino gekommen. Der Film hat die Revolution nicht dargestellt, aber die Revolution hat sich im Film dargestellt, vor allem: als ausgebliebene.

Von der Revolution zurück zur Schulbank: als Frieda Grafe und Enno Patalas zur Schule gingen, gab es in den meisten Regionen nur einen Rundfunksender und nach den Wasserstandsmeldungen gegen Mittag eine Sendepause bis zum Schul-funk. Es galt als Sünde, bei Radiomusik Schularbeiten zu machen, ein paar Jahre später, in meiner Schulzeit, gab es schon Erhebungen, daß klassische Musik die Aufmerksamkeit nur zu 40% bindet, andere Musik aber zu 60. Für Grafe und Patalas kamen die Texte vor den Kinobildern. Vor den Kinobildern kam auch nicht die andere Musik, eine, die nicht nur die Schularbeiten erschwert, sondern die Hirnchemie verändert hat. Die Kinobilder mußten aus Frankreich kommen. Man kann erzählen, daß aus dem Stockwerk über der Studierstube von Grafe oder Patalas das Holzbein eines Kriegsheimkehrers zu hören war; aber für dieses Genre paßt besser, die Gegenwart von Nazizeit und Krieg damit zu bezeichnen, daß die Filme von Murnau oder Pabst oder Lang nach Frankreich geflüchtet oder dahin vertrieben waren.
Aus Frankreich kommt das Modell der Kinemathek und das der Filmzeitschrift. Auch daß ein Philosoph selbstverständlich das Kino kennen muß, kommt von daher. Im Deutschland der Zwanzigerjahre gab es die Verbindung von Avantgardekunst und Kino, Ruttmann oder Brecht, es schien eine Intelligenz neuen Typs zu entstehen. Kracauer war ein sehr früher Poptheoretiker. Daß das nach dem Krieg weg war, lag wohl nicht nur am Nazitum. Freud hat an den Träumen die Bilder wohl nicht gelten lassen, sie mußten in Sprache übersetzt werden, galten nicht einmal als beschriebene Bilder. Adorno schrieb, am Kino störten ihn nur die Bilder. Er hörte in der populären Kultur die Unterwerfung unter Unterdrückung und Verdinglichung, was man nicht einfach beiseitewischen kann.
Heute kann man sagen, daß die Pop-Revolution so unumkehrbare Folgen hatte wie die Französische. Auch die Geheimdienstler in Moskau, die sich durchrangen die Sowjetunion abzuschaffen, gehen darauf zurück. Was wir am meisten an der Arbeit von Enno Patalas beeindruckt hat, ist, daß er die große Kulturrevolution der Sechzigerjahre mitmachte, darin eine besondere Rolle fand. Es schien schon festzustehen, wie das geht: einen Film zu verstehen, als er mithalf, das wieder über den Haufen zu werfen. Es galt, die Verfremdung von Brecht und die von Warhol zusammenzudenken. Nicht zu versöhnen, eher absichtsvoll durcheinanderzuwerfen.

Harun Farocki, 23.11.00

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