Dienstag, 13.01.2009

Innen / Außen

Das Kino und seine Umgebungen: 1963

In der Vorlesung vom 2. Dezember 1978 – in diesem Semester wird es um „Die Metapher des Labyrinths“ gehen – lässt Roland Barthes eine Aufzählung möglicher Erscheinungsweisen des Labyrinths so enden: „Und vor allem das Gänsespiel: um 1650 entstanden; Spielfigur kommt per accidentia voran (Würfel): Feld 42, sehr gefährlich: Haus des Labyrinths.“ (1). Es ist nur eine Vermutung, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Jacques Rivette im Hörsaal des Collège de France gesessen hat und sich, wenn er das Spiel nicht ohnehin kannte, zwei oder drei Stichworte in sein Notizbuch gemacht hat. Wenig später dreht er den labyrinthischen Film LE PONT DU NORD, der auf der Prämisse basiert, den Stadplan von Paris als das Spielbrett eines gigantischen Gänsespiels zu interpretieren. Bulle und Pascal Ogier bewegen sich durch die Stadt wie Figuren, die eine Ahnung von den möglichen Spielregeln bekommen, denen sie ihre Bewegungen folgen lassen könnten; zugleich erratisch und systematisch, geplant ungeplant. Aus Brachen, Baustellen und Lücken werden Spielfelder, und immer mal wieder erkennen die beiden im öffentlichen Raum Zahlen, die als Bezeichnungen eines bestimmten Spielfelds aufgefasst werden können.

Barthes am Collège de France, Rivette im Kino; ein Beispiel für die Berührung von Theorie und Filmpraxis, die Frankreich in besonderem Maße kennzeichnet. Das erinnert daran, dass innerhalb der Cahiers 1963 ein Richtungsstreit stattfand, der im Kern das Verhältnis zwischen dem, was sich gerade formierte und formulierte (und später dann jenseits des Atlantiks „Theory“ genannt werden sollte) – Strukturalismus, post-hermeneutische Lektürepraktiken, die emphatische Ausdehnung des Textbegriffs – und den Zuständigkeiten einer Filmzeitschrift betraf. Man würde hinter die theoretischen Postulate von damals zurückzufallen, wenn man die Auseinandersetzung auf zwei Figuren reduzierte, aber in der personalen Zuspitzung war dieser Streit zugleich eine Auseinandersetzung zwischen Eric Rohmer und Jacques Rivette. Antoine de Baecques lesenswerte Geschichte der franzöischen Cinéphilie zwischen 1944 und 1968 (2) widmet diesem Streit knapp 50 Seiten. Das Kapitel heißt „Le passage au moderne“, die Zuspitzung dieses Konflikts ist martialischer „Le bataille du moderne“ überschrieben.

Worum geht es? Rohmer steht 1963 (zusammen mit Jean Douchet und einigen anderen) für die Position, den publizistischen Zuständigkeitsbereich der Cahiers auf das Kino und die Künste beschränken zu wollen; man neigt dazu, diese Position als konservativ zu bezeichnen (jedenfalls, wenn man vergisst, dass „konservativ“ und „progressiv“ nur als relationale Begriffe, bezogen auf einen historischen Zeitpunkt und einen genauer definierten Ort, Sinn machen).

Rivette dagegen steht für die euphorische Öffnung der Zeitschrift hin zum aktuellen Kino. Vor allem aber steht er für den Blick hinüber auf die Geistes- und Sozialwissenschaften. Oder sagen wir: auf deren teils noch para-akademischen Randzonen, an denen sich das abspielt, was Barthes später „das semiologische Abenteuer“ genannt hat. Die Ereignisse und Eindrücke, die Rivette zu dieser Ausweitung des Blicks provozieren, ja, vielleicht kann man sagen: die Erschütterungen, auf die Rivette mit der Filmzeitschrift seismographisch reagieren möchte, gehen nicht primär vom Kino aus. Sicher, es sind auch Filme, etwa die Godards, aber es sind vor allem die Jackson Pollock-Ausstellung 1959, die von Mark Rothko 1962 oder die Pariser Retrospektiven von Max Ernst und Dubuffet. Es sind Bücher wie Foucaults Raymond Roussel und Barthes’ Sur Racine. Es sind die musikalischen Interpretationen von Pierre Boulez und eine Inszenierung von Schönbergs „Moses und Aron“.

Im Juni 1963 eskaliert der Streit zwischen Rohmer und den Klassizisten einerseits und Rivette und den Modernisten andererseits. Jede der beiden Fraktionen bereitet für den kommenden Monat eine eigene Ausgabe vor; die Nummer 145 wird in zwei Versionen geplant, als Rohmer- und als Rivetteausgabe. Das Herzstück der Rohmerausgabe soll ein langer Artikel über die Biographie Jean Renoirs über seinen Vater Auguste sein – gewissermaßen eine Herleitung der Kunst aus der Kunst. Im Zentrum von Rivettes Ausgabe steht unter anderem ein manifestartiger Text über Godards LES CARABINIERS. Einmal verbringt Rohmer eine Nacht im Pyjama in den Redaktionsräumen, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. (Das Kino muss etwas Besonderes gewesen sein, wenn man dafür im Schlafrock unter dem Redaktionstisch campiert). Ich mache es kurz, man kann es bei de Baeque in aller Ausführlichkeit nachlesen – Rivette setzt sich durch, Rohmer verlässt zusammen mit einigen anderen die Redaktion, was für uns den Vorteil hat, dass er von nun ab mehr Zeit und Energie in seine Filme stecken kann (glücklicherweise ist der Bruch kein endgültiger; in Rivettes OUT 1 tritt Rohmer neben einigen anderen Hauptfiguren der Auseinandersetzung in einer wunderbaren Rolle als gelehrter Balzac-Experte auf).

Dass sich Rivette durchsetzt, ist an den Heften des folgenden Jahres abzulesen: Gemeinsam mit Michel Delahaye, der wegen seiner Körpergröße und Theorieaffinität den schönen Spitznamen „Le grand syntagme vert“ („das große grüne Syntagma“ – ich nehme an, er trug regelmäßig einen grünen Pullover) bekommen hatte, führt Rivette ein langes Gespräch mit Roland Barthes (1963), wenig später auch eines mit Claude Lévi-Strauss (1964). (3)

Interessant ist das, weil Lévi-Strauss, gecastet als Kronzeuge der modernistischen Öffnung, eine scheinbar unmoderne, regressive Position vertritt. Er beginnt das Gespräch mit der Beobachtung, dass sich „die Filme“ zur Zeit vom „Kino“ zu trennen begännen. Er meint das nicht räumlich, sondern in dem Sinn, dass man sich jetzt, 1963, immer stärker für einzelne Filmemacher und einzelne Filme interessiere, während für ihn die ungeteilte Begeisterung – so interpretiere ich es – für das Kino als Ganzes das Entscheidende war. Er bezieht sich vor allem auf seine Zeit in den USA und auf die Praxis, bei den Gängen durch die Stadt spontan in irgendein Kino zu gehen. Etwas lief immer, und diese ununterschiedene, nicht diskrimimierende Lust auf das Kino machte den Reiz aus. In Levi-Strauss’ Auffassung ist das Kino wie ein Bad, in das man eintaucht, eine körperlich-somatische mindestens ebenso sehr wie eine intellektuelle Erfahrung („Säle mit – entschuldigen Sie, daß ich mich bei Details aufhalte – sehr bequemen Sesseln“). Auf dieser Linie liegt auch seine Invektive gegen das seinerzeit moderne, aufgeklärt-selbstreflexive Kino: „Das Neuartige des Films der letzten Jahre“, so Lévi-Strauss, „besteht meines Erachtens darin, daß er über sich selbst nachdenkt, sich auf die eine oder andere Weise also orientieren will. Durch die bloße Tatsache des Kinobesuchs wird der Zuschauer verpflichtet, er muß, anerkennend oder ablehnend, Stellung nehmen.“ Rivette und Delahaye haken nach: „Selbst das Kino ist also, um in der Sprache Jean Paulhans zu sprechen, in die Herrschaft des ‚Terrors’ geraten…“ – „So ist es. Und ich möchte hinzufügen, daß die Art und Weise, wie das Kino sich ‚politisiert’, störend ist. Ich frage mich beispielsweise manchmal, ob die Stellungnahmen der jungen Filmemacher nicht Folge einer Verkennung – oder willentlichen Ablehnung – der Unterschiede sind, die zwischen dem kinematographischen Ausdruck und dem anderer Künste bestehen. Ich will das erläutern: wenn ich ein Buch erhalte oder eines kaufe, so bleibt es mir überlassen, dem Buch die meinem Interesse entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen. Ich kann die erste und die letzte Seite betrachten und es anschließend weglegen, ich kann es auch, wie man so sagt, ‚diagonal’ lesen – und diese Lektüre kann, je nach Belieben, zehn Minuten, eine halbe Stunde oder eine Stunde dauern… sofern ich nicht ganze Tage, Wochen oder gar Monate darauf verwende.
Im Kino wird mir diese Freiheit verweigert. Ich sitze in der Falle. Sobald ich den Saal betrete, bin ich für eineinhalb Stunden ein Gefangener. Dieser Sachverhalt sollte eigentlich das Privileg ausschließen, das gewisse heutige Filmemacher sich gewähren, indem sie filmisch das anfertigen, was im Bereich der Literatur oder der Malerei dem Entwurf oder der Skizze entspricht. Die Natur des Films (gleiches gilt übrigens für musikalische Aufführungen) impliziert, verlangt nach vollendeten, ja scheuen wir uns nicht des Ausdrucks, ausgefeilten Werken.“

Eine hübsch ironische (oder dialektische?) Volte: Lévi-Strauss, der als einer der Kronzeugen der modernistischen Öffnung des Kinos in Richtung Diskurs auftreten soll, vertritt eine beinahe klassizistische Position, die das Kino auf seine eigenen Gesetze verpflichtet und einem Teil der internationalen modernistischen Kinematographie ein launig-vernichtendes Zeugnis ausstellt. „Nichts ist ärgerlicher als ein Film von Bergman, welcher der Rembrandt des Kinos sein will“; „[I]ch weiß, daß ich gegen den Geist der Cahiers du Cinéma verstoße, wenn ich sage, daß ich die Filme von Godard überhaupt nicht mag.“ (Gefallen haben ihm dagegen PICNIC von Joshua Logan und THE MAGNIFICENT SEVEN von John Sturges.)

1963 vertrat Rivette eine Renegatenposition, als er das Kino mit Lévi-Strauss oder Barthes beschreiben wollte. Er verließ das Kino, um von den anderen Denkformen her auf diese Praxis blicken zu können. Das war auch als Therapie gedacht gegen die Wucherungen einer etwas autistisch geratenen Cinephilie, die stellenweise zum bloßen Abspannauswendigkönnen geronnen war.

Rohmer dagegen hatte den Impuls, in den Formen des Kinos selbst oder, etwas weiter gefasst, in den künstlerischen Artikulationsformen ein Reservoir zu erkennen, das längst nicht ausgeschöpft ist. Die Konzentration auf diesen Bereich schien ihm das aussichtsreichste Rezept, um das Kino voranzubringen. Rivettes Öffnung wirkt wie eine progressive Geste, Rohmers Gedanke wie ein protektionistischer Akt. Aber es gibt eine Rückseite dieses Arguments: Öffnung kann Zerstreuung bedeuten, und in der Begrenzung kann eine Konzentration liegen (das Zentrifugale und das Zentripetale, beides sind Kräfte und Energien). Man müsste also von heute aus fragen, wo die Hinwendung zu Struktur, Fragment, Differenz, die sich 1963 abzeichnet, 45 Jahre später gelandet ist. Eine mögliche (vielleicht falsche?) Antwort ist: Was als riskanter gegeninstitutioneller und polemischer Akt, als ein Angriff auf akademisch formatiertes Denken begann, ist inzwischen im ödesten, abgegriffensten, akademischsten Jargon versickert. Wer 1963 „Syntagma“ sagte, setzte etwas aufs Spiel und betrat einigermaßen ungesichertes Gelände. Wer 2008 „Zeit-Bild“ sagt, weiß (aber auf eine weniger delirante Art als Deleuze selbst) oft nicht, was er meint (außer, dass er oder sie „Deleuze“ meint). Vom Abenteuer ist die Rhetorik des Abenteuers übriggeblieben.

Oder liegt dieser Gegenüberstellung eine prinzipiell falsche Denkfigur zugrunde? Enthält vielleicht das Kino – ein Container, der so ziemlich alles aneignen, deformieren, aufbewahren, kann – in seinen besten Momenten immer auch so viele Elemente seiner eigenen Umgebung, dass es nur bedingt Sinn macht, vom Kino und seinen Umgebungen zu sprechen?

Dann wäre die Differenz zwischen „Kino“ und „Umgebung“ am Gegenstand vorbei formuliert.

***

(1) Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978-1979 und 1979-1980, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 192. (zurück)

(2) Antoine de Baeque: La Cinéphilie, invention d’un regard, histoire d’une culture, 1944-1968, Paris: Fayard 2003. (zurück)

(3) Beide Gespräche wurden von Hanns Zischler 1977 für die FILMKRITIK übersetzt (Heft 4/1977, S. 175-195). (zurück)

– Volker Pantenburg –

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