Samstag, 21.08.2010

Oberhausennotizen


Beim Fotografen, Österreich 1907, 50 m, 3′, 35mm/sw, Produktion: Saturn, Archiv: Filmarchiv Austria

Links im Bild der Fotograf. Es ist der Wiener Johannes Schwarz, im Katalog der 56. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen steht, dass er die Marktnische füllte, die 1907 enstand, als Pathé die »Produktion der pikanten Szenen für Herrenabende« einstellte. Jetzt, wo ich das Bild länger betrachte, auf meinem Computerbildschirm, meine ich eine Ähnlichkeit zu sehen mit dem US-amerikanischen Pornofilmdarsteller Ron Jeremy. Da links, die gedrungene, wuschelige, agile Gestalt mit den langen Armen. Da schaut er raus aus dem Bild. Er hüpft sonst dauernd durch die Szene, mal hier mal dort im Bild, mal in der Handlung, mal wieder aus der Handlung heraus. Um alles wird immer viel Aufhebens gemacht. Das Schlüpfrige soll mit dem Jovialen, dessen beider Stellvertreter der Fotograf ist, in ein aushaltbares Gleichgewicht gebracht werden. Vom Absichtsvollen dieser Bemühung werde ich schließlich verlegen. Im Kino in Oberhausen Ende April, Anfang Mai war mir die Ähnlichkeit des Mannes von 1907 mit dem Pornofilmdarsteller nicht eingefallen. Seine rechte Hand sieht man hier auf dem Bild nur verwischt, sie zappelt zwischen dem Fotoapparat neben und dem Zuschauerraum vor ihr. Das Fotostudio ist eine Bühne. Alles, was in dem Rahmen geschieht, ist gut zu erkennen. Trotzdem weiß ich nie genau, wie ich den Film anschauen soll. Ich bleibe verlegen. Den Film erinnere ich als zappeligen. Eine kleine schlüpfrige Begebenheit aus der Fotografen-Halbwelt, halbseiden schelmisch vorgetragen, ein junges Ding, das sich ziert, anzüglich fotografiert zu werden und ersetzt wird von einer anderen, hier ist sie schon im Bild, die zeigt, wie’s geht, Fächer hinterm Kopf, Hüfte vor, Brust raus. Sah man einmal ihren Busen? Beim Gucken dachte ich zuerst, dass zum Schluss das junge Ding der erfahrenen Frau nacheifern wird und sich die Handlung schließt, eine hat was gelernt und die Zuschauer waren dabei bei diesem Fortschritt, beim Vor- und beim Nachher. Aber das junge Ding verschwand einfach aus dem Film. Der Film begnügte sich mit dem einfachen Vergleich: Die eine wagt es nicht, die andere schon. Der Film sagt nicht: Erst wagt es die eine nicht, dann zeigt’s ihr die andere, und dann kann’s die erste schließlich doch noch. Was der Mann im Bildhintergrund vor der Frau zu suchen hatte? Ein lichtmachender Claqueur? Im Katalog steht: ein »begieriger« Klient. Der ganze Raum muss ständig bespielt sein in dem Film, was machte, dass mir das Geschehen überfüllt und gedrängt vorkam, obwohl man doch alles gut sieht. Überall geschieht was. Überall ist was zu sehen. Sessel, Büsten, Lüster, Hintergründe, Bilder an der Wand. Dass der Mann im Vordergrund auf das Geschehen im Hintergrund weist mit seiner Hand, macht die Sache nicht einfacher. Alle zur gleichen Zeit machen sich bemerkbar. Dauernd schwappt es, aber es bordet doch nicht über. Kaum ahne ich, was meine Aufmerksamkeit fesseln soll in dem Film, ist er schon vorbei.


Coeur ardent, Frankreich 1912, 263 m, 15′, 35 mm, Farbe, Regie: Jean Durand, Produktion: Gaumont, Archiv: EYE Film Instituut Nederland

Das Bild ist aus dem Film »Coeur ardent«, ein französischer Western. Wie es in Deutschland die »Isar-Western« gab, so in Frankreich die der Camargue. An dem Film mochte ich die Mischung aus Windigkeit und Ernsthaftigkeit und die Farben, die man hier nicht sieht. Die aquarellenen Farben, horizontal laufen sie aus. Weil die Landschaft so längsstreifig eben ist, ist die Streifendecke schön mit ihr verbunden. Die Streifen an der Decke des alten Mannes mit dem Stock links im Bild. Der Wind macht die Decke flattern und die Falten im Zelt links sich heben und senken. Die schwere Gravur der Gesten in dieser Szene hier muss man sich mit der schön unaufregenden, sachlichen Flüchtigkeit vom Rest des Films zusammengebracht vorstellen. Jene herrscht in den anderen Bildern. Wilde Ritte auf Pferden, Kämpfe zwischen wenigen in weiten Totalen. Die Kamera hat hier in dem Doppelbild mehr, an das sie sich halten kann als in den anderen Begebenheiten, das Zelt links, die Weite hinten, ein Dreieck aus Personen vorne und Sachen und Stöcker mittendrin. In den anderen Bildern ist die Handlung fast verloren, kein Hügel bricht den Blick und grenzt den Ausschnitt. Der alte Mann hier links im Bild, ich dachte, er sehe aus wie Jean Marais, ich meinte aber Georges Marchais.

Roi des Dollars

Le Roi des dollars, Frankreich 1905, 35m, 2′, 35mm, Farbe, Regie: Segundo de Chomon, Produktion: Pathé Produktion, Archiv: EYE Film Instituut Nederland

Was für schöne erhabene Namen Film und Regisseur haben und wie wenig das, was dann kommt, der Namen Anmutung entspricht. Wieder sind die anschmiegsam weichen Farben in dem Bild nicht zu sehen, leider. Zur Wirkung kommen sie in dem Film besonders schön durch den schwarzen Hintergrund. Eine Illusionistennummer in einer einzigen Einstellung, mit Stopp-Tricks, Überblendungen und dunklen Verstecken. A routine, die mich ganz perplex macht. Das kommt von der unerwarteten Nähe und erschreckenden Größe des Kopfes, der nach einer Weile von links ins Bild reinragt und Münzen kotzt. Die paar Stopp-Tricks zuvor mit der Hand von rechts waren verdaulich, elegant zwar, aber doch üblich, Münzen vermehrten sich unheimlich, fielen zuhauf in die Glasschale, in die auf dem Bild der Männerkopf nun hineinrotzt. Auch eine Kerze wurde einmal ins Bild hineingeschoben und eine Münze verdampfte wunderlich unter ihrer Flamme. Alles geht schnell und rasch und pausenlos, eine Attraktion nach der anderen. In zwei Minuten ist keine Zeit für die Pause für das Aufatmen und Sammeln oder den Applaus. Die Raschheit der Sache wird zur Promptheit, die, als der Kopf ohne Vorwarnung hineinragt in das Bild, zur mich übermannenden Unmittelbarkeit wird. Auf dem überlebensgroßen Kopf hätte ich vorbereitet sein können durch die überlebensgroße Hand, aber als der überlebensgroße Kopf dann kommt, erschrecke ich furchtbar. Was wird der Film damit machen? Ich befürchte das Schlimmste. Ich fühle mich nicht vorbereitet auf das Kommende. Das Kommende ist dann nur halb so schlimm wie meine Erwartung. Aber schlimm genug. Noch jetzt irritiert es mich. Der überlebensgroße Kopf im Profil, die Hand von der anderen Seite, wie sie dem Kopf auf die Stirn trommelt, dass der, als sei das ein Verhältnis von Ursache und Wirkung, Münzen kotzt. Er grimassiert dabei und ich kann mich nicht entscheiden, ob die Grimassen Ausdruck von Qual oder Quatschmacherei sind. Man kann das alles auf der Filmmuseums-DVD 18, Crazy Cinématographe. Europäisches Jahrmarktkino 1896-1916 nachschauen, aber es bleibt verwirrend.

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Am Donnerstagmorgen war ich von Kreuzberg nach Wilmersdorf zur Berliner Straße gefahren. Dort war die Verabredung mit der Mitfahrgelegenheit mit dem blauen Opel Corsar. Die Corsarfahrerin war eine junge Frau aus Berlin, die ständig zum Pferdebetreuen in Westfalen ist, ansonsten machte sie Abitur, die Deutschklausur hatte sie am Montag geschrieben oder am Dienstag, mehrere Themen waren da zur Auswahl gewesen und sie hatte sich für die Analyse eines Textes entschieden, der über die Anwesenheit englischer und amerikanischer Worte im Deutschen handelte und was das bedeutet. Wir fuhren durch den lichten Verkehr zum Westkreuz und warteten dort am Ausgang des S-Bahnhof auf eine andere junge Frau, die auch mitfuhr wie ich. Die Sonne schien. Die Fahrt war anstrengend. Die junge Frau verdoppelte ihr vorschriftsmäßiges Autobahnfahren permanent durch Beschreibungen ihres Fahrens. So entstand eine parallele Legende zu ihrer Verkehrswahrnehmung und ihren Fahrerentscheidungen, so wie diese Kommentarspuren in den schlechten Dokumentarfilmen. Wenn man 120 fahren durfte, fuhr sie 120 und wiederholte das mit Worten, ab hier darf ich nur 120 fahren, immer noch nur 120!, wann kommen wir denn endlich aus der 120-Zone?, so langsam würde ich aber gerne mal wieder schneller fahren, fahr-fahr-fahr doch schneller – es gilt 120. Meine Freude auf die Stummfilme in Oberhausen wuchs von Kilometer zu Kilometer. Ich trage das hier nach, weil das Betrachten von Filmen eine Umgebung hat, vorher und nachher, erst da und danach dort. Ich war zum ersten Mal in Oberhausen. Im Ruhrgebiet liegen die Städte dicht beieinander. Fährt man von Berlin auf der Autobahn in den Westen ist der Rhythmus der Städte, an denen man auf der Autobahn vorbeifährt, zunächst eher weich und lang und ausgreifend. Man könnte ein Countryalbum aufnehmen, das von der Dauer der Strecke handelt und den Entfernungen der Städte, Magdeburg, Wolfsburg, Braunschweig, Hannover, Bielefeld, das sind 400 Kilometer und es braucht seine Zeit; übers Fahren im Ruhrgebiet dann könnte man keine Country-Lp aufnehmen, Dortmund, Gelsenkirchen, Essen, Duisburg, Mühlheim – alles dicht an dicht, nichts liegt mehr als 50 Kilometer voneinander enfternt. Als ich in Oberhausen ankam, war schon das erste von zehn Programmen der Stummfilmreihe zu sehen im Lichtburg-Kino, in dem die Zuschauerränge steil nach oben laufen und die Leinwand groß und weit ist. Die Programme hatten unterschiedliche Namen, dieses erste Programm hatte man mit vielen Nomen »Sensation Bewegung, Dimension Zeit, Präsenz der Absenz« genannt. Ein unglaublicher Pathé-Film von 1906 war darin enthalten, ich habe aber kein Bild davon, LE PENDU (The Attempted Suicide), der sehr an den Nerven zerrte. Ein furchtbar erschreckend komischer Film, ein junger Mann wird verschmäht von einer Frau, das sieht man in ein zwei Bildern. An einem Baum am Rand der Stadt will er sich erhängen, hat schon den Strick um den starken Ast geworfen und den Hals in der Schlinge und zappelt unentwegt mit den Beinen, da kommt ein Junge, oder waren es zwei?, vorbei und sie betrachten das Schauspiel, das der zappelnd Hängende bietet, der Film ist eine Komödie und von nun an spielt er mit der Dauer, die es braucht, einen nach dem anderen zu holen zur Begutachtung der Situation des Hängenden, in die aber keiner eingreift. 1907, zur Zeit als die »Filmreform-Bewegung« gegen das Kino war, belegte man mit ihm das Verderbliche des neuen Mediums. Das Programm in Oberhausen hatte weitausspannend angefangen mit einem Wanderkinofilm, SAARBRÜCKEN, von 1904, fünfeinhalb Minuten lang, es wird Winter sein und der Film endet mit einer Fahrt in der Straßenbahn, die Kamera wird von der Straßenbahn durch die belebten Straßen gefahren, es ist gewissermaßen diesig, im Bildhintergrund ist das Diesige milchig schön wie eine irreale Wand, in die sich der Film kühn und gelassen hineinbewegt, die Straße passierend, die Passanten im raschen Tempo in den Augenwinkeln behaltend. In anderen Bildern zeigt der Film die Leute, die sich versammelt hatten vor der Kamera, zeigt wie sie aussehen und schauen. Man kann die Leute recht genau betrachten in diesen Wanderkinofilmen, denn die Leute betrachten die Kamera genau, sie schauen in die Kamera hinein und man sitzt im Kino und schaut, wie die Leute die Kamera betrachten. Die Kamera war Aufnahmegerät und Projektor in einem. Abends konnten die Leute sich selbst anschauen im Kino. Ich stelle mir vor, dass die Kamera-Operateure belebte Orte und Plätze in den Städten aufsuchte, weil es attraktiv ist, Leute zu filmen und weil es lukrativ ist, weil die gefilmten Leute für Geld ihr Gefilmtwordensein am Abend betrachten. Vielleicht bringen sie ihre Familie und ihre Freunde mit am Abend im Kino und zeigen ihnen, dass es sie gibt auf der Leinwand. Schon vorher war ich RK begegnet, der in der letzten Cargo über die Stummfilme schrieb. Er war aus dem nahen Köln angereist und bewohnte während der Kurzfilmtage ein geräumiges Apartment mit Swimming Pool in Oberhausen. Nach den Filmen steht man in Oberhausen in der Fußgängerzone, das Kino Lichtburg befindet sich in einem Nebenarm dieser Fußgängerzone. Aber zurück zu den Bildern. Eins noch.

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Verbundene Lippen-1

Lèvres collées (Tied Lips), Frankreich 1906, 46 m, 3′, 35 mm, s/w

Das, was in dem Bild als kleiner Ausschnitt zu sehen ist, möchte ich mir als abschweifende Nebenhandlung auch in einem Komiker-Film von heute vorstellen dürfen. Ein Blick für das Banale und dessen Bedingungen ist da drin und für die verkehrenden Möglichkeiten, die sich in ihm verbergen, es kräftig heraus zu stellen. Verschränkt in den drei Minuten sind Klassenverhältnisse, Ideen zur Kommunikation unter An- und Abwesenden, Geschlechterspannung und deren Auflösung im Verkleiden. Überhaupt wirken viele Leute oft wie betont verkleidet in den für Oberhausen ausgewählten Filmen. Erfreulich an den kurzen Stücken aus dieser Periode ist eh die schnelle Erkennbarkeit, die wohl einmal da war, mir aber, weil ich sie nur teilweise zu Lesen imstande bin wegen der Distanz der 100 Jahre, ständig Rätsel des Verstehens aufgibt. Ein potenziertes Vergnügen, das durch die enormen Rezeptions-Distanzen entsteht, mir meinen Geschmack und dessen Zufälligkeit vorführt als Glück und Unglück zugleich. Immer wieder muss die Frau in der Mitte der Frau links neben ihr die Zunge rausstrecken. Nach und nach betraten die Personen im Hintergrund das Bild, ein Postamt darzustellen, Schalter, Geschäfte, zufällige Treffen. Die Frau im Vordergrund streckt ihrer Herrin die Zunge heraus, weil die Briefmarkengummierung befeuchtet gehört. Ein Mann tritt später von links ins Bild, die Zungenfrau und er erkennen und umarmen sich zum schließlich nicht endenwollenden Kuss. Der Kuss verklebt die beiden miteinander, weil das Klebe-Gummi von den Briefmarken, die Falz, sich auf der Zunge der Frau gesammelt hatte, schon beim Briefmarkenlecken verzog sie immer ihren Mund, als könne sie so den schlechten Geschmack des Gummis von sich abschütteln. Vom Kuss gebeugt winden sich Mann und Frau nun mehrfach um die eigene Achse, ein Kreis hat sich da schon um sie gebildet aus Zuschauern, die das seltsame Schauspiel freudig beklatschen. Bis einer mit einer großen Schere kommt, die tied lips mit einem gewagten Schnitt zu trennen. Wie alltäglich sie auch nach dem Schnitt in einer nachgereichten Großaufnahme noch aussehen. Der Bart, der der Frau zugekommen ist in der Zeit des Kusses mit dem Mann, entstellt sie überhaupt nicht. Er unterstreicht ihre Gleichheit, was das Ziel vieler Komödien ist, verschleiert aber nicht die Verhältnisse.

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