Sonntag, 30.11.2003

Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago

Regie: Heinrich Hauser, D 1931

Der Film kommt erst nach einer viertel Stunde bei seinem Gegenstand an. Er nimmt sich Zeit, kennt keine Eile.

„Aufgenommen von Heinrich Hauser“, heißt es nach der Titeleinblendung, und darin liegt bereits eine präzise Beschreibung seiner Haltung. Rezeption, verhaltenes Staunen des Berliners beim Blick auf die zweitgrösste amerikanische Stadt. Die Montage ist keine der gezielten Rhythmisierung, die sich zur Geschwindigkeit der Großstadt mimetisch oder konkurrierend verhalten würde, wie man es aus anderen Stadtfilmen der Zwanziger Jahre kennt. Zu keiner Zeit versucht Hauser, das städtische Geschehen seinen eigenen formalen Prinzipien unterzuordnen. Er beobachtet und registriert, setzt nicht etwa gemäss einer platt kulturkritischen Lesart ruhige Plansequenzen aus dem Chicagoer Umland gegen schnelle Schnittfolgen aus dem Zentrum. Eher lässt er sich mitnehmen von dem, was ihm ins Auge fällt, auch von Bewegungen, die schon da sind und dem Bild nicht durch Kameraschwenks oder Travellings hinzugefügt werden müssen. Dieses Sich-Lenken-Lassen markiert einen besonders auffälligen Unterschied zu Walter Ruttmanns Berlin-Film oder Dziga Vertovs „Mann mit der Kamera“ (die drei Filme erscheinen mit jeweils zwei Jahren Abstand 1927, 1929 und 1931). Wenn Ruttmanns Kameraleute (Karl Freund und andere) Berlin filmen oder Dziga Vertov / Mikhail Kaufman ihre Kameras auf Moskau, Kiew und Odessa richten und die Schauplätze zu einer einzigen Filmstadt amalgamieren, dann kann die Stadt wohl auch deshalb stärker zum formbaren Material werden, weil dabei keine große sprachliche oder geographische Distanz zu überbrücken ist. Man kann sich auf das Arrangement konzentrieren; das Abenteuer ist – zumindest zum Teil – vom Material auf die Verarbeitung des Materials übergegangen. Bei Hauser dagegen ist die Schwelle zwischen europäischer und amerikanischer Lebensweise als bildhaftes Staunen und zugleich als Reserviertheit gegenüber starken Montageeingriffen in die Bilder eingeflossen. Wo Ruttmann mit seinen abstrakten Filmen eher von der Mathematik und der formalen Berechnung her zum Bild kommt (daher ist der vermeintlich große Schritt von den Opus-Filmen hin zur „Sinfonie der Großstadt“ nur ein gradueller), ist der Weltumsegler und Fotograf Hauser stärker am Bild und seiner Komposition interessiert.

Die allererste Einstellung nach den Credits wirkt zunächst vorhersehbar: Über einer Straße, die sich in die Tiefe erstreckt, ist die niedrig stehende Sonne zu sehen. Rechts und links erkennt man Häuser im Dunst, in der Mitte bewegt sich die Straßenbahn. Es sind kaum Menschen unterwegs. Eine klassische Stadtfilm-Einstellung, ein fast allgemeingültiges, stark konventionalisiertes Bild: Die Stadt erwacht. (An die Stelle von über Figuren gesteuerte Erzählung tritt in Stadtfilmen oft der Rhythmus eines Tages; vom Aufwachen bis zum Einschlafen erscheint die Stadt dann als großer, anthropomorpher Körper.) Das Überraschende ist, dass es hier vorerst bei diesem einen, kurzen Moment bleibt; Chicago verschwindet sofort wieder, es ragt nur noch wie ein Traumbild in die folgenden Aufnahmen aus dem Umland hinüber: In die langen Passagen, die von der Stadt scheinbar nichts mehr wissen wollen, die ihr zunächst den Rücken kehren und sich dann erst ganz allmählich nähern. Über die Zufahrtswege zu Wasser, die Raddampfer auf dem Mississipi, die Baumwollfelder, die Logistik. Der Film nimmt das ruhig und mit einer Haltung auf, die auf Eigenständigkeit der Bilder bedacht ist. Die vorerst jedes für sich setzt, ohne dadurch die Zusammenhänge zwischen ihnen zu unterschlagen. Das Gleitende des Wassers, Drehbewegungen der Wasserräder und bewegliche Schattenwürfe scheinen Hausers Kamera – ich nehme an, er filmt selbst, jedenfalls verrät der Vorspann nichts anderes – mehr zu faszinieren als die Metropole selbst. Er will sich nicht entscheiden müssen, ob ihn das Bild interessiert oder das Abgebildete (und vielleicht interessiert ihn, zwischen beidem, als drittes im Übergang, das ABBILDEN am meisten). Später zeigt sich dann, dass auch die Wasserräder der Schiffe schon allegorisch für die Stadt stehen könnten. Man merkt das, als die Drehbewegung im Riesenrad des Rummelplatzes wieder aufgegriffen wird und damit Transport, Arbeit und Freizeit formal zusammengefügt werden. Chicago als Tretmühle, das wird hier eher beiläufig als Denkfigur eingeführt, so wie der Film auch sonst im Schnitt kaum einfache Metaphern produziert – bis auf eine Ausnahme, in der er dann besonders schwach wirkt: „Wracks“, sagt ein Zwischentitel, und dann wechseln sich Bilder von Schrottautos und Obdachlosen ab.

Es ist wahrscheinlich, dass Brecht den Film kannte. Schon „Im Dickicht der Städte“ spielt in Chicago, „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ ist kurz vor Hausers Film entstanden und ein Jahr nach ihm als Hörstück uraufgeführt worden, und im „Arturo Ui“ kommt er zehn Jahre später noch mal auf Chicago zurück. Über die Schlachthäuser, die Brecht besonders in der „heiligen Johanna“ interessiert haben, erfährt man allerdings wenig. Kann sein, dass Hauser dort nicht drehen durfte, vielleicht scheute er auch davor zurück, die Brutalität des Meat-Packing district direkt zu zeigen. Jedenfalls findet sich dort, wo eigentlich die maschinelle Zerteilung des Viehs zu sehen sein müsste, der überraschendste Schnitt des Films. „Der Weg der Tiere“ bereitet ein Zwischentitel auf die Passionsgeschichte vor, dann sieht man eine Herde Schafe zögerlich an der auf ihrer Höhe filmenden Kamera vorbeistolpern. Sie wissen nicht, was sie von dem Apparat halten sollen, der ihre Bewegungen registriert, sie wissen auch nicht, dass es wohl ihre letzten Bewegungen sind. Dann gibt es wieder einen Schnitt. Nicht ins Fleisch der Schafe, sondern in die Erwartungshaltung des Zuschauers, denn der nächste Zwischentitel sagt: „40 Minuten später“ und macht gleich den Konservendosen platz, die das Förderband in dichter Folge ausspuckt. Die Einstellung ist nicht auf Entlarvung oder Skandal aus, sie ist treffend darin, die Unsichtbarkeit des Prozesses abzubilden und den Zuschauer die 40 Minuten Grauen in den Schnitt hineindenken zu lassen. Das Schaf und die Dose in zwei Bilder und einen Insert zusammenzuziehen, in diesen Bildwitz ist beiläufig etwas von der Brutalität der Tierschlachtung eingegangen, zugleich auch von ihrer Effizienz. Und so wenig die Sektion der Tiere direkt in den Blick gerät, so wenig verfolgt der Film selbst das Ziel einer analytischen Sektion der Stadt.

Besucht hat Hauser auf seiner Reise sowohl die Schlachthäuser Chicagos als auch die Detroiter Fabriken Henry Fords. Und er hat beides zusammengebracht, das Zerteilen und das Zusammensetzen, die Tierschlachtung als negative Hohlform der Autoproduktion. In „Feldwege nach Chikago“, seinem Reisebericht, der im gleichen Jahr wie der Film erschien, ist die Faszination gegenüber der Automatisierung offenkundig. „Ich dachte an eine Messingstadt aus Tausendundeiner Nacht, als ich heranfuhr. Es bezauberte mich. Man gerät in ein ganz anderes Gefühl, in eine andere Dimension, schwer zu beschreiben. Von den vielen Fabriken, die ich gesehen habe, ist diese so verschieden, wie Gehen verschieden ist von Schweben.“ Vom Phantasmagorischen, Traumähnlichen, von der hypnotisierten Überraschung angesichts der Selbsttätigkeit der Maschinen zeugt im Film eine kurze Sequenz menschenleerer Förderbänder. „Wo ist der Mensch?“ fragt der Film dann, und hier hört man keine Moral heraus, eher Verblüffung.

Noch eine erstaunliche Passage: Nach einer Reihe von Straßenszenen, in denen vor allem Elend und Arbeitslosigkeit zu sehen sind, heißt es: „Hier findet Hollywood Stoff für Kriminalfälle“, dann folgen zwei kurze Einstellungen, die den Keim des potentiellen Hollywoodfilms gleich nachliefern. Zwei Männer in Schiebermütze unterhalten sich. Schnitt. Ein Juweliergeschäft. In diesen zwei Sekunden ist man unwillkürlich von der Dokumentation in die Fiktion gerutscht, besser gesagt: man hat gesehen, wie das eine schon immer im anderen angelegt ist. Man stutzt einen Augenblick und merkt, wie aus den zwei aufeinander folgenden nüchternen Bildern automatisch die Narration herausspringt, die Spannung und Dynamik des Gangsterfilms. Man ist damit zugleich aufmerksam gemacht worden auf das grundsätzlich Erzählerische im Abschildern. Sobald man ZWEI Bilder macht, ist das schon Erzählung, Potentialität.

Genau das ist hier zu sehen.

Volker Pantenburg

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