Nochmals: „Willie Boy“
von Wolf-Eckart Bühler
Man erfährt etwas: übers Spurenlesen, über das Irreführen von Verfolgern, über mögliche und unmögliche Fluchtwege.
Man erfährt etwas: über die Beziehungen zwischen MOTION und EMOTION.
Bewegung als rein physischer Akt, als ein einziges VORWÄRTS.
Willie und Lola sind zu Fuß, die Verfolger reiten. Folglich sieht man die Verfolgten viel öfter in Bewegung als die Verfolger.
Die einen rennen, hasten, eilen, trotten, taumeln, stolpern, straucheln, stürzen, fallen, keuchen; selbst ihre Pausen sind atemlose, aufgeschobene und unterbrochene Bewegung nur. – Die anderen rasten, planen, erkunden, stehen herum; und selbst ihre Bewegung ist Ruhe noch, für sie bewegen sich die Pferde.
Später, als Lola tot ist, sieht man in Parallelmontage einmal Willie, einmal Coop bei der Durchquerung einer wüstenähnlichen Öde. Man erfährt: HITZE. Die Bilder sind hell, gleißend, fast weiß.
Man sieht, daß der Schauspieler Robert Blake als Willie laufen nicht nur simuliert: man sieht ihn laufen! In seinem Gesicht kann man lesen: die Mühe, die es kostet, in der Hitze sich vorwärtszuarbeiten, und den Willen durchzuhalten. Man sieht laufen; das Bild ist laufen. – Coop, lässig auf seinem Pferd, Spuren suchend, wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Man sieht: den stoßweisen Atem, die gequälten Augen Willies. Man sieht in langen, hitzeflirrenden Totalen: seine weitausgreifenden Schritte; Schritte, wie man sie bei äthiopischen oder mexikanischen Marathonläufern sehen mag, aber nie bei Weißen…
Coop gerät erst dann in eigentliche Bewegung, als die Willies bereits versiegt. Des Verfolgten Triebfeder war der Wille zur Flucht, die des Verfolgers halbherzige Pflicht gewesen; nun ist da nur noch Resignation, dort der Wille zur Selbstbestätigung: die Bewegung verlagert sich.
Das „Finale“ findet in den Bergen statt, auf und zwischen Felsen. Willie wartet auf seinen Tod: er sitzt da, ruhig, dunkel-traurig, eingehüllt in das, was war; den Blick groß unbeweglich, schaut er in die untergehende Sonne: verloren aus dem Leben. (Ähnliches kann man höchstens noch bei Straubs Chronik erfahren; da z. B., wo es heißt: „Ich freue mich auf meinen Tod, ach hätt’ er sich schon eingefunden…“)
Als Willie tot ist, sieht man – groß – seine staubigen, durchlöcherten Schuhe! Willie anfangs zu Lola: „Wir müssen nachts laufen —und tagsüber auch!“
Die Beziehungen der beiden Paare Lola – Willie und Dr. Arnold – Coop werden in langen Parallelmontagen einander konfrontiert. Das Fehlen jeglicher Peinlichkeit (die eine solche Konfrontation sonst fast automatisch nahelegt) resultiert nicht nur aus der vollkommenen Aufrichtigkeit des Autor-Regisseurs und seiner Darsteller, sondern, und mehr noch, aus der Absenz jeglicher Übersteigerung oder Persiflage:
Die Beziehung zwischen Dr. Arnold und Coop ist normal, wenn man darunter das Alltägliche, Gewöhnliche versteht: das, was ist. – Die Beziehung zwischen Lola und Willie ist normal, wenn man darunter die Vorstellung, den Wunsch, den Traum versteht: das, was sein sollte.
In einem Billardsaal redet einer über Demokratie: „Wenn wir einen Indianer hier reinlassen, als ob ihnen das Land gehören würde: das nenne ich wahre Demokratie!“
Einer sucht verzweifelt einen Billardpartner. Als Willie sich anbietet, behandelt ihn dieser erst wie Luft (er schaut gar nicht hin), dann wie Dreck („Hau ab, verkriech dich bei deiner Sippe!“).
Als Coop nach dem Mord den Marshall anruft, meint dieser: „Wie gut, daß nur ein Indianer nur einen anderen Indianer abgemurkst hat!“
Ein versoffener Penner, der das „Glück“ hat, Weißer zu sein und deshalb mitjagen darf, ballert einmal bei einer nächtlichen Suche wild drauflos. Seine hysterische Entschuldigung „Da hat sich was bewegt“ wird von der Mehrzahl akzeptiert, obwohl auch einer von ihnen hätte getroffen werden können.
Willies Freund Charlie will einmal vorausreiten, um mit Willie zu reden: „Ihr wollt doch, daß er sich (lebendig) ergibt?“ Das zögernde „Ja, natürlich…“ läßt nur zu deutlich die Gier nach ungezügelter Aggression durch.
Irgendwo in der Nähe soll ein Empfang für den Präsidenten stattfinden. Der Marshall wird von Journalisten bedrängt: „Befürchten Sie Zwischenfälle?“ Der: … einen Präsidenten hier umlegen ist leicht…“ Die ganz allgemeine Skepsis des Marshall angesichts der Tatsache, daß die USA leider immer noch kein perfekter Polizeistaat seien, wird prompt mißverstanden: „Ah, Sie meinen diesen Indianer…“ Und als dann die Verfolger Willies, der ihnen die Pferde weggeschossen und dabei zufällig einen verwundet hat, hysterisch kabeln: „Hier ist die Hölle los, Indianerbande …“ etc., wird daraus flugs: „Zwei bis drei Tote, ein ganzer Stamm gegen die Regierung …“ etc.
Ganz zu Anfang, als er allein auf einer Wiese seinen Whisky trinkt und Sheriff Coop vorbeireitet, verdeckt Willie schnell, aber ganz ohne Hast, die Flasche mit seinem Hut. (Our experience?)
Als Lola sagt, sie wolle Lehrerin wer den: „Willst du ihre Lügen lehren?“ — denn: was könnte sie anderes lehren als das, was ihr beigebracht wurde, ist doch durch die Lüge ihr Wissen um die Wahrheit so verstümmelt, daß sie diese nicht zu artikulieren vermöchte? (Our experience?)
Als Lola einmal das Gefängnis er wähnt: „Da war ich schon mal. Nur, weil ich gesoffen hatte, dreißig Tage.“ (Our experience?) „Die Indianer vertragen kein Gefängnis, sie sind nicht wie die Weißen dafür geboren.“
Man erfährt, direkt und emotional: was es heißt, einer Minderheit anzugehören – was eine Flucht ist und warum Menschen vor Menschen flüchten müssen – was eine Verfolgung ist und warum Menschen andere Menschen verfolgen — was eine Strecke Wegs bedeutet, die man hinter sich zu bringen hat —was Liebe ist und was Liebe sein könnte — was Erotik ist (Die wunderschöne Katherine Ross läuft dauernd in einem wadenlangen Rock herum. Als sie an einem Tümpel sich den Rock hochschlägt, sieht man ihre langen braunen glatten nassen bloßen Beine: das ist erotischer als jedes splitternackte Starlet) —was ein Raum ist und was Perspektive (diese drückenden Räume, die aber immer irgendwo dem Licht offen sind: Türen, Fenster, Luken) — was Natur ist (Fels, Stein, Geröll, Wasser, Feuer, Licht).
Erstveröffentlichung in Filmkritik 2/1970, S. 97–98.
[Teil 5 der Serie „Abraham Polonsky: Widerstand in Hollywood“ mit Texten von Wolf-Eckart Bühler; Tell Them Willie Boy Is Here, USA 1969, Regie: Abraham Polonsky]