Donnerstag, 11.03.2004

Was Gewaltbilder berühren

Voller Emotion und Technik: „Deutschlandfilme“, Klaus Theweleits neues Buch.

Von Michael Girke

Klaus Theweleit ist, was Kafkas K. war, ein Landvermesser. Er aber erstellt Landkarten des Inneren. In seinem berühmten Buch Männerphantasien ist Faschismus weniger ein ökonomisches oder ideologisches Phänomen, viel mehr tragen psychische und körperliche Dispositionen zu seinem Erfolg bei. Wie man Kinder disziplinierte, drillte, seelisch verkrüppelte im preußischdeutschen Militärstaat; das von Frauenverachtung, Angst vor Frauen und Unterdrückung dominierte Verhältnis der Geschlechter im 19. Jahrhundert – all das lässt den allgewaltigen Verführer Hitler herabsinken zu einem von vielen furchtbaren deutschen Menschen.
Theweleits neues Buch, das sind drei Variationen über dasselbe Thema: Wie ausländische Regisseure Deutschland sehen. In Alfred Hitchcocks Torn Curtain reist Paul Newman in die DDR, mimt dort einen Überläufer, um eine geheime wissenschaftliche Formel auszuspionieren. Bekannt ist die Szene, in der Newman und Lotte Lenya einen Ostagenten mittels Spaten und Gasofen endlos lange töten – Hitchcocks Nachweis, dass Menschen nicht so sauber und schnell sterben, wie es das Kino immer hinstellt.
Die Kritik schätzt Torn Curtain nicht, er ist verbucht als Alterswerk eines stark nachlassenden Meisters. Weil die Schönheit des Kinos sich heute nur noch abseits der eingetretenen Pfade der offiziellen Filmkritik entdecken lässt, forscht Theweleit selbstständig. Angeregt von Frieda Grafes Wunder von Buch Filmfarben, es enthält eine Würdigung der weithin übersehenen Farbdramaturgie von Hitchcocks DDR-Film, fördert auch er vernachlässigte Eigenschaften von Hitchcocks Blick zutage.
Hitchcock sei „im tiefsten germanisch“ schrieb einst Jean Luc Godard, “der deutscheste aller Regisseure jenseits des Atlantik.“ Was heißt das? In den 20ern lernte Hitchcock in Berlin bei der UFA, war dort Art Director und Production Designer. In seiner langen Karriere bediente er sich sofort und virtuos jeder neuen Kinotechnik wie Ton oder Farbe. Er verstand es nicht aus der Mode zu kommen, blieb aber zugleich lebenslang ein Erbe F.W. Murnaus, ein Erbe des Stummfilms. Das Wesentliche in Hitchcockfilmen geschieht jenseits von Spielhandlung und gesprochenen Worten, ist visuell artikuliert. Dekors, Farben, Dinge wie Türen, Telefonhörer, Vorhänge sind bei ihm nie Symbole und dienen nie dem Spektakel; sie sind Handlungsträger, Indizien, geschichtliche Statements. Gasofen und Spaten aus der berühmten Mordszene, in Hitchcocks Perspektive sind das, zeigt Theweleit, spezifisch deutsche Tötungs- und Verdrängungsarten: Deutsche vergraben alles geschichtliche, auch im anderen Deutschland hat das nie aufgehört.
„Die größte Anstrengung der frühen BRD muss das Vergessen gewesen sein. Eine Anstrengung, ohne die das Land kaum wieder politische Eigenständigkeit und ein Selbstverständnis hätte gewinnen können. Ohne das Vergessen keine Gegenwart.“ Vergessen als deutsche Heldentat. Als Gründungsmythos. Tapfer und lobenswert, wie die hiesigen Kriegs- und Nachkriegsgenerationen auf jedes Gedächtnis, jedes Mitgefühl, jede Verantwortung verzichteten. Das Zitat ist aus diesem Jahr, aus dem FAZ-Feuilleton (FAZ 15.01.04). Was Hitchcock vor 40 Jahren gesehen hat, das schamlose Prinzip Spaten, die Kälte, die er aus seinen Deutschlandbildern kriechen ließ, es ist bis heute hier spürbar.

„Die beiden Dinge, die im 20. Jahrhundert am wenigsten geliebt wurden, waren die Geschichte und die Psychoanalyse. Die allgemeine und die eigene Geschichte.“ Ein Satz von Jean Luc Godard, dem man anhört, dass sich der Regisseur so erklärt, warum so wenige seine Filme schätzen.
1989 ist Godard in der DDR, um fürs französische TV einen Beitrag über die Einsamkeit zu drehen. Als die Mauer fällt, ändert er sein Thema. Er dreht Deutschland Neu(n) Null und nimmt mit seinem Film Fragen wieder auf, die Roberto Rosselinis Deutschland im Jahre Null 1946 stellte: Was passiert, wenn Deutschland von sich behauptet, es ändere und erneuere sich?
Godard denkt die Kamera in zwei Richtungen, sie dient nicht nur zur Aufnahme, sie ist auch ein Projektor. Mit ihr projiziert er, was bei ihm im Kopf sich abspielt. Man muss sich das vorstellen: Wo Deutschland sich 1989/90 allen Anschein eines Ortes mit blühender Zukunft gibt, da sieht Godard lauter seltsame Gestalten herumgeistern: Deutschland, das ist das Zusammentreffen des arbeitslosen Spions Lemmy Caution mit Don Quijote. Da fahren Trabbis auf Windmühlen zu. Da braucht nur ein Frauenname zu fallen, schon stellt sich auf unheimliche Weise Geschichte ein: Dora, deren Träume Freud deutete, um auf die Spur der weiblichen Hysterie zu kommen; Dora, die einzige, mit der Kafka eine kurze Zeit glücklich zusammenlebte; Mittelbau Dora, der Tunnel im Harz, in dem zehntausend KZ Häftlinge durch Arbeit am Bau der Nazi-V2-Raketen vernichtet wurden. Hegel, Thomas Mann, Mozart, Benjamin spielen in Deutschland Neu(n) Null natürlich ihre Rollen.
Wer das abtut als bildungsbeflissenes oder klassikergläubiges Raunen, der vergisst, dass Klassiker ein Etikett ist, dass ohne diese zu fragen, Menschen angehängt wird, die sich schreibend versuchten abzuarbeiten an Deutschland. Die an dessen Verwunschenheit litten, verrückt wurden, starben. Und dass es sich in sogenannten klassischen Stoffen um Erscheinungen wiederkehrender Probleme handelt: Woran klammern sich Menschen, wovon sind sie enttäuscht, was wünschen und woran zerbrechen sie? Warum misslingt das Leben so oft und so brutal im Laufe der Geschichte?
Godards Deutschlandfilm zeigt Geschichte nicht chronologisch, sondern montiert deutsche Motive. Viele werfen ihm Unverständlichkeit vor. In manchen, und das führt Theweleit sehr schön vor, lassen gerade Godard-Montagen vergrabene Erinnerungen, Gedanken, Zusammenhänge wieder auftauchen. Fühlt man sich nach einem Hollywoodfilm leicht und erlöst und wähnt sich auf der sicheren Seite, altert man während eines Godard um mindestens 400 Jahre. Das liegt daran, dass man sich selbst sieht, von außen, als teilnehmend an und verwickelt in Geschichte: Wer waren sie, wer wollen sie sein, diese Deutschen, was ist der Geisteszustand in ihrer Sphäre aus Technik, Romantik, Geld, Erfolgsphantasien und verdrängter Gewaltgeschichte? Warum gelingt die Liebe in diesem Land fast nie?
Theweleits Buch ist auch ein Nachdenken über Kinoliebe. Die von ihm verhandelten Regisseure – Hitchcock, Godard, Welles, Pasolini – sind Ausländer, gehören alten oder schon verblichenen Generationen an. Eine Auswahl als Vorwurf: In Deutschland macht man solche Geschichtsbilder nicht. Weil Filmbetrieb, Journalismus und Politik für nichts einen langen Atem haben, mauern sie das Kino in ihrer Tagesmoral ein. Theweleit schreibt nicht über Filme, er schreibt mit ihnen; Bilder und Sätze von Godard und Hitchcock sind strukturierend eingearbeitet in all seine Bücher. Er sieht diese Regisseure immer schon als Arbeiter an einer genaueren Wahrnehmung von Wirklichkeit, als Historiker. Mit anderen Worten: Es gibt keine alten Filme, es gibt Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit bei denen, die sie sehen.

Pier Paolo Pasolini verfilmt De Sade. Ein Regisseur, von dem man zu seiner Zeit nur Schlechtes erwartete und ein Autor, dessen Bücher, laut Maurice Blanchot, die Hölle der Bibliotheken sind. Dieser Konstellation, mit Pasolinis Film Salo Oder Die 120 Tage von Sodom realisiert, widmet sich das umfassendste Kapitel in Deutschlandfilme.
„Die Zeit existiert nicht; und da die Zeit nicht existiert, gibt es auch nicht einmal die Geschichte; es gibt nur eine ewige absolute Gegenwart, um es wissenschaftlich zu sagen“ (Pasolini, 1972, in einem Interview). Dies einzusehen fällt schwer, schon weil Pasolini heute sehr vergangen wirkt. In ihm aber findet Theweleit, der in Männerphantasien die Motivationen faschistischer Gewalt erforschte, jemanden, der dasselbe mit der Kamera gemacht hat.
De Sades Roman ist angelegt als Kompendium sexualisierter Gewalt der gesamten Menschheitsgeschichte, Pasolini erweitert dies in unsere moderne Zeit hinein. Dass die grausamsten und mörderischten unter den Menschen bei De Sade Spitzen der Gesellschaft, Herrscher und Männer sind, behält Pasolini bei. Eine ewige absolute Gegenwart hat das Foltern, Quälen und Morden von Menschen durch andere Menschen.
Was sichtbar wird in Salo, beschreibt Theweleit so: „Sie inszenieren Folterungen oder lassen sie vor Augen inszenieren, sie schauen, sie lachen: in einer schematisierten Bewegung fährt ihre Hand zur Hose – oder unter das, was sonst grad ihre Schwänze bedeckt; Denn: Nur Gewalt- oder Todesbilder führen zum angestrebten Abspritzen. Auf rabiate Verdeutlichung dieses Punktes steuert Pasolinis Inszenierung wieder und wieder zu. (…) Ein Herr Mengele aber im Kreis von Kollegen, ein Herr Himmler im Kreis seiner Obersten, die angesichts der Torturen zackig mit der Hand zum Schlitz ihrer Uniformhose fahren (oder unter den weißen Kittel), ihre Schwänze herausholen und sich einen Abwichsen, während vor ihren Augen jemand seinen letzten Tropfen Blut verspritzt, mit einem Foltereisen verbrannt oder in den Arsch gevögelt wird, bis alle Geister aus ihm weichen oder er oder sie Scheiße fressen muss, während ihr, einem 12 jährigen Mädchen, mitgeteilt wird, dass ihre Mutter nicht mehr lebt – diese Sorte fröhlicher Helden-Bagage ist nicht vorgesehen im westlichen Kulturverständnis, ist nicht vorgesehen im Theorierepertoire ‚seriöser’ Wissenschaftlichkeit, ob universitär oder außeruniversitär. Wenn überhaupt vorgesehen, ist die Behandlung dieses Zivilisationskomplexes delegiert an ‚die Kunst’. Insofern bei jemandem wie Pasolini an der richtigen Adresse. Aber vom Künstler eines gewissen Rangs erwartet man auch eine gewisse Schonung in diesem Punkt. Ein Verhältnis zum Gegenstand, das mit Wörtern wie Zurückhaltung und Grenzen des guten Geschmacks umschrieben wird. Genau diese Verbergungsakte wollte Pasolini unter keinen Umständen akzeptieren.“
Offensichtlich provozieren Pasolinis Bilder und Theweleits Worte das Publikum, greifen es an. Fordern auf, nicht automatisiert auf andere, andere Weltgegenden und Zeiten zu verweisen, wenn untersucht wird, was Menschen vom Betrachten der Leiden anderer haben.
„Zum erstenmal hat sich die Philosophie ganz offen als Projekt einer Krankheit verstanden“, schrieb Maurice Blanchot über De Sades Werk, „auch hierin liegt eine Stärke Sades. Man kann sagen, dass er seine eigene Analyse durchgeführt hat – schrieb er doch einen Text, in dem er alles verzeichnet, was seine Zwangsvorstellungen angeht.“
Pasolini kauft sich allabendlich Strichjungen. Liebe, befriedigend und dauerhaft, gelingt ihm nicht. Sein Leben ist ein ewiges Wiederholen unbefriedigender Akte. Mit Salo bearbeitet er auch den Gewaltanteil an seiner eigenen Sexualität; er sieht diese aber auch an als typisch italienisch, typisch europäisch, typisch männlich. Film ist für Pasolini eine, wenn nicht die einzige Möglichkeit, nicht verdrängend Wirklichkeit zu sehen.
Wer nur etwas von der neuen Zeit versteht, versteht auch davon nichts. Dass Europas Psyche viele schon in Altem Testament und griechischer Mythologie artikulierte Probleme nie bewältigte, will Pasolini erfahrbar machen. Als genau und gültig hebt Theweleit dessen filmische Erkundungen entschieden hervor. Heisst: Der Charakter der (faschistischen) Gewalt ist sexuell; sie bereitet Lust, verschafft Glücksgefühle und Befriedigung. Pasolinis Film, wie Theweleits Buch, haben kein Happy End. Mit ihnen vor Augen hat man einen Zugang zu Triebkräften des Wirklichen, die vorgeführt, nicht geleugnet werden. Das ist sehr viel.
Theweleit nennt Salo den einzigen Dokumentarfilm von KZ-Praktiken, den es bis heute gibt. Dies lesend hört man Film- und Medienwissenschaftler aufstöhnen. Weiß doch jedes postmoderne Kind: das so genannte Leben findet niemals direkten Eingang in Filme. Wir haben es immer mit Medien, Interfaces, Fiktionen zu tun. Ja, sagt Theweleit, aber sind fiktiv und realistisch nicht sprachliche Kategorien, mit denen man Filmen etwas andichtet, sie normiert? Regisseure haben zu allen Zeiten darauf hingewiesen: Film ist nicht Sprache! Gilles Deleuze, französischer Theoretiker, verbündet sich mit Pasolini und Godard. Er sagt, ihre Filme kopieren nicht Realität, machen aber durch individuell bestimmte Reorganisation bestimmte Züge der Vergangenheit nichtsprachlich einsichtig. Bilder sind mit Augen, Ohren, Sinnen gedacht. Sprache weckt bloß Phantasien.
Rezensieren verführt dazu, sich zum Spezialisten für Dinge zu halten, von denen man nicht viel versteht. Mir scheint aber: (Medien-)Wissenschaftliche Begriffe sind Zauberschilde, die gewisse Menschen schufen, um sich enttäuschende, lastende Realität vom Leib zu halten. Das hat das Leiden an den zerstörerischen Zügen dieser Realität übrigens kein bisschen verringert, vielleicht sogar vergrößert. Klaus Theweleit ist der einzige innerhalb Deutschlands lebende Mensch, der noch weiß, dass Kino politisch ist. Sie kam hier nie gut an, die analytische Kraft der Kinobilder, die bei der Erfassung des Wirklichen weiterreicht, als die Beiträge aus Akademien, Feuilletons und Sendeanstalten.

PS: „Weil die Gedanken und Formeln, die sich anbieten, um diese Filme eingängiger zu machen, den Autor 1981 mit in den Tod getrieben haben. Er ist auch das Opfer unserer leichtsinnigen Schreibereien“ (Frieda Grafe über den Regisseur Jean Eustache). Dass niemand glaubt, Filmkritik sei bloß schreiben, bloßes Schweben jenseits wirklicher Gewaltzusammenhängen.

[Dieser Text erscheint in einer gekürzten Version auch in der neuen Ausgabe des „Film-Dienst“.]

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