Mittwoch, 05.10.2005

Pop-Star mit Brille

von Harun Farocki

Ich sah Fassbinder, zunächst als Darsteller, das erste Mal 1969, auf einem Festival. Damals musste ich nicht einmal den Tod fürchten, die Welt würde sich bald so ändern, dass mir ein weiteres Leben bevorstand. Was ich jetzt lebte, war nur ein Vorleben, so wie die Kindheit nur eines gewesen war. Bei einer Versammlung der Eltern des Kindergartens, in den wir unsere Kinder schickten, sagte ein Vater-Genosse, eine gewisse Ordnungsfunktion der Polizei müsse man doch anerkennen; dass sie etwa die Kinder über die Strasse brächte, man müsse notwendige Ordnung und Unterdrückung auseinander halten.

Während Godard nach den Erschütterungen von 1968 nie wieder zu den Filmen zurückkehrte, die er, mit recht viel Erfolg, zuvor gemacht hatte, glich Fassbinder bald seine Filme dem an, was jedermann so unter einem Film versteht. Er gab die Plansequenzen auf und machte die Interaktion der Darsteller wieder zur Hauptsache. Die Kamera sah sich nicht auf dem Schauplatz selbstständig um, sie nahm bloss aus ein paar Richtungen das Spiel der Akteure auf, um das Material für eine Montage zu erzeugen, für die Akzentuierung des Darsteller-Spiels mit Schnitten. Auch Wenders enttäuschte, weil er bei seinem ersten grossen Film („Die Angst des Torwarts beim Elfmeter“) mit Schuss und Gegenschuss erzählte. Das war für mich ein Verrat an der Revolution. Da zeigte sich, dass die Menschen sich nicht darauf verlassen wollten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, sie gaben der – in Gedanken – schon demobilisierten Polizei die Uniform und die Waffen zurück. Bald würde es auch wieder eine Armee geben, mit einem etwas anderen Namen als zuvor.

Wenn ich einem politischen Freund oder Genossen zu erklären versuchte, dass es einen Zusammenhang von Filmform und Politik gab, kam ich damit nicht weit. Wie ein Film erzählte, mit was für Einstellungen, das war keinem wichtig, während doch bei der Musik der Sound so viel, oder alles, bedeutete. Viele, die an Adorno ihr Sprachvermögen geschult hatten, arbeiteten sich den Tag über mit Worten ab und benutzten am Abend das Kino, das Fernsehen, als Erholungsstätte. So wie die Fabrikarbeiter von ihrem Arbeitstag so erschöpft sind, dass sie am Abend nur noch Schund aufnehmen können sollen, waren sie vom politischen Denken und Sprechen – „Anstrengung des Begriffs“ – so erschöpft, dass sie nur noch einen Italo-Western sehen konnten – „Ermattung des Bildes“. Sie kamen gar nicht dazu, mich zu fragen, wie es denn mit Schuss und Gegenschuss bei den amerikanischen Regisseuren stand, die ich hochhielt. Ich hätte antworten können: Godard wie Straub beriefen sich auf Hawks oder Ford, machten aber Filme, die auf den ersten Blick damit kaum etwas zu tun hatten. Es ging um eine Essenz, nicht um die Syntax. Ich hatte von den Nouvelle-Vague-Autoren die kanonische Namensliste übernommen, auch ich versuchte, beim Anschauen etwas ganz anderes aus den Amerikanern zu machen. Ich sah so sehr von deren manifester Mitteilung ab, dass ich die Worte, die gesagt wurden, gänzlich überhörte und nicht auf den Ausdruck der Darsteller sah, eher auf den Raum zwischen den Filmfiguren.

Für Fassbinder nahm mich zunächst ein, dass er die Straubs in sein Theater eingeladen hatte und in dem Stück, das sie dort inszenierten und in ihren Film aufnahmen, mitspielen liessen. In „Liebe ist kälter als der Tod“ zitierte er eine Sequenz aus „Der Bräutigam, der Komödiant und der Zuhälter“ der Straubs, ein wunderbares langes Travelling über eine Strasse mit Prostituierten, die aber nicht ausgestellt werden, in der Mitte der Einstellung setzt Bach-Musik ein. Das ist ein starker Effekt. Auch Pasolini hatte schon Bach-Musik eingesetzt um eine Verbindung zwischen den ausgebeuteten Menschen heute und dem Jesusleiden herzustellen, auch er hatte die Musik mitten in der Szene beginnen lassen, sodass die Willkürlichkeit der Montage zu empfinden war. Bei den Straubs kam noch hinzu, dass der Film auf einer Bühne mit Darstellern beginnt, dann das Register wechselt und auf eine wirkliche Strasse ohne Darsteller springt. Und mit dieser Parallel-Verschiebung ist der Zusammenhang von Ausgebeuteten und Gottessohn deutlich Konstruktion, eine geometrische Übung, die auf Wahrheit und Schönheit in einem aus ist.

In „Katzelmacher“ gab es ein paar der Darsteller zu sehen, die in „Der Bräutigam…“ gespielt hatten, und es gab ein Godard-Zitat. Eine Frau gibt einer anderen einen Stapel mit Groschenheftchen zurück und liest eine besonders schöne Stelle vor. Die gleich Stelle, die in „Vivre sa vie“ eine Kollegin von Nana im Schallplattenladen vorliest: „Sein Blick war auf den türkisenen, mit Sternen übersäten Himmel gerichtet, als er sich mir zuwandte. ‚Alles an Ihnen verrät ein intensives Leben. Logischerweise müssten Sie…‘ Ich unterbrach ihn: ‚Sie messen der Logik viel zu viel Wichtigkeit und Einfluss zu.‘“

„Katzelmacher“ besteht nur aus Plansequenzen. Keine einzige Grossaufnahme, keine einzige Totale. Die Kamera bewegt sich nicht, mit einer Ausnahme. Ein halbes Dutzend mal gehen je zwei Personen über einen breiten Hof, die Kamera fährt dabei vor ihnen her, eine Klaviermusik ist bei diesen Travellings zu hören, die einzige Musik im Film. Diese Travellings enden so abrupt, dass manchmal der letzteTon nicht ausklingen kann. Diese Fahrten sind eine Art Refrain und sie machen vor allem deutlich, dass es auch in den Strophen keine wirkliche Bewegung gibt. Ich glaube, diese Erzählfigur, ein solches formalisiertes Travelling immer wieder, hat es im Kino noch nie gegeben. Immerfort scheint die Sonne, als wäre der Film an einem einzigen schönen Tag gedreht.

Männer und Frauen aus einer Nachbarschaft in München. Auf einem Hof versammeln sie sich, in wechselnder Besetzung stehen sie in einer Reihe an einem Geländer, das den Schacht zu einem Keller absperrt. Sie setzen sich auch auf das Geländer oder auf dessen Fundament. Sie nutzen anscheinend jede Gelegenheit, dort abzuhängen, wie Jugendliche, die nicht mit den Eltern in der Wohnung sein wollen. In den Wohnungen aber leben sie allein oder zu Paaren, ohne Eltern und ohne Kinder. Sie sind auch zusammen in der Gastwirtschaft, auch da in wechselnder Besetzung. Bei jedem Zusammensein sagt ein jeder kurze Sätze in einem Kunstbayrisch, wobei eigentümliche Wendungen, so die doppelte Negation, ausgestellt werden. Sie besprechen kaum etwas Faktisches, selbst das Faktische klingt bei ihnen wie eine Sentenz. Sie sprechen ständig kleine Lebensweisheiten aus. Die Männer sind hauptsächlich stumpf und haben einen Zug zum Kleingangster oder Zuhälter. Die Frauen sind auf das Schönsein und auf die Männer aus, sie tragen sehr kurze Mini-Röcke. Eine Frau hat etwas Vermögen und hält sich für etwas Besseres. Alle Schauplätze sind spärlich dekoriert, an den weissen Wänden ist meistens nichts. Die Kamera steht immer im rechten Winkel zur Rückwand, so wie es das in der frühen Kinematographie gab. Auch wenn eine Szene einmal in einem Auto spielt, bewegt sich dieses nicht ein Stück, das sieht noch künstlicher aus als ein Sessel oder Gastwirtschaftstisch, aufgenommen im rechten Winkel vor der Rückwand. Katzelmacher, von Fassbinder gespielt, ist ein Gastarbeiter aus Griechenland – die Deutschen sagen „Fremdarbeiter“, wie im Krieg, und halten ihn lange für einen Italiener. Sie reden schlecht von ihm und sind sich darin einig, ohne dass damit die Gehässigkeiten unter ihnen aufhörten. Sie reden schlecht über ihn auch wenn sie ihn zu einem Bier einladen, was er nicht versteht oder verstehen will. Als seine Zimmervermieterin mit ihrem Mann und dem „Griech aus Griechenland“ in die Gaststätte kommt, werden die drei von der Gruppe wieder vertrieben. Und als Katzelmacher einmal über den Hof geht und dort nur Männer stehen, fallen sie über ihn her und verprügeln ihn. Das bringt ihn nicht dazu, fortzuziehen. Und auch seine Wirtin schmeisst ihn nicht raus, weil sie ihm für ein Zimmer – dass er mit dem Ehemann teilen muss – 150 Mark zahlt. Das gibt den Ausschlag. Dass man den ausländischen Arbeitern soviel Geld abnehmen kann belegt, dass sie für die „Deutsche Wirtschaft“ von Nutzen sind.

Der Katzelmacher hat auch eine Liebschaft mit der Frau, die von Hanna Schygulla gespielt wird. Einmal sitzen sie zusammen auf einer Bank, und das sieht aus wie bei Stroheim. Das Sonnenlicht macht aus den Stadtpark-Bäumen einen Zauberwald. „Katzelmacher“ ist schon deshalb politischer als die meisten Filme dieser Zeit, weil er von Vielen ausgeht und nicht von einer Person oder einem Paar. Die ganze Nachbarschaft steht in Zusammenhang und die Liebe zum Gastarbeiter ist deshalb vom Gastarbeiter-Verprügeln nicht zu trennen.

„Warum läuft Herr R. Amok?“ sah ich damals im Fernsehen, in schwarz-weiss, weil wir noch keinen Farbfernseher hatten. Auch die Filme von Rohmer kannte ich nur von der schwarz-weissen Fernsehwiedergabe, so waren die Gegenstände und Menschen stärker konturiert und ein Blick in die Bäume (in „La Collectionneuse“) sah so zweckdienlich aus wie die Grossaufnahme eines Revolvers im Gangsterfilm.
Herr R. ist ein angepasster Mensch, zu Beginn des Films kommt er mit seinen Arbeitskollegen aus der Hintertür eines Häuserblocks in München, die Handkamera geht ihnen voraus. Die Kollegen erzählen Witze und R. schweigt dazu. Als sie um die Ecke des Hauses biegen, kommt ein Auto in den Hofweg gefahren, setzt wieder zurück. In diesem Augenblick wird deutlich, dass das Auto nicht zur Inszenierung gehörte und nur zufällig in die Einfahrt einbog, um zu wenden. Eine Einstellung, für die man nicht bezahlt, die man nicht offiziell macht, mit Polizei-Genehmigung und Absperrung, nennt man in der Branche eine „gestohlene Einstellung“. Alle Einstellungen in diesem Film über Herrn R. sehen gestohlen aus. Der Film behauptet, von ganz alltäglichen Menschen in gänzlich alltäglichen Situationen zu handeln. Aber R. und die Menschen um ihn, Familie, Freunde, Kollegen, sehen aus, als hätten sie sich ins Bild geschlichen. Fahren sie mit dem Auto, so ist zu erwarten, dass die Polizei den Wagen gleich anhält, und sitzen sie in der Gastwirtschaft, muss eigentlich die Wirtin gleich kommen und sie rausschmeissen.
Der Film will erzählen, behauptet zu erzählen, welchem Anpassungsdruck der Alltagsmensch in der Bundesrepublik unterworfen ist. Davon ist nichts zu glauben. Der Hauptdarsteller Kurt Raab sieht verkleidet aus, hat einen Anzug an wie zur Konfirmation und hat eine Frisur als habe ihm die Mutter die Haare gekämmt. Die Darsteller haben deutlich keine Erfahrung mit dem Erwachsenen-Leben, das sie da spielen und anklagen.
Eine Sequenz, die mir damals sehr gefiel, spielt am Arbeitsplatz von R., die Kamera schweift von ihm ab zu seinen Kollegen. Eine Frau schreibt auf der Maschine, ihr Klappern begleitet die ganze Szene, in der nicht gesprochen wird. Ein Bauzeichner ist zu sehen, der mit äußerster Akribie seine Zeichengeräte einrichtet und dann ein paar Bäume neben ein Gebäude setzt. Es geht um die Darstellung eines großen Wohnblocks und sicher soll auch dargestellt sein, dass die Sklavenarbeit des Zeichnens sich in der Sklavenexistenz in solchen Wohnblocks fortsetzt. Der Ordnungswahn regelt das Leben. Das Leben auf den rechteckigen Grundflächen kann nur ein überreglementiertes und überall gleiches sein – allerdings fasst auch eine Filmkamera jedes denk- oder erträumbares Bild in den gleichen rechteckigen Rahmen. Gegen die falsche Ordentlichkeit rebelliert der Film, indem er mit der Handkamera in Plansequenzen umherschweift und dabei vorgibt, er habe kein bestimmtest Ziel. Eigentlich ist jede Szene in diesem Film durchaus geeignet, zu einem Bild von R. und seiner Umgebung beizutragen, bei der Umsetzung aber schämt sich der Film zu sagen, was er sich zu sagen aufgetragen hat. Er fängt etwas an und nimmt es zurück.

Ich glaubte damals daran, dass alles ganz anders werden müsse, wenigstens im Film. Es gab zu Beginn der siebziger Jahre durchaus schon Filme, die versuchten, politische Positionen in die Alltagssprache des Kinos einzuführen. Von Entristen also, die ihre Filmpersonen etwas Fortschrittliches tun oder sagen ließen, während der Film so aussah wie jeder andere.

Stand ich an einem Morgen mit Flugblättern vor einem Fabriktor, meistens einem der Berliner Elektrowerke, nahm kaum eine der Frauen ein Blatt auch nur an. So erfuhren wir nicht, ob die Frauen – die meisten ungelernten und angelernten Arbeitskräfte waren weiblich – mit einem Wort wie „Entfremdung“, „Entsublimierung“, „tendenzieller Fall der Profitrate“ nichts anfangen konnten oder nicht wollten. Also wurden die Flugblätter umgeschrieben, in die vermeintliche Alltagserfahrung der Fabrik-Arbeiterinnen übersetzt. Und wie diese Umschreibungen kamen mir auch die neuen politischen Filme vor. Wie die Beispiele, die der Lehrer in der Schule gibt: eingekleidete Rechenaufgaben. Die Filmpersonen redeten und handelten, damit der Lehrstoff nicht trocken blieb. Eine klassenkämpferische oder feministische Haltung schrieb man den Filmpersonen natürlich auch in den Mund, damit sie wenigstens im Film so sprachen, wie wir uns das fürs Leben wünschten.

Der Film über Herrn R. musste mir schon deshalb damals gefallen, weil Fassbinder die Versöhnung von herkömmlichem Film und neuer Politik nicht erpressen wollte. Mit seiner Fernsehserie, „Acht Stunden sind kein Tag“ ist er dieser falschen Versöhnung nahe gekommen. In dieser Serie soll ständig der Beweis geführt werden, dass Arbeiter oder Hausfrauen auch Film- oder Fernsehhelden sein können. Wenn sie auf ihren Rechten bestehen und fortschrittlich sprechen, tun sie das in der gleichen Weise, in der die Figuren in „Katzelmacher“ ihre Ressentiments vortragen. Ihre Ansichten sind eingefleischt. Wenn Fassbinder bei den Szenen in der Fabrik die sprechenden Arbeiter mit Reiss-Schwenks verband, kam mir das nicht nur hässlich vor. Es kam mir vor wie eine offensiv gemachte Hilflosigkeit. Die Arbeiter riefen sich von Maschine zu Maschine etwas zu, wie man das in der Gastwirtschaft von Tisch zu Tisch tut. Die Maschinen wurden damit Gasthaustischen gleichgesetzt und es blieb aus dem Spiel, dass die Maschinen selbst die Arbeiter zu einander in Beziehung setzen. Jedenfalls die einzelnen so von einander trennt, dass Dialogworte diese Kluft nicht einfach überbrücken können.

Standen wir mit Flugblättern vor einer Fabrik, so wollten die Arbeiterinnen kein Blatt von uns haben, die Frauen aus den Büros aber gaben uns einen interessierten Blick. Mit unseren manifesten Botschaften drangen wir nicht durch, eher mit der Geste unseres Tuns. Wir scheiterten politisch und hatten kulturell Erfolg. Fassbinder beteiligte sich nie an der Werbung für einen neuen Lebensstil. Sein Erfolg aber trug zu unserem, zweifelhaftem, bei. Fassbinder hatte mit allem, was er tat, Erfolg. Selbst eine Fernsehserie über Arbeiter, in der von der Kollektivität oder wenigstens Massenhaftigkeit der Arbeiter-Existenz nichts zu finden ist, wurde ihm als Erfolg gutgeschrieben.

Die Intellektuellen in den USA begannen schon in den Siebzigern in Fassbinder den Autoren zu sehen, der die Gender-Fragen ansprach. In der Bundesrepublik war Fassbinder, zu Lebzeiten, etwas anderes. Die Bundesrepublik war nach dem Krieg schnell reich geworden und schämte sich etwas ihres neuen Reichtums. Nicht, weil es der Krieg gewesen war, der die industriellen Produktionsanlagen modernisiert und die Massenfertigung ermöglichte hatte. Das Sprechen vom Wirtschaftswunder war sich nicht bewusst, dass die industrielle Kapazität nach Kriegsende grösser gewesen war als vor dem Krieg. Scham wurde empfunden, weil man zwar Geld hatte, aber keine Lebensart.

Das begann sich nach 1970 zu ändern, nun gab es Kleidung aus Deutschland, die sich exportieren liess, und aus der Scham wurde ein Triumphieren. Es war mir schwer erträglich, dass der „Junge Deutsche Film“ in der Welt grosses Ansehen gewann und in der Bundesrepublik so getan wurde, als wäre er die Entsprechung zur Nouvelle Vague. Damit waren die Ansprüche der Nouvelle Vague zunichte gemacht.

Als Fassbinders vorletzter Film, „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ im Fernsehen gezeigt wurde, war mir schon die erste Szene unerträglich. Im Kino wird ein UFA- Film aus der Nazi-Zeit gezeigt und Fassbinder sitzt im Zuschauerraum und sieht sich das mit grossem Interesse, mit Bewunderung, an. Der Film ist in Schwarz-Weiss, die Titel und vor allem die Blenden sollen auf die fünfziger Jahre verweisen. Glücklicherweise spielt der Film sonst weniger auf das Kino der Fünfziger in der Bundesrepublik als auf das aus den USA an. Der Film soll in München spielen, aber es drehen sich so viele Ventilatoren als spielte die Geschichte in den Südstaaten. In den Fünfzigern waren die Südstaaten in der Bundesrepublik durch Tennessee Williams gegenwärtig. In seinen Stücken kamen Homosexualität, Impotenz, Frigidität vor, ohne dass diese Worte ausgesprochen wurden. Sexualität erschien in diesen Filmen wie ein entlegenes historisches Ereignis, wie die Königs-Kriege in den Shakespeare-Dramen.

Die Grundidee zu „Veronika Voss“ ist rasant. Eine Nervenärztin verschreibt ihren Patienten Drogen und lässt sich das teuer bezahlen. Sie presst ihre Kunden aus, sie müssen ihr alles Eigentum überschreiben und wenn sie nichts mehr haben, bleibt ihnen nur noch die Selbst-Tötung mittels Drogen, womit das Testament wirksam wird. Der Film erzählt als Nebenstrang wie ein altes jüdisches Ehepaar von der Ärztin um Antiquitäten und Haus gebracht wird und sich das Leben nimmt. Der Mann zeigt einmal die Tätowierung vor, er ist im Lager gewesen. In der Bundesrepublik werden die Juden enteignet wie vor der Deportation. Dahinter steckt keine staatliche Stelle, es gibt nur einen korrupten Beamten bei der Gesundheitsbehörde, der den Drogenhandel deckt. Es geht dem Film darum, dass man mit Drogen Träume verkauft. Der Drogenhandel gehört zur Traum-Fabrikation, wie das Kino. Die besitzgierige Ärztin, zu deren Entourage auch ein dicker GI gehört, der stets US-Schlager summt, wohnt in einer Wohnung aus reinem Weiss, das blendet wie der Schnee. Der Haushalt der Ärztin, ihr Küchen-Kabinett ist eine Verächtlichmachung der deutschen Kino-Industrie.

Auch Veronika Voss ist süchtig – weil ihr Starruhm nicht anhält. Weil ihre grosse Zeit – die mit der der Nazis zusammenfiel – vorbei ist. Sie war am Handel mit der Droge Kino beteiligt und ist dabei selbst süchtig geworden. Sie stirbt daran. Das ist heroischer als Überleben und Geschäfte-Machen – so charakterisiert der Film die Kino-Industrie und die Bundesrepublik im Ganzen.

Die Darstellerin der Veronika Voss, Rosl Zech, hat Szenen zu spielen, in denen sie taumelt, weil ihr die Droge fehlt, und sie verpatzt aus dem gleichen Grund eine Filmszene – aus Gnade hat man ihr einen Drehtag gegeben. Wenn sie das Drogenabhängigsein zu spielen hat, tut sie das mit Minen und Bewegungen, die zum Repertoire des hysterischen Stars gehören, zu dem sie sich stilisiert hat. Schlimmer ist, wenn die Männer um sie herum Betrunkene spielen. Um Rückblenden als solche zu kennzeichnen, wird ein Filter benutzt, der jedes Licht im Bild zu einem strahlenden Stern vergrössert – ein Effekt aus dem Revue-Film. Eine solche Kennzeichnung fehlt für die Droge – die Droge bleibt eine Leerstelle. Die Droge wird nicht ins Bild gesetzt, ansonsten ist der Film voller Effekte. Wenn der alternde UFA-Star zu Beginn des Films einen Sport-Reporter kennenlernt und beide zusammen eine Fahrt in der Strassenbahn unternehmen, gehen hinter den Fensterscheiben der Bahn ganze Wasserstürze nieder. Solche Übertreibungen sind damit begründet, dass der Fassbinder-Film auf das Kino der fünfziger Jahre anspielt, als das Erbe des UFA-Films noch lebendig war und es den Mut gab zu etwas grösserem als dem Leben. Fassbinder hat grosses Vergnügen daran, mit den Effekt-Maschinen des Kinos umzugehen und führt die Effekte eher vor, als dass er sich ihrer bedient. Wenn eine Strassenbahn, die zwischen den Bavaria-Studios und München verkehrt, in vielen Einstellungen geboten wird, in denen grosse Wasser an den Fenstern vorbeistürzen, ist das ein Beweis für die Tatsächlichkeit der Strassenbahn und ein Schein-Beweis für die Rekonstruktion der historischen Zeit, in der der Film spielt. Wenn der Erzählapparat so sehr über einen Schauplatz gebietet, muss er sich doch in diese Zeit gänzlich versetzt haben. So gelingt Fassbinder ein Sprung in die Vergangenheit ohne all zu viel Historisieren. Gerade indem er nicht behauptet, die Welt die er zeige, ginge neben dem gezeigten Ausschnitt ebenso weiter.

Während die Bilder in vielen Fassbinder-Filmen wurschtig waren – sind sie hier sehr genau, und manche sind betörend schön. Viele sind der Konstruktion des Sets eingeschrieben. Selbst wenn einiges an der Virtuosität angeberisch ist, ist das eine sympathische Angeberei. Vielleicht, weil Fassbinder das alles nicht so wichtig war, weil es ihm eigentlich nur auf ein paar Blick-Beziehungen ankam.

Nach seinen ersten Filmen gab Fassbinder die Plan-Sequenzen auf suchte nach Gelegenheiten, das Anschauen oder Angeschaut-Werden in Szene zu setzen. Nach Augenblicken, in denen der Blick den Worten eigentlich nicht viel hinzufügen kann, und doch gewagt wird. Das Pathos dieser Augenblicke war stark und dafür verzieh man Fassbinder, dass seine Filme so vieles verweigerten. Keine Gewalt und kein Sex, auch die Schönheit eher behauptet als bewiesen.
Dass Fassbinder mit solchen Filmen ein internationaler Star werden konnte war kaum wahrscheinlich. So unwahrscheinlich wie dass eine Pop-Sängerin mit Brille in die Charts kommt.

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[Dieser Text ist zuerst in französischer Übersetzung erschienen in: Trafic, Revue du cinéma, Nr.55, Automne 2005.]

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