Samstag, 05.07.2003

Der Autodidakt. Über Maurice Pialat

Von Johannes Beringer

Am 10. Januar 2003 ist Maurice Pialat im Alter von 77 Jahren gestorben. –
Einer, der durch die Art und Kraft seiner Filme eine Ausnahmestellung besetzte im Kino – ein ’schwieriger Charakter‘, wie man so sagt. Zehn Spielfilme in etwa 26 Jahren – und davon sechs, die unterbrochen werden mussten –: das zeigt schon, welche Auseinandersetzungen Pialat provozierte, welche Kämpfe er auszufechten hatte, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Das wurde sichtbar selbst dann noch, als er geehrt wurde: bei der Verleihung der ‚goldenen Palme‘ in Cannes (1987 für Sous le soleil de satan) reckte Pialat die Faust in die Höhe und rief dem Teil des Publikums, das ihn auspfiff, zu: „Ihr mögt mich nicht? Ich kann Euch versichern: Ich mag Euch auch nicht!“

Wenn man etwas mehr vom Naturell Pialats verstehen will, ist es gut, die Beilage zur Hand zu nehmen, die das pariser Stadtmagazin ‚les Inrockuptibles‘ zu seinem Andenken herausgegeben hat (No 372, Woche vom 15 – 21 Januar 2003). Darin sind abgedruckt die beiden Interviews, die Pialat der Zeitschrift gewährt hat, eine kommentierte Filmographie, Stellungnahmen von Mitarbeitern und Schauspielern, ein Interview mit Gérard Depardieu und drei Texte der Redaktion selbst: von Serge Kaganski etwa die Besprechung einer Biographie über Pialat und eine Beschreibung der ‚Affaire‘ der ja noch relativ jungen ‚Inrockuptibles‘-Redakteure mit Pialat.
Ende 1992, schreibt Kaganski, nachdem Van Gogh herausgekommen war, hätten sie Maurice Pialat eine schriftliche Anfrage nach einem Interview zukommen lassen, ohne grosse Hoffnung, dass er antworten würde – und zwei Stunden später habe er bei der Zeitschrift angerufen. Das vierstündige Interview am 21. Dezember 1992 sei ausserordentlich intensiv gewesen, voller Anekdoten, Gedankenbewegungen und heftigen Repliken – aber für eine Veröffentlichung dennoch ungenügend. Als sie sich am 23. erneut getroffen hätten, habe Pialat sie abgekanzelt wie schlechte Schüler: sie verhielten sich ihm gegenüber zu respektvoll, seien viel zu brav und höflich. Er habe alles annullieren und sie zum Teufel schicken wollen, aber nach wiederum vier Stunden hätten sie ihn in einem Zustand seltener Exaltation verlassen, mit dem Gefühl, wertvolles Material gesammelt und einen einzigartigen Menschen kennengelernt zu haben. Anschliessend aber habe Pialat ihnen förmlich verboten, das Interview zu publizieren – erst nach Monaten der Anfragen und Bitten, und nachdem Pialat die Transkription gesehen und um ein Drittel gekürzt habe, sei das Interview dann im Dezember 1993 erschienen.
Als 1995 Le Garçu herauskam, sagt Kaganski, hätten sie Pialat in seinem Haus in der Nähe von Toulouse besucht und dabei auch seine Lebensgefährtin Sylvie und seinen Sohn Antoine kennengelernt. Ein Interview mit Pialat habe jedoch nie dazu gedient, einen Film zu verkaufen, sondern sei immer ein wirkliches Gespräch und eine wirkliche Begegnung gewesen. Am Samstag vor seinem Tod habe die ‚Pialat-Familie‘ sich nochmal zu einem Essen versammelt, um Abschied zu nehmen – in einer Stimmung, die weder steif noch larmoyant, sondern voller Emotion und Würde gewesen sei: Erinnerungen, Lachen, das Entkorken von Flaschen habe den Raum erfüllt … „Ein wirklicher Moment von Leben, von laizistischer Kommunion, fast wie die Szene einer Mahlzeit aus einem Pialat-Film.“

Ganz anders der Schauspieler Jacques Dutronc: ihn erinnerte die eben beschriebene Szene an den Tod Van Goghs in der ersten Etage der Herberge, während unten ‚geschlemmt‘ wurde. (Was er ‚hart‘ oder gar ‚abstossend‘ findet.) Zu recht bringt Dutronc die ‚wütende Arbeitsweise‘ Pialats mit dessen Vergangenheit als Maler in Verbindung – wie für einen Maler sei für Pialat ein Film nie vollendet gewesen. Was auf eine künstlerische Unterströmung hinweist, von der – im Zeitalter der Vermarktung von allem und jedem – so gut wie nichts mehr gewusst wird: dass es weniger auf das ‚Werk‘, das Produkt, ankommt als auf die ‚Übung‘, die Creatio continua, den nicht abschliessbaren Lebens- und Schöpfungsprozess. (Eine solche ‚Umwertung‘ nimmt auch der Musiker und Komponist Rolf Looser in seinen nachgelassenen Schriften vor; das menschliche Bedürfnis nach abschliessender ‚Fertigstellung‘ von Werken aller Art hat für ihn mit dem dogmatisierten Schöpfungs-Mythos in der Religion zu tun und befördert damit auch den Kunstwerk-Fetischismus. § 15: ‚Wie stehen Kunstwerk und Kunstübung (Opus und Exerzitium) zueinander?‘)
Dutronc sagt, er habe sich während der Drehzeit von Van Gogh krank, wie unter Hypnose gefühlt: aber er erinnere sich an Pialats „schrecklichen Charme“, sein „unglaubliches Lächeln“, ja, an seine Schönheit, die ihm erlaubt habe, sich mit jedermann anzulegen und jeden oder jede zu beleidigen. „Er war besessen vom Augenblick der Wahrheit. Aber das Problem mit den Schauspielern ist, dass sie bezahlt werden, um zu lügen. Was also ist die Wahrheit bei einem Schauspieler? Er suchte anderswo.“

Pialat hasste das, was er ‚cinoche‘ nannte – das Kinoritual, die abgehobene Kinogeste, das Drehbuch aus ‚Beton‘, die Konventionen der Schauspielerei und der Dramaturgie. Seine ganze Haltung war darauf aus, mit Film, im Film das ‚Leben selbst‘ festzuhalten – mithin das, was dessen Unwahrscheinliches, Zufälliges, Flüchtiges, Nichtiges, Schönes ausmacht. Am Drehort bestand sein Bemühen, wie aus vielen Zeugnissen hervorgeht, darin, vor den Kopf zu stossen, zu destabilisieren, zu provozieren, um die Darsteller von ihrer Routine abzubringen, sie herauszufordern zu Leistungen, die sie anderswo und anderswie nicht erbracht hätten. Das geschah natürlich nicht nur auf dem Weg der Improvisation, sondern vor allem durch Erarbeitung – durch die Fiktion, die ans Leben rührt, durch Hindurch-Stossen und Wieder-Berühren. Das galt in gewissem Masse sicher schon für die Erarbeitung des Drehbuchs: Cathérine Breillat, die er für Police engagierte und die ganze Nächte auf Polizeikommissariaten verbrachte, forderte er auf, nicht zu erfinden, sondern ‚Realitätsblöcke‘ zu kopieren. Aber der eigentliche Augenblick der Wahrheit war natürlich der auf dem Plateau, am Filmset: dort musste der spontane ‚Lebenszugriff‘, mit welchen Mitteln auch immer, wieder erreicht werden. Vielleicht war Pialats instinktgeleitete, zugleich rüde und sanfte Arbeitsweise mit Schauspielern eine Art ‚Reinigung‘ – nicht wenige der Darsteller und Mitarbeiter, die ‚durchgeschüttelt‘ aus seinen Filmen kamen, blieben dadurch für immer geprägt, verdanken ihm einen Teil ihres Handwerks und ihrer Haltung. (Sandrine Bonnaire, die ihre erste Rolle in A nos amours, 1983, hatte; Gérard Depardieu, der 1980 den Loulou spielte, 1985 in Police, 1987 in Sous le soleil de Satan und 1995 in Le Garçu, Pialats letztem Film, Hauptrollen innehatte.)

Pialat hat seinen ersten langen Spielfilm mit 43 Jahren gemacht: Die nackte Kindheit – L’enfance nue (1968). Davor gibt es, in den 50er Jahren, einige Amateurfilme und in den 60er Jahren nicht wenige professionelle Kurzfilme – Dokumentarisches und Fiktives –, 1970/1 eine siebenteilige Arbeit fürs TV.
Pialat, der unter ‚kleinen Leuten‘, im ‚milieu populaire‘, grossgeworden ist (sein Vater betrieb verschiedene Geschäfte, machte Konkurs, war Auslieferer) fühlte sich immer in gewisser Weise ausgeschlossen – bedauerte, dass er kein Abitur gemacht hatte und studieren konnte. Ihm blieb der Weg des Autodidakten – aber in Frankreich, sagt er, gibt es den Terror der Uni: wer nicht durch sie hindurchgegangen sei, werde als ein ‚Nichts‘ betrachtet. Hinzu kam ja, dass er als Jugendlicher die Jahre der Okkupation miterlebte und sie als Schande begriff.
Pialat ist vorgeworfen worden, er könne nicht erzählen – Handke etwa hat das getan, in einem Interview mit den ‚Cahiers du cinéma‘ (zu Van Gogh): „Für mich ist Pialat meisterhaft, was die Szenen des Alltagslebens angeht (…), aber sobald es ans Erzählen geht, wird er ziemlich ungeschickt.“ – Genau in einer solchen Bemerkung drückt sich eine Differenz der Herkunft und des Standorts aus: ob man seine Kondition erzählerisch in einer ‚Geschichte‘ aufheben kann oder nicht. Wenn Pialat das nicht konnte, so vielleicht deswegen, weil er nicht Teil des kulturellen ‚Milieus‘ war und den gesellschaftlichen Konsens strikt verweigerte – seine Herkunft, sein Milieu verteidigte. (Genau darin lag auch sein lebenslanges Ressentiment gegen die Nouvelle Vague begründet.) Weshalb sollte er sich um ‚Erzählung‘ bemühen, wenn es ihm einzig darum ging, mit fast brutaler Aufrichtigkeit von Leuten zu berichten, deren Leben in Momente auseinanderfällt, die ständig auf sich selbst zurückgeworfen sind und an so etwas wie ‚Geschichte‘ nicht oder nur negativ teilhaben? Nur so, indem er diese ‚Momente‘ oder ‚Blöcke‘ für sich bestehen liess und im Film aneinanderfügte, konnte er auch die Brüche – aus dem grossen Steinbruch des Lebens – sichtbar machen.

(Erscheint in: shomingeki Nr. 13/14, Frühjahr/Sommer 2003.)

Das immer noch sehr lesenswerte März 1981-Heft der ‚Filmkritik‘ beschäftigt sich mit Maurice Pialat: Manfred Blank und Harun Farocki haben Pialat am 30. November 1980 in Würzburg interviewt und ausführliche Amerkungen zu seinen Filmen verfasst. Und im März-April 1984-Heft der ‚Filmkritik‘ gibt es eine ausführliche Rezension von Pialats A NOS AMOURS von Jörg Becker (‚Das Licht des Nordens‘).
Siehe auch das ‚Dossier: Maurice Pialat‘ in ‚Meteor‘ No 3, Wien 1996. (Daraus der Text ‚Offenes Geheimnis – Zu den Filmen von Maurice Pialat‘ von Bert Rebhandl.)

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