Freitag, 10.08.2018

Enno Patalas (15. Oktober 1929 – 7. August 2018)

Ich kann nicht behaupten, dass ich Enno Patalas gut gekannt habe, aber ich verdanke ihm und seiner Arbeit meine nachdrücklichsten Erfahrungen mit der Filmgeschichte. Keine vorschnellen Urteile – alles zeigen – alles sehen. Das und mehr ist geblieben. Hier einige unordentliche, spontan aufgeschriebene Erinnerungen.

Zunächst kannte ich Enno Patalas nur von seiner Zeitschrift „Filmkritik“, die ich ab etwa 1964 abonniert hatte. Jeden Monatsanfang ging ich oft mehrfach in der Woche zum Buchhändler und fragte, ob die neue Nummer schon angekommen sei. Wenn ich sie dann nach Hause mitnehmen konnte, verschlang ich sie wie andere Menschen meiner Generation etwa die „Bravo“. Bestimmt habe ich nicht alle Texte verstanden – Kuhlbrodt und Kotulla schrieben immer relativ verständlich, Patalas war schon schwieriger, Färber war eindeutig mehrere Nummern zu hoch. Mit der „Filmkritik“ im Kopf hatte ich aber Gewißheit, über alle wichtigen Filme informiert zu sein. Sehen konnte ich die meisten in der Kleinstadt, in der ich lebte, nicht. Dafür gab es dann im Marion von Schröder Verlag die von Patalas initiierte Reihe „Cinemathek“ mit Filmprotokollen; ich glaube, ab der Nummer 11 konnte man die Reihe als Abonnent der Filmkritik günstiger beziehen. Die Bücher hatten dann nicht nur eine fortlaufende Nummer, sondern trugen auch eine Zählung wie eine Quartalszeitschrift. Immerhin, jetzt konnte ich die Filme lesen.
Als ich 1972 nach München kam, war Rudolph Joseph noch der Direktor des Filmmuseums. Filme wurden meiner Erinnerung nach nur Dienstags bis Donnerstags gezeigt; das kam mir sehr eigenartig vor, das Filmmuseum im Stadtmuseum hatte für mich den Status einer Einsiedelei. Aber in München gab es ja genug Kinos wie den „Türkendolch“, das „Isabella“, das „Theatiner Filmkunst“ und das „Leopold“. In den Nachtvorstellungen konnte ich die Filme sehen, bei denen ich Urlaub von jeder ideologisch gefärbten, ja überhaupt jeder kritischen Haltung nehmen konnte. Alle Filme in den Nachtvorstellungen waren Entdeckungen.
1973 wurde Enno Patalas Leiter des Filmmuseums; seitdem bin ich, solange ich in München war und auch, wenn ich heute dort bin, ins Filmmuseum gegangen. Patalas begann mit Griffith, dann folgten bald die deutschen Meister Pabst, Murnau, Lang und Lubitsch. Und weil die in der Bundesrepublik verfügbaren Kopien oft schlecht oder schlecht erhalten oder verstümmelt waren, begann Patalas sich in der Welt nach besseren Filmkopien umzusehen. In Moskau wurde er fündig und mit dem staatlichen Filmarchiv Gosfilmofond entwickelte sich ein reger Tauschhandel. Der Direktor von Gosfilmfond übermittelte Patalas eine Wunschliste – meist neue amerikanische Filme, aber auch James Bond- und Russ Meyer-Filme. Dafür bekam Patalas dann Filme von Fritz Lang, Murnau und anderen deutschen Regisseuren in nie zuvor gesehener Qualität und Länge. Alle Stummfilme wurden selbstverständlich mit 16 Bildern pro Sekunde und ohne Musikbegleitung vorgeführt. Uns gingen die Augen über, aber bei manchen Filmen wurden auch die Lider schwer. Großer Tag, die Nibelungen von Fritz Lang, beide Teile in frisch gezogenen Kopien von Gosfilmofond, beide Teile an einem Abend. Beim zweiten Teil – 16 Bilder, stumm – fielen mir die Augen zu. Anderen wird es genau so ergangen sein. Als ich später eine kleine historische Studie über die Laufbildgeschwindigkeit von Stummfilmen machte und zu dem grobgefassten Ergebnis kam, dass Stummfilme fast nie in der richtigen Geschwindigkeit gelaufen sind und man sie heute frei von jeder Norm mit 16 bis 22 Bildern zeigen könne, rief mich Patalas an. „Kann man also Stummfilme so zeigen wie man es für richtig hält? Hab ich schon immer gesagt.“

Patalas holte Kopien aus allen möglichen Filmarchiven; er sah dieselben Titel in ganz verschiedenen Fassungen und begann selbst und als erster in der Bundesrepublik mit  Rekonstruktionsarbeit. Natürlich lag er häufig im Clinch mit der Murnau-Stiftung, dem Rechteinhaber der meisten deutschen Filme. Es ging um Geld, um die Hoheit über die deutsche Filmgeschichte, und es ging, wie immer, um Eitelkeiten. Den Streit mit der Murnau-Stiftung hat Patalas dem Filmmuseum München sozusagen in die Gene gelegt.
Patalas machte Einführungen zu den Filmen seiner Retrospektiven, förderte und duldete die Gründung des Münchner Filmzentrums, schrieb nur noch wenig und war nun König in seinem eigenen Reich. Wie jeder König machte er auch Fehler, die dann häufig genug seine Frau Frieda Grafe ausbügelte. Frieda Grafe übersetzte und schrieb, immer intelligent, manchmal skurril, gelegentlich auch über die Retros im Filmmuseum. Vielleicht war es Frieda Grafes Einfluss, der Enno Patalas zu einer verblüffenden Einführung zu Dreyers „Passion de Jeanne d’Arc“ veranlasste. Wieviel Furore der Film in der Filmgeschichte gemacht hatte, ein Film aus lauter Großaufnahmen – das war das übliche Repertoire. Aber er schloss mit einer Bemerkung von Ernst Lubitsch, der nach einer Vorführung gesagt haben soll: „Ein tolles Kunststück, aber es bringt den Film nicht weiter.“ Das saß und nagte noch lange nach der Vorführung in mir und wahrscheinlich auch in anderen. In einem Artikel in der „Zeit“ über Außenseiter des deutschen Kinos brachte er es fertig, Will Tremper und Jean-Marie Straub auf eine Ebene zu stellen. Das war nicht Provokation, das war sein Programm.

Einfach war Patalas nicht. Er neigte zu endlosen Monologen und wenn ich ihn in seinem Büro besuchte (anderen ging es wohl ähnlich), nahm er jedes Telefonat an und plauderte dann am Telefon als gäbe es den Gast nicht. Lange Zeit galt sein Interesse nur dem Film selbst, nicht aber irgendwelchen anderen Zeugnissen aus dem Kontext der Filmproduktion. Als mein Kollege Gero Gandert das Drehbuch zu „Metropolis“ im Nachlass von Gottfried Huppertz gefunden hatte, kam er stolz wie Bolle mit dem Ordner zu Patalas und wollte ihm das Buch zeigen. Patalas blickte nicht einmal auf. Später änderte er seine Haltung, da suchte auch er nach Briefen, Drehbüchern, Produktionsnotizen und war deshalb immer wieder in der Kinemathek.

Mit „Metropolis“ von Fritz Lang hat er sich länger als jeder andere beschäftigt. Ich weiß nicht, wieviele Rekonstruktionen er selbst von diesem Film gemacht hat; zuletzt leitete er eine mit Fördergeldern ausgestattete Arbeitsgruppe, die alle Zeugnisse und Filmschnipsel säuberlich in eine neueste Rekonstruktion überführte. An der letzten „vollständigen“ Fassung von Metropolis hat er nicht mehr mitgewirkt. Er hat sich dann den Outtakes von Murnaus „Tabu“ gewidmet, konnte aber für das Projekt keine Mittel mehr gewinnen. Zehn, fünfzehn Mal dieselbe Wasserszene in nur graduell unterschiedlichen Einstellungen zu sehen, erschöpfte selbst den leidenschaftlichsten Cinephilen.

Drei kleine Episoden noch aus den vielen, die mir im Gehirn herumpurzeln. Die ersten beiden haben auch mit seiner Frau Frieda Grafe zu tun. Als sie mir ihren Beitrag über Marlene Dietrich zu dem ersten der zwei Hanser-Bände geschickt hatte, rief ich sie an und fragte, ob man hier, ob man dort nicht eine erläuternde Fußnote anbringen könnte. Die Antwort war klar und deutlich „nein“, die bündige Erklärung ein Klassiker: „Fußnoten sind männlich.“ Die Erklärung habe ich später auch gelegentlich benutzt, immer mit dem Erfolg großen Erstaunens und Aufgabe jeder weiteren Nachfrage.

Als ich Enno Patalas vor Jahren das letzte Mal in der Ainmillerstrasse besuchte, hatte er gerade die Korrespondenz seiner Frau mit Josef von Sternberg veröffentlicht. Das war gar nicht der Anlass meines Besuches, aber Patalas steuerte zielsicher und leicht beleidigt auf das Thema zu. „Ich habe mich gewundert, warum Sie nicht schon früher nach den Briefen gefragt haben.“ Er hatte sie für mich, für die Sammlungen der Kinemathek schon gepackt. Wir haben dann noch länger miteinander gesprochen; seine Bibliothek hatte er schon verschenkt und seine Manuskripte, die „Filmkritik“- Dokumente? Nein, nein, alles verschwunden.

Irgendwann in den 90er Jahren hatte Enno Patalas gewaltigen Krach mit der Stadt München. Er kündigte seinen Rücktritt an, ich war gerade in München, besuchte ihn und schwatzte ihm mit den üblichen Telefonunterbrechungen die Schreibmaschine ab, auf der er jahrelang die Programme des Filmmuseums geschrieben hatte. Sie kam in die ständige Ausstellung des Filmmuseums und steht dort hoffentlich heute noch. Die Monatsprogramme, meist nur vier kleine Seiten ohne Bilder, waren immer ein Versprechen auf große Entdeckungen; sie dokumentierten fast anmutig in ihrer Bescheidenheit die Armut der Institution und ihren potentiellen Reichtum. Patalas trat dann – eine bayrische Spezialität – vom Rücktritt zurück. Aufhören gehörte nicht zu seinen Begabungen.

Wir – wer immer dazugehören will – danken und verneigen uns.

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