In Amerika
Fotos und Anmerkungen dazu
von Rainer Knepperges
Ich hatte die Straßenseite gewechselt, um das „Super 8 Hotel“ zu knipsen, wegen des Namens. Dann sah ich rechts daneben in einer Baulücke ein Stück des von Menschen gemachten Gebirges namens „Manhattan“.
Nah hinterm Haus der Familie Jones liegen nebeneinander der Juniata River und der alte Schienenstrang, auf dem nur morgens ein Zug nach Philadelphia und abends einer nach Pittsburgh fährt. Güterzüge beleben mehrmals täglich das Tal mit wunderbarem Grollen, Rattern und verklingendem Donner. „DALE + DEB“ wurde vor 35 Jahren über den Abgrund gemalt.
In dem für seine vielen Gotteshäuser bekannten Ort (40, heißt es; keiner zählt sie) lief ich am Sonntagmorgen, durch die Zeitumstellung früh wach, im Trainingsanzug vom Gästehaus schnell über die Straße, um noch vor dem Auftauchen der Kirchgänger ein Foto zu machen. Wollte nicht versäumen, das Motto der vergangenen Woche zu dokumentieren, das die „co-pastors“ Dale und Christy mit auswechselbaren Buchstaben mir eingeprägt hatten: „January Darkness“.
Wir wunderten uns, warum es keine Gläser gab, nur Plastikbecher, in der netten Karaoke-Kneipe, die wir knapp vor der (wie wir später erfuhren, dort nicht unüblichen) Schlägerei verlassen haben.
Am nächsten Tag geht vor „Johnny’s Bar“, auf dem Foto fast unsichtbar, der Barbier Harris spazieren.
Zufällig uns (den einzigen, die wie er zu Fuß unterwegs sind) schließt Harris zum Reinschauen den vor langer Zeit vom Vater geerbten Friseursalon auf und erzählt (zufällig uns) seinen in den Dorfgrenzen vollzogenen Lebenslauf.
Er kennt leider den Film nicht, Henry Kings „WAIT TILL THE SUN SHINES, NELLIE“, an den dieser Ort – und an dessen Helden der Barbier, im Stillen – mich erinnert. Einer, der alles geordnet hat und dann nicht mehr weiter weiß.
Es wäre mir lieb gewesen, die Fotos unkommentiert zu lassen, aber meine Freundin meinte: „Aha, so wie man Bilder in einem Café aufhängt.“ „Genau,“ sagte ich dumpf und begriff, die Bilder allein wären einer gewissen Peinlichkeit ausgeliefert. Genau diese Peinlichkeit aber darf mein Kommentar ehrlicherweise nicht umgehen: den naiven Stolz, Amerika gesehen zu haben.
Natürlich sieht Huntingdon, Pennsylvania, in den Augen derer, die dort leben, nicht so schön aus wie in meinen. Alles ist nur so lange schön, als es uns nicht angeht, sagt Schopenhauer. Und: „Wer fröhlich ist, hat allemal Ursache, es zu sein. Nämlich eben diese, dass er es ist.“ Der größte Arbeitgeber ist das Hochsicherheitsgefängnis. Wöchentlich werden die Sirenen getestet, für den höchst seltenen Fall, dass ein Ausbruch glückt. Nachts stehen manchmal Rehe auf der Straße.
Karl Lang, Tax Collector und Civil War Experte, demonstrierte uns in seinem fensterlos-holzgetäfelten Büro die korrekte Handhabung eines Säbels, erzählte anschließend, wie er als Filmkomparse beim Dreh von GETTYSBURG gerührt war von Jeff Daniels Schauspielkunst, und konnte deshalb nur enttäuscht den Kopf schütteln, als ich sagte, mir hätte Daniels gut gefallen in DUMB AND DUMBER.
Als dann am Ende der Woche Anja Dreschke (links) auf Einladung von Jennifer Jones (rechts) vor Studenten des Juniata Colleges über die „Kölner Stämme“, über Karnevalisten und Schamanen sprach, saß auch der Reenactment-Fachmann Karl Lang im Publikum – wieder enttäuscht: Sein Gefühl für historische Akkuratesse wurde gewiss verletzt durch neuerfundene heidnische Rituale. Während die Studenten noch staunten, hatte er den Saal bereits verlassen.
Vom Anlass der Reise und von meiner großen Freude, dass die Quereinsteigerinnen im schönen alten Clifton Kino ein amerikanisches Publikum ordentlich zum Lachen brachten, bleibt wie von jeder Freude nur die Erinnerung daran, also nicht allzu viel. In weiser Voraussicht arrangierte ich deshalb in der Leihbibliothek dieses Bild, das mich immer wieder neu erfreut.
Das Kino, 1923 erbaut als „Shrine of Silent Films“, wurde zum Überleben zerteilt. Anders geht es nicht. In einem der fünf Säle aber stößt man plötzlich auf Bühne und Orchestergraben, als beträte man eine antike Grabkammer. Am späten Nachmittag drücken sich im Eingangsbereich vor noch verschlossenen Türen die Jugendlichen herum. Wie überall, wo es noch ein Kino gibt. Der ideale Ort.
Dieses Antiquariat bietet „gebrauchte Bücher“ an, ausschließlich Unterhaltungsliteratur. Ein ganzer Gang: nur Westernromane. Hier herrscht tatsächlich die Vorstellung, dass Bücher immer wieder gebraucht werden. Wie man es beim amerikanischen Breitwandbild macht, habe ich die Bilder meiner Kleinbildkamera (Konica EU-Mini) nachträglich beschnitten (1:1,85). Unten wäre hier noch der vom Regen schwarze Asphalt zu sehen gewesen. Eigentlich schade.
Keine Friedhofsmauern, keine Blumen. Am sonnigen Vortag war das Gegenlicht zu stark, also stieg ich noch mal auf den Hügel. Zum Glück waren die Reste von Schnee noch da. Links, ganz knapp außerhalb des Bildrandes, stand ein roter Sportwagen. Auch den unbekannten Pfeifton der Güterzüge unten am Fluss muss man sich dazudenken. Viele Veteranen des Bürgerkriegs liegen hier mit ihren Familien unterm Gras. Die Grabstellen sind nicht, wie bei uns, befristeter Besitz. In Huntingdon liegen auch seit je alle Rassen und Religionen auf ein und demselben Friedhof, für immer. Allerdings ist auch der Ort nicht weit entfernt, wo George A. Romero anfing Filme zu machen.
Wenn ich mir mal ein Auto kaufen würde… Gibt es wohl einen Namen für die Farbe dieses Wagens? Oder wurde hier ein Extrawunsch erfüllt? „Wenn Benzin in Pfützen schillert, so blau, so violett, dazwischen.“ – „Wird gemacht.“ – „Danke.“ – „Kein Problem. Wenn sich die Gelegenheit bietet, dann stellen Sie ihn vor ein grünes Haus, das sieht hübsch aus.“ – „Ich wollte ihn in den Schnee stellen.“ – „Auch gut.“
Noah könnte er heißen, der Besitzer dieses Hauses, das etwas erhöht steht; nach Ablauf von vierzig Tagen und vierzig Nächten öffnete er das Fenster, und siehe, die Oberfläche des Erdbodens war trocken. In einem der Second-Hand-Läden im Ort kauften wir HOUSE ON HAUNTED HILL von William Castle, mit Vincent Price, auf VHS. Im Gästehaus stand ein weißer Fernsehapparat mit eingebautem Videogerät. Aus der College-Bibliothek entliehen wir die traumhaft schöne Dokumentation CONEY ISLAND von Ric Burns. Live gab es Demokratie in der Originalfassung zu sehen: Diskutierende stellen die rassistische Finesse der Eheleute Clinton bloß, die allzu häufig ganz nebenbei die Hautfarbe Obamas erwähnen. Den meisten Republikanern ist Romney, der vermögendste Kandidat, einfach zu religiös. Und ein kirchlicher Sender zeigt in Pastellfarben: Marshall McLuhan gut gelaunt im Gespräch mit einem Mönch. Wir warten auf etwas Unbestimmtes. Vielleicht „February Madness“.
Ins Straßengitter fein eingefügt, bieten die Gassen freien Blick in die Gärten. Ein hoher Zaun, hinter dem ein Hund wie im Zeichentrickfilm an der Kette liegt, ist die Ausnahme, existiert aber (wie alles, was es in Filmen gibt). Die allermeisten Rasenflächen liegen offen da. Die Einladung, wiederzukommen im Sommer, dann sei draußen überall viel los, Barbecue und so, klingt ehrlich und verlockend. Im September hat Huntingdon sogar ein Filmfestival.
Wieder in New York. Eli’s Delikatessengeschäft hat das große Footballereignis vorweg aus Gebäck inszeniert.
Weil mein Fotoapparat automatisch blitzt, konnte ich in meinem Lieblingsmuseum nur das Gedächtnis benutzen. „Sehr schön im American Museum of Natural History die lebensgroßen naturkundlichen Landschaftsdioramen, mit Tieren und Bäumen, Grasboden, Erde und weiten gemalten Rundhorizonten. (…) Das ganze Museum erfüllt von der Lust und Begabung zu staunen.“ (Helmut Färber) Die ausgestopften Wölfe im täuschend echten Schnee! Im blauen Licht der Nacht! Im Sprung! Man sieht die Tiere, nicht wie im Zoo mit Mitleid, sondern mit wilder Ehrfurcht.
In allen Kneipen: Super Bowl. Soll man reingehen, die Regeln des fremden Sports erfragen? Viel besser, nachts am Union Square zufällig ein Spektakel ohne Regeln zu erhaschen: Eine halbnackte Horde Jungs stellt den Sieg der Giants nach. (In meiner Kindheit waren es nachgespielte Mönchengladbacher Triumphe.) Das unverzügliche Reenactment der Besoffenen ist darüber hinaus grobe Ruhestörung und improvisiertes Broadwayballett. Als sich ein Polizeiwagen heranpirscht, flieht die Formation mit tänzerischen Kapriolen, quer über die 14th Street, auf und davon.
Blick vom Nebeneingang der Public Library aufs Chrysler Building. Vor Reiseantritt hatte das Tagebuch von Helmut Färber (im „Akzente“-Heft vom Oktober 1981) meine Vorfreude verstärkt. Unterwegs kam mir dann oft der Gedanke: Meine sprachlose Begeisterung werde ich zuhause in gültigen Formulierungen nachlesen können.
„3. April 1981 / New York, Manhattan, vom Empire State Building aus – so phantastisch und vernünftig, als hätte die Menschheit ihre Probleme schließlich doch noch zu lösen vermocht.“ Ja.
An der Park Avenue, südlich der Grand Central Station, in der katholischen „Church of our Saviour“ war mir wieder mal gewiss, falls mich am Ende doch noch Gläubigkeit befällt, dann muss ich immerhin nie allzu weit, als Katholik, nach einer schönen Kirche suchen.
Sehr geborgen fühlte ich mich im Kinosaal in LUMIÈRE D’ÉTÉ von Jean Gremillon. „So, als würde sich alles zusammengefasst und auseinandergelegt im Augenblick eines Traumes ereignen“ (Peter Nau), so strich Pierre Brasseur alles weiß an, auch den Boden und die Decke, im Haus seines Nebenbuhlers, während dieser ihm wieder und wieder große Gläser mit Whiskey füllte. Und nichts, was geschah, wusste man vorherzusagen.
„Sodom an der See“ wurde Coney Island vor hundert Jahren genannt. Im größten Vergnügungspark aller Zeiten waren 300 Liliputaner als Bewohner einer Miniaturwelt angestellt und ausdrücklich dazu angehalten, sich vor den Augen der Millionen Besucher betont sittenlos zu verhalten. 450 Filme wurden tagtäglich im Badeort gezeigt, viele davon vor Ort gedreht. Man sieht darauf die elektrisch illuminierten Kirmesbauten bei Nacht, man sieht echte Elefanten auf Rutschbahnen, man sieht vor allem Menschen, die sich wirklich amüsieren.
Morningside Drive am Abend. Ich ging recht einsam in ein großes Kino in Chelsea. ROSEMARY’S BABY wurde von einem Komiker im blauen Paillettenkleid anmoderiert: „Der Filmklassiker, den wir heute sehen, ist achthundert Jahre alt.“ Doch dann setzte sich die Drag Queen mit Mikrofon ins Publikum, um den Film zu kommentieren! Erstaunlicherweise minderte das Lachen das Gruseln nicht. Die fein dosierten Einwürfe wiesen auf inzwischen verschwundene New Yorker Architektur hin – oder auf Ruth Gordons tolle Art, Kuchen zu essen. Und zum Abschied sagte Hedda Lettuce dem rundum zufriedenen Publikum (Eintritt: 6,50 Dollar) noch folgendes: „Glauben sie nur nicht, ich würde in einen 12-Dollar-Film hinein sprechen.“
„Wir machten also als Beobachter und Betrachter Fortschritte.“ (August Strindberg: Inferno)