Sonntag, 21.03.2004

Zu Grandrieux (Sombre, 1999 / La vie nouvelle, 2002)

Von Johannes Beringer

Nachdem ich bei der Farocki-Gala im Zeughauskino (4.3.04) unvermutet Sombre von Philippe Grandrieux zu sehen bekam, fand ich den Text von Knörer zu La vie nouvelle hilfreich. Besonders auch durch den sprachlich-emotionalen Umschwung gegen Ende hin: „Mich aber lässt das kalt.“ Denn diese ‚Kehre‘ eröffnet auch etwas, macht zwei- oder mehrdimensional …

Die Worte, die sich mir bei Sombre aufdrängen, sind: Höllenfahrt, Teufelsaustreibung, filmischer Exorzismus … (Neben mir im Kino sassen drei Frauen, die, so schien es, Höllenqualen litten, fast von Anfang an aufbegehrten – aber sitzenblieben bis zum Schluss, ausser einer, die rausging. Ein Film vielleicht nur für Männer? Gibt es nicht auch Frauen, die den Teufel im Leib haben?)

Mit diesem Vokabular ist die religiöse Konnotation gegeben – und die möchte ich eigentlich vermeiden. ‚Der Teufel‘: das ist die rohe Begierde, der Trieb, das sexuelle Verlangen – und das ist nicht deshalb ’schlecht‘, weil es so archaisch ist, sondern weil Stammhirn und Zwischenhirn (mit den Grundtrieben) in einem avancierten und störanfälligen Regelkreis stehen mit dem Grosshirn (mit seiner Verbalstruktur, Abstraktivität). (Das wäre nachzulesen bei Hans F. Geyer, „Zur Kritik der neurophysiologischen Vernunft“.) Das Zerebrale ist auch aussen – das, was umgeht, gesellschaftlich, politisch, kulturell, materialisiert in dem, was um uns herum ist. Hitler, zweihundert Jahre früher: ein schwadronierender Depp (nicht mal ein Mini-Napoleon). Aber mit dem Stand von Wissenschaft und Technik heute: hochexplosiv.

Was ist denn die ‚Teufelsaustreibung‘? – Verfallenheit ans Archaische: siehe die Wasserszenen in Sombre, im Silber- und Goldglänzenden baden, die Einstellung, eine Totale, wo die menschliche Bestie in die Tiefe des Wassers schreitet – abgekehrt also, was wichtig ist. (Im Gruselfilm kommt sie aus dem Wasser.) Verfallenheit ans Heutige: die Disco-Szene … der Umschlag darin, vom ‚Dämonischen‘ ins ‚Normale‘. (Fand ich ziemlich phantastisch.) Zwischen diesen beiden Polen ginge es darum, so zu regeln (nicht: ‚auszutreiben‘), dass das Archaische gut aufgehoben ist, sich verträgt … einzustellen auf die zivilisatorisch erreichte Norm. Die entscheidende Szene, als in der Disco und danach (beim schnellen ‚Besäufnis‘) der andere Mann dazukommt, der den Totmacher anscheinend zähmt oder bezwingt … gewaltsam. Danach (später) scheint er zum erstenmal fähig, ‚Liebe zu machen‘. (Nicht so leicht auszumachen, bei diesem Kamera- und Tongeschwurbel.) Das heisst, die Frau, die noch Jungfrau ist, erreicht dies mit ihrer Zuwendung – obwohl sie um seine Gefährlichkeit weiss. („Il est vachement dangereux“, sagt sie in der Disco zum anderen Mann.) Das passiert wie auf des Messers Schneide – so genau weiss man nicht, ob der ‚Akt‘ gelingt. (Die Sozialisation, die Erziehung – die Kinder mit ihrem Angstlustgeschrei in der Vorstellung am Anfang … ) Vorher hat er sich mit dem Gesicht wie in den Schoss der Frauen vergraben – und weil dieses Zurück, dieser Akt nicht gelingt, sie umgebracht. (Reime ich mir zusammen.)

Der Film selbst ist auch auf des Messers Schneide – er macht sich ja den Terror seiner Hauptfigur (ein Wolfsmensch?) ästhetisch oder moralisch zu eigen, begibt sich auf eine filmische Höllenfahrt. Wobei der Grat eben schmal bleibt zwischen blossem Überwältigungskino und einem wirklichen Reinigungs- oder Läuterungsbad. (Früher mal Katharsis genannt. Oder kommt es darauf hier gar nicht an?) Jedenfalls hat mich dieses Purgatorium (wie Knörer) gerade auch in den hochgeputschtesten Szenen kaltgelassen – die ‚Erschütterung‘ über die Augen und das Gehör hat ein starkes Abstossungsmoment in sich, wenn es sich um Frauenmorde handelt. Während andrerseits es wieder Dinge gab, die ich fesselnd fand oder bei denen ich interessiert hinguckte. Die lange Fahrt am Ende, mit den campenden Zuschauern an der Bergstrecke, die auf das ‚Ereignis‘ warten (wohl die Tour de France) – keine Apotheose, sondern Kälte und Leere.

Dann scheint mir, ist der Film nicht zu trennen von einem bestimmten Stadium der Cinephilie in Frankreich, d.h. auf der Macherseite, also cineastisch. Mir kommt vor, ich hätte schon Ansätze dazu in früheren Filmen gesehen (welchen?) – solche, in denen das Wüste oder Fahrlässige (gegen das Etablierte gerichtet) zugelassen wurde. Aussenseiterbanden, die ein bisschen verkommen, aber natürlich nicht zurück in die Gesellschaft können. Wo sich die Dinge auch nach innen kehren. Oder bewusst aufrechterhaltenes Aussenseitertum, mit radikalen Entscheidungen, bewussten Abwendungen (etwa der schöne Pola X von Carax, nach Melvilles „Pierre ou les ambiguités“). Garrel … Artaud … Deleuze mit den von ihm so benannten „Mächten des Falschen“, die bei der Kreativität in der Kunst oder bei der Bildung des Selbst notwendig mobilisiert würden. „Jenseits von Wahr und Falsch enthüllt sich das Werden als eine Macht des Falschen“ (in Bd. 2 seines Kinobuchs, S. 352). Französischer Nietzschanismus. Das ‚Problem Syberberg‘.

Darin oder daraus kocht Grandrieux seinen psychophysischen ‚Terror‘, radikalisiert nochmal, auch ästhetisch (auf DV vermutlich). Wenn man nicht das Gefühl hätte, irgendwo hat er – heutig, gesellschaftlich – was erfasst, müsste man ihm (wie seinem Serienmörder) glatt eins vor den Latz knallen. Aber so …

*

Ich schlage Band 3 der ‚Werke‘ von Hans F. Geyer auf (weil dort die „Kritik der neurophysiologischen Vernunft“ drin ist) und sehe: ‚3. Wirkweise der Vernünftigung‘. „Die Vernünftigung als Prozess wirkt im Bereiche des Sensuell-Abstraktiven. Ihre Abstraktion ist nicht unsinnlich, denn sie beruht auf abstraktiver und zugleich auf sensueller Empfindung. Wenn ich etwas für die Menschheit tun soll, was mir die Pflicht gebietet, so kann ich es ohne Empfindung nicht tun, nicht ohne Neigung, wie Schiller gegen Kant sagen würde, nicht ohne Trieb, wie wir hinzufügen würden. …“ Man könnte zu Obigem das ganze Kapitel, das ganze Buch zititeren.

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