Samstag, 03.05.2003

Einige frühe Filme von Yasujiro Ozu

Von Johannes Beringer

Dekigokoro (Flüchtige Versuchung), ein Stummfilm von 1933, der im Arbeiter- oder Taglöhnermilieu spielt, könnte man auch einen Film über die ‚Einfalt‘ nennen … Denn dieser Vater (Kihachi) ist ein rechter ‚Simpel‘, sein kleiner Sohn (Tomio) ist intelligenter als er, weil er lesen und schreiben kann. – Was bei den Texten im Kinemathek-Heft über Ozu (Nr. 94, Febr. 2003) nicht richtig rüberkommt, ist dieses Naturell Kihachis, wie Ozu ihn sieht und ‚hinstellt‘. (Ein Ungenügen wahrscheinlich auch der englisch untertitelten Zwischentitel.) Denn Ozu denunziert diese Figur, der er komödiantische Züge verleiht, in keiner Sekunde – im Gegenteil, er sieht Kihachi als wahren Menschen. (Mir fällt dazu dieser Paul Valéry-Satz – einer meiner liebsten – ein: „Le secret d’un homme d’esprit est moins secret que le secret d’un sot.“ / „Das Geheimnis eines Mannes von Geist ist weniger geheimnisvoll als das Geheimnis eines Dummkopfs.“)

Dazu zwei bezeichnende Szenen:
Der Junge kommt von der Schule zurück, wo er wegen seines Vaters gehänselt worden ist, und beginnt vor Zorn die Blätter von dem Bonsai, der zuhause in einem Topf steht, abzureissen. Als der Vater nach Hause kommt, sieht er den völlig entblätterten Bonsai, wird wütend, stellt den Jungen zur Rede und, als der nicht antwortet, teilt er Schläge aus … Die Situation droht zu eskalieren, denn der Junge beginnt sich zu wehren und schlägt zurück – bis der Vater innehält und, sitzend, die Schläge des Jungen über sich ergehen lässt: er hat plötzlich begriffen, dass er der Anlass dafür ist, dass Tomio von den Kindern gehänselt worden ist. Später gibt es dann ein Gespräch zwischen ihm und dem Jungen, wo er – nachdem er ihn erst bei seiner Schularbeit gestört hat – sich für seine ‚Dummheit‘ entschuldigt und der Junge sich ihm aufheulend an die Brust wirft.

Zweite Szene: Kihachi hat Tomio einen Batzen Geld gegeben, damit der sich mal was leisten könne … (aus eben diesem Schuldbewusstsein heraus, als Vater zu versagen). Dann wird Kihachi an der Arbeitsstelle benachrichtigt, er solle sofort nach Haus kommen, es sei was mit seinem Jungen – und der liegt in der Tat krank darnieder, er hat, wie sich herausstellt, zuviel Süssigkeiten in sich hineingestopft. Aber der Junge erholt sich nicht, sein Zustand wird im Gegenteil schlimmer – es muss ein Doktor gerufen werden und der kostet Geld. Jiro, der Arbeitskollege von Kihachi, und die junge Harue, in die er sich verliebt hat, sind anwesend. Als Harue sieht, wie Kihachi zu seinem kranken Jungen spricht – er könne doch nicht vor ihm sterben, zuerst sei er dran – wirft sie sich zu Boden, wird von Weinkrämpfen geschüttelt. Sie wird von ihren Gefühlen ‚übermannt‘, weil sie Kihachis wirkliches Naturell erkannt hat – hinter seiner äusserlichen Robustheit, seinen manchmal etwas rauhen Sitten, gibt es bei ihm noch immer dieses ‚Schlichte‘ und ‚Herzensgute‘. Ein ‚dummes So-sein‘ gegen alle Widerstände, in gewissem Masse unverwüstlich … Und eben zusätzlich rührend dadurch, dass Kihachis Einfalt wie ein Fremdkörper wirkt in der industrialisierten Welt. (Etwa so anzuschauen oder in der Welt stehend, wie ’naive‘ oder ‚zurückgebliebene‘ Völker in der Welt stehen.)

Sein äusseres Merkmal ist im übrigen, dass er sich immer dieses nasse Tüchlein auf den Kopf legt – das ist sein dürftiger Schutz vor der Welt. Einmal nimmt er sogar das Tuch von der Stirn des kranken Jungen und legt es sich selbst auf den Kopf, und am Ende, als er vom Boot springt, das ihn nach Hokkaido bringen soll, taucht er aus dem Flusswasser auf, winkt zurück und wringt als erstes das Kopftüchlein aus, um es an die gewohnte Stelle zu legen. Über dieser Einstellung – Kihachis Kopf mitten im Fluss – dann das Wort ‚Ende‘.

Diese Figur, Kihachi (immer gespielt von Takeshi Sakamoto), taucht auch in drei weiteren Stummfilmen auf (Ukikusa Monogatari, 1934, Hakoiri Musume, 1935, Tokyo No Yado, 1935) – aber man kann gerade nicht sagen, dass sie von Ozu typisiert worden wäre. Im Gegenteil: die erzählerische ‚Versuchsanordnung‘ ändert sich (während es allerdings eine ‚Resonanz‘ von ähnlichen Motiven gibt), dieselben Schauspieler haben es mit neuen Rollen in einer andern Umgebung zu tun. (Was sich jedoch bei Hakoiri Musume nicht verifizieren lässt, da Negativ und Kopien anscheinend verloren sind.) In Ukikusa Monogatari ist Kihachi der Leiter einer reisenden Theatergruppe (von Ozu erneut verfilmt 1959) und in Tokyo No Yado (Eine Herberge in Tokio) ist zwar die Handlung wieder in der untersten Gesellschaftsschicht angesiedelt – aber der Taglöhner Kihachi ist hier keineswegs derselbe wie in Dekigokoro. Man könnte also sagen: Ozu hat der Versuchung widerstanden, die Komik des zuerst geschaffenen Typs marktgängig zu machen – statt zu ‚typisieren‘ und die Figur auszuschlachten, hält er an seinem Realismuskonzept fest.

Tokyo No Yado erinnert vom Atmosphärischen her an Chaplins Hundeleben; Kihachi zieht hier, verelendet, mit seinen beiden kleinen Söhnen auf Arbeitssuche durch die Gegend – das heisst, durch die Randzonen von Tokio, Industriegebiete mit öden, staubigen Flächen, Silos und Fabriken. Dieser Kihachi ist kein ‚Simpel‘ mehr, sondern ein einfacher Arbeiter, der sich und seine zwei Kinder durchbringen muss. Ein bisschen Geld lässt sich nur auftreiben durch das Einfangen von streunenden Hunden. (Nicht mal die Hunde haben hier also ein Leben.) Weil dieses Geld kaum für den Tag reicht, lässt der Vater abstimmen (jedem Kind eine Stimme!), ob sie sich lieber Unterkunft oder Essen leisten wollen.

Am Ende landet Kihachi im Gefängnis, weil er für die junge Frau mit Kind, die sie unterwegs getroffen haben, einen Diebstahl begeht – nicht mitansehen kann, wie sie sich prostituiert, um die Krankenhauskosten für ihr krankes Kind zu bezahlen. Vorher, im Regen, haben sie Glück gehabt: Kihachi trifft zufällig Otsune (Choko Iida), die die drei beherbergt und sich um die Kinder kümmert, wenn der Vater zur Arbeit geht.

(Die Schauspielerin Choko Iida ist eine der Konstanten in Ozu-Filmen: fast vom Beginn seiner Karriere bis zum Ende ist sie immer wieder in kleineren und grösseren Rollen zu sehen – sie ist die ‚Normalhässliche‘, die zusehen muss, wie die Männer sich jungen Dingern zuwenden, während sie leer ausgeht; dafür ist sie dann – als ‚guter Geist‘ oder ‚gute Nachbarin‘ – immer da, wenn es nottut. In Ozus erstem Tonfilm, dem wunderbaren Hitori musuko / Der einzige Sohn von 1936, spielt sie die Hauptrolle der Mutter und in Nagaya shinshi-roku / Erzählungen eines Nachbarn von 1947 die der Witwe Otane, die einen heimatlosen Jungen bei sich aufnimmt und nach anfänglichen Widerständen ihre Gefühle für das Kind entdeckt.)

In Hitori Musuko (Der einzige Sohn, 1936) scheint der Realismus durch den Ton nochmal eine neue Dimension oder Wirklichkeitsebene zu bekommen. Der Lärm der Spinnmaschinen im grossen Fabriksaal in Shinshi, das Tag und Nacht anhaltende, maschinelle Geräusch in den Aussenbezirken von Tokio (das auch in den Schlaf dringt) erzeugen durch das Repetitive und Unaufhaltsame darin jene Art von Trost- und Ausweglosigkeit, wie sie wohl für das Leben der Arbeiter bestimmend ist.

Ein realistischer Film also über Illusion und Desillusion einer Arbeiterfrau. Das Opfer, das sie für ihren Sohn bringt, damit der studieren und ein ‚grosser Mann‘ werden kann, hat sich nicht gelohnt: als sie ihn endlich in Tokio besucht, muss sie erkennen, in welch ärmlichen Verhältnissen er lebt. (Wie auch sein Lehrer, der schon früher nach Tokio gegangen ist.)

Zurück in Shinshi, sieht man, dass sie in der Spinnerei nur noch Putzarbeiten macht: als sie sich eine Pause nimmt und sich draussen allein in die Sonne setzt, die Fabrikwand im Rücken, zeigt Ozu als letztes Bild das verriegelte Fabriktor.
(Ausführlicher zu diesem Film: Rüdiger Tomczak in ’shomingeki‘ Nr. 3, Winter 1996.)

Interessante Konstellation in Shukujo wa nani o wasuretaka (Was hat die Dame vergessen?, Japan 1937): die gestrenge Ehefrau des Uni-Professors, die auf Einhaltung der ‚Formel‘ ihres gehobenen Lebensstandards hält, erhält bei Ozu auch ihre Chance. Sie muss nicht in der Maske dieser Figur quasi erstarren, sondern darf wieder runterkommen von ihrem hohen Ross und Frau sein.

Schon in diesem Film gibt es eine von Ozus rebellierenden, modernen Setsukos: nämlich die Nichte von Komiya (dem Uni-Professor), die in Tokio zu Besuch ist und durch ihren Eigensinn und ihr burschikoses Wesen ständig Anstoss erregt bei Tokiko, der Gattin des Professors. Dieser ist ein ’schwacher Mensch‘, der statt zum Golf-Wochenende lieber zu den Geishas und ins Variété geht – was Setsuko herausfindet und unterstützt, wobei sie die ‚Trinkfeste‘ mimt. Als der Schwindel auffliegt und Tokiko die beiden zur Rede stellt, kommt es, nachdem die beiden anfänglich beharrlich geschwiegen haben, zu der Situation, dass Komiya die Hand ‚ausrutscht‘ und Tokiko eine Ohrfeige abbekommt. Danach die entscheidende Szene: erst setzt sich Setsuko zu Tokiko und entschuldigt sich bei ihr, dann kommt hinter dem Vorhang auch noch Komiya hervor, um zu sagen, dass ihm die Ohrfeige leid tue, sie solle ihm vergeben. Währenddessen sieht man förmlich, wie Tokiko wieder ‚aufblüht‘ und sich als Frau und Mensch ernstgenommen fühlt. (Der Film endet dann mit dem Lichterlöschen im Haus, bis hinten nur noch ein helles Rechteck zu sehen ist, in dem sich Intimes tut – Vorbereitungen anscheinend zu einer Nacht ehelicher Freuden.)

Wie ist es denn nun aber mit dem Herrschaftsprinzip in der Ehe? Setsuko findet, Komiya habe als Mann durchaus das Recht, sich durchzusetzen und sich ‚männlich‘ zu verhalten – der aber sagt ihr, er halte die Zügel gerade dadurch in der Hand, dass er nachgebe und seine Frau opponieren lasse. Das leuchtet Setsuko ein (so habe sie das noch nie gesehen, sagt sie) – und wendet das Prinzip dann gleich scherzhaft bei Okada, ihrem neuen Freund (dem Assistenten des Professors), als ‚Opposition gegen die Opposition‘ an.

Dieser Professor Komiya, wie Ozu ihn hier in den Mittelpunkt stellt, verhält sich im übrigen ziemlich ‚effeminiert‘: er streicht sich öfter mal gedankenverloren durchs Haar, sinnt vor sich hin und scheint ein bisschen entscheidungsschwach. Fast könnte man denken, er entziehe sich – und das in einer Zeit, in der militärisches Denken Staat und Gesellschaft bereits ganz erfasst hatte, Japan auf dem Festland Krieg führte.

Todake no kyodai (Die Geschwister der Familie Toda, Japan 1941). Der ‚feine‘ Bezug zur Zeit drückt sich hier darin aus, dass Mutter und Tochter nach dem Tod des Familienoberhaupts schlecht behandelt werden. Weil das Haus der Todas nicht mehr zu halten ist, müssen sie bei verheirateten Familienmitgliedern unterkommen – und das stellt sich jedesmal als schwierig bis unmöglich heraus. Als Shojiro (Shin Saburi), der unverheiratate zweite Sohn, aus China zum ersten Todestag des Vaters zurückkommt, stellt er die Versammelten zur Rede und hält ihnen ihr Verhalten Mutter und Schwester gegenüber vor. Ein Paar nach dem andern erhebt sich und verlässt brüskiert den Raum, nur ein Ehepaar bedauert sein Verhalten nachträglich.

Der Glanz, den Shojiro durch dieses unübliche und couragierte Verhalten um sein Haupt versammelt, wird von Ozu jedoch am Ende auf humorvolle Weise relativiert: als seine Schwester ihm eine gute Partie vorschlägt (am Anfang des Films hat er ihr geraten, auf ‚wohlgemeinte‘ Heiratsvorschläge nicht einzugehen) und die Gemeinte, eine Freundin, in der nächsten Einstellung auch schon im Garten der alten Villa am Meer steht, ergreift Shojiro erschreckt die Flucht. Das letzte Bild zeigt ihn dann laufend und zurückschauend, ob er nicht verfolgt werde, am Strand des bewegten Meeres – eines dieser schönen und leichten Ozu-Enden, die eher öffnen als schliessen.

In Chichi ariki (Es war einmal ein Vater / Er war mein Vater, Japan 1942) spielt Chishu Ryu seine erste tragende Rolle bei Ozu: und kaum je habe ich im Kino einen Schauspieler gesehen, der auf eine so real erscheinende Weise altert (die Lebensspanne geht von einem noch relativ jungen Mann bis zum Tod: sein Sohn besucht am Anfang die 6. Klasse, in den Schlußszenen ist dieser in seinen Zwanzigern).

Ozus ‚objektive Methode‘ bewährt sich auch während des Krieges: die Haltung, die er den Personen in diesem Film zuschreibt, könnte wirklich sehr viel zu tun haben mit dem Verhalten einfacher Leute in Japan zu diesem Zeitpunkt. Indem Ozu sich beschränkt – eigentlich nur dieses ‚Binnenverhältnis‘ zwischen Vater und Sohn inszeniert –, hat er doch schon etwas Übergreifendes miterfasst und charakterisiert. (Die ‚Geschichtsnatur‘ des Mensch formuliert sich naturgemäss auch körperlich: Gesten, Bewegungen, Verhalten, Sprechen sind gesellschaftlich und historisch geprägt oder, wie André Bazin sagt, schon dem Körper des Einzelnen eingeschrieben und abzulesen – er trägt diesen Ausdruck in sich und mit sich, was nicht heisst, dass er nicht gleichzeitig seinen je besonderen Ausdruck hätte, diese je besondere Person wäre. Aber je weniger er dieses Besondere hat, das Eigene kultiviert, desto grösser ist wohl auch die Gefahr, dass er völlig konform geht und sich ‚gleichschalten‘ lässt.)

Was Ozu in Chichi ariki stark hervortreten lässt, ist der ständige Appell des Vaters an das Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl des Sohnes. Der Vater selbst hat sich, nach einem Bootsunfall während eines Schulausflugs, vom Lehrerberuf zurückgezogen – er fühlte die Verantwortung für den Tod des Schülers zu schwer auf sich lasten. Jetzt spart er sich jeden Pfennig vom Mund ab, um den Jungen studieren zu lassen, damit ‚er es einmal besser habe‘. Aber noch auf dem Totenbett ermahnt er ihn, sich selbst in die Pflicht zu nehmen und rechtschaffen zu bleiben.

Die Schlüsselszene in Chichi ariki ist vielleicht die (noch ziemlich am Anfang des Films), als der kleine Junge sich im Internat darauf freut, die Sommerferien mit dem Vater verbringen zu können (fischend, am Fluss) und von diesem bei einem Besuch gesagt bekommt, das ginge nicht, er, der Vater, gehe nach Tokio, um dort mehr Geld zu verdienen. Das fast lautlose Weinen, das dann den Körper des Jungen schüttelt, sein heftiges Sich-Abwenden und Sich-and-die-Wand-stellen, als eine Bedienstete kommt (ihm ist natürlich gesagt worden, er solle nicht weinen, Jungen weinten nicht), weist auf jene Art von Untröstlichkeit hin, die aus seinem Leben nicht mehr verschwinden wird – diese Wunde oder Verwundung bleibt. Als Erwachsenen, der auch Lehrer geworden ist und die meiste Zeit von seinem Vater getrennt war, sieht man ihn dann mit diesem freundlichen, zugewandten Gesicht – jede Art von Heftigkeit oder Auflehnung scheint von ihm gewichen. Der Wunsch nach der Anwesenheit des Vaters, der auch nach dessen Ableben nicht nachlassen wird, hat sich in einem Mass verinnerlicht, dass in ihm nur noch ‚Zuvorkommenheit‘ und ‚Folgsamkeit‘ ist.

Es gilt das ‚Gesetz‘ des Vaters: solche Art von Vaterliebe und Pflichtbewusstsein (worin jene frühe Verletzung mündete) war tatsächlich tragende Säule des militärisch hochgerüsteten japanischen Staates und der Gesellschaft – von der Vater- zur Vaterlandsliebe ist nur ein Schritt. Den zu tun oder anzudeuten aber hält Ozu sich merklich zurück: nur einmal lässt er den Vater sagen „Denk an dein Land“.

*

Wenn es die Absicht (oder die Sehnsucht) vieler wirklicher Cineasten war, „das Leben und nichts als das Leben“ zu zeigen, so ist sicher Ozu einer derjenigen gewesen, die diesem Traum am nächsten gekommen sind. („Das Leben, ein Traum“, heisst es bei Calderón de la Barca.) Die Nahtstelle, die aufzutrennen und wiederzusammenzusetzen ist, ist die ‚menschliche Beziehung‘ (auch das französische Kino z.B. – Pialat! – handelt geradezu exzessiv von nichts anderem). Ozus ‚Millimeterarbeit‘ (D. Richie), d.h. seine Perfektion, müsste man nicht nur auf das Einrichten der jeweiligen Einstellung beziehen, sondern auch auf den Tonfall der Stimmen, die Richtigkeit der Gesten, die möglichst ökonomische und sinnvolle Abfolge der Handlung – die Konstruktion des ‚Gesamtleibs‘ des Films. Es geht darum, die vielen einzelnen Elemente so zusammenzufügen und zu verbinden, dass eine von Leben durchpulste Raumzeit entsteht – ein ‚Zeitraumstoff‘, der wie ein organischer Denk- und Empfindungsraum ist.

Ozu hat, behaupte ich, mit seiner Stilisierung den Alltagsgestus am genauesten erfasst. (Möge Frau Prof. Dr. Koch sagen, was sie will.) Es ist ja nicht getan damit, dass man die äussere Wirklichkeit aufnimmt – die Realität setzt sich zusammen aus inneren und äusseren Zuständen: Absenzen, leeren Stellen, Automatismen, Gewohnheiten, Träumereien, dem Einbruch eines äusseren Faktums ins Innere … dem mal trägen, mal beschleunigten Gang des Lebens. Mit der Fiktion (dem Drehbuch) schafft Ozu das Gerüst, um diese minimen, sonst kaum wahrgenommenen Gesten und Formen zur Darstellung zu bringen – die Handlung muss so nah am Alltag sein, dass er zu ’schweben‘ beginnt. Das wäre der Beweis dafür, dass die Vermittlung gelungen ist – das Innen sich im Aussen, das Aussen sich im Innen aufhebt. Dieses ‚Schweben‘ kann seiner Natur nach nichts Statisches sein – es wird vom Fluss des Lebens mitgenommen und getragen, muss sich im ‚Fliessenden‘ behaupten. Das Bild des ‚Schwimmens‘ (das Ludwig Hohl so teuer war) ist diesem Zustand wirklich ganz adäquat: sich den Elementen anvertrauen, die Bewegungen machen, die tragen, um dem Leben gerecht zu werden und am Leben zu bleiben.

Das Nächste, Gewohnteste ist das Unwahrscheinlichste (eben deswegen, weil es nah und gewohnt ist, am wenigsten wahrnehmbar): gerade das versucht Ozu aus seinen Akteuren herauszuholen oder in sie hineinzulegen – mitzuinszenieren. Bei ihm gibt es verschiedene Ebenen des Sprechens (was z.B. in Die Schwestern Munakata sich nur grob ausdrücken lässt durch normale und kursivierte Untertitel) – Nuancierungen im Lautlichen der Sprache, Weisen des Redens und Pronunzierens. Chisu Ryu’s zustimmendes, zugleich träge alltagsbestimmtes ‚Ja‘ (in Später Frühling), wenn seine Tochter ihm etwas berichtet – er hört es nur nebenbei, es gehen noch andere Gedanken in ihm um, die noch nicht reif sind, nach aussen zu treten. Andere Abstufungen von Lauten: fragend, abwartend, gleichgültig, zurückhaltend. Das momentane Reden wird immer auch mitbestimmt von Nichtgesagtem, Vorlaufendem, Nachlaufendem. Selten die Momente, in denen ‚es‘ zusammenkommt: eine Öffnung da ist, wo man sich offenbart, den innersten Gefühle freien Lauf lässt. (Das geht immer nur durch den Einbruch eines elementaren Erlebnisses – einen unwiederbringlichen Verlust … Das seltene Gespräch, das letzte Gespräch.)

Bei Ozu könnte man lernen, was Sprache – gesellschaftlich, menschheitsgeschichtlich – ist. Kaum einer hat wie er, zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor Kogo Noda, seine Drehbücher auf solche Sprach-Alltäglichkeit zugeschrieben und mit seinen Schauspielern eine so richtig erscheinende ‚Umsetzung‘ gefunden. Ja, der Sprachfluss, die japanische Art und Weise zu artikulieren, Wörter zu intonieren, das Klangliche einzusetzen, könnte man fast sagen, trägt die Filme selbst – oder trägt hindurch durch die Filme.

Sprache ist erstmal eine Konvention, damit man sich überhaupt verstehen kann – ihr Satzbau, ihre Worte, ihre Lautlichkeit sind kodiert. Sie ist zwar ein sehr nuanciertes Verständigungsmittel, aber sie hat auch ihre Grenzen (eben in ihren Konventionen), führt zu Missverständnissen und Unverständnis. Sie besteht ja nicht für sich, sondern drückt aus, was ‚darunter‘ ist – die Irrungen und Wirrungen des Lebens, den ganzen Seelen- und Gefühlshaushalt mit seiner Verletzlichkeit, seinen Schutz- und Abwehrmechanismen. Deshalb ist auch das Schweigen eine Äusserung der Sprache: das Nichts-Sagen kann sehr vielsagend sein. (Am deutlichsten bei den Kindern, die die Sprache verweigern. Und das ‚lastende Schweigen‘ in Tokyo Boshuku hat etwas Tödliches – verweist auf die ‚Schwärze‘ der Existenz.)

Sehr gefällt mir, dass Ozu vor allem die Frauen spielerischer und kommunikativer mit Sprache umgehen lässt. Das scheint in ihrem Wesen zu liegen: die zwei unverheiratenen Frauen (in Bakushu) necken die zwei verheirateten in dem Lokal, wo sie sich eingefunden haben, in einem ‚Spiel‘ von ablehnenden, sich selbst bestätigenden Lauten. Sie tun sich damit ihre gegenseitige Verbundenheit kund – und fast ist es, als würden die zwei, die sich in den ‚Ehezustand‘ entfernt haben, wieder in die Frauen- oder Freundinnen-Gemeinschaft zurückgeholt.

Ozu bleibt am Ort oder kehrt zu ihm zurück, lässt die Statik der Einstellungen unverrückt – gerade so wird sich das ‚Fliessende‘ besonders gut bemerkbar machen oder darstellen lassen. Die Zeit fliesst hindurch durch den Raum – was dann sowohl von den Protagonisten wie den Zuschauern als das Passagere, das Flüchtige des Lebens empfunden wird (in einem grösseren Zeitraum: Zerfall von alten Strukturen). Je intensiver dieses ‚Vergehen‘ empfunden wird, desto wertvoller der Moment.

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