Zukunft
Was ist das Kino? Zuallererst ein rätselhafter Ort. Ich nenne nur als Beispiel den Palast, der am einzigen Boulevard der Stadt, dem Hohenzollernring, 1931 erbaut, verborgen hinter einer Bürofassade damals 3000 Plätze hatte. Die feine Architektur, mit selbstverständlichen Schwüngen und klugen Kurven, wurde irgendwann dann zerschachtelt in 13 mitunter wild verwinkelte Kinoräume. Schmale Gänge führen zu den Projektorkammern oder überraschend auch mal in einen großen Saal (Kino 11), einst ein gewaltiger Balkon, mit zwei kleinen Logen. Separees! Aus Sparsamkeit erhaltene Details und Proportionen erzählen bis heute davon, wie es war – sein müsste – nicht bleiben konnte. Aber wer wie ich, viel Zeit verbrachte in diesem gigantischen Versteck, während drum herum die großen Säle der Stadt nacheinander schließen mussten, der lernte es zu respektieren, mehr noch, fand Gefallen am Martialischen dieser bizarren Umrüstung. Es gibt da eine kleine Brücke, die ein altes Treppen-Schneckenhaus frech durchkreuzt. Das sieht aus, als wären auf mexikanische Art gekreuzte Patronengurte im Traum zur zivilen Architektur geworden.
Vorgestern – und gestern dann gleich noch einmal – sah ich Eyyvah Eyvah, der in Köln im Filmpalast (OmU) und in vielen anderen deutschen Städten läuft, auch wenn kein deutsches Feuilleton darüber schreibt. Es wäre auch gar nicht so einfach, das zu tun. Typisch für diesen Film, dass mittendrin ein Musiker den Streit mit einem Kollegen nicht scheut, um die Tonart eines Lieds an die Stimmlage der Sängerin anzupassen. Sorgfalt, Geduld und Zartheit sind dem Film so selbstverständlich, dass es kaum zu fassen ist. Wären Schönheit und Humor allein – Rhythmusgefühl und kinematographische Weisheit noch dazu – Vergnügen an Sprache und Licht obendrein – die Kriterien des Europäischen Filmpreises, dann wäre diese türkische Komödie wohl der sichere Gewinner. Es gibt aber, nehme ich an, noch ganz andere Ansprüche. Die Leute jedenfalls, für die der Film gemacht ist, wissen in welchen Kinos er läuft, in Aschaffenburg, Augsburg, Bielefeld, Berlin, Bochum, Bremen, Bretten, Crailsheim, Darmstadt, Dillingen, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Erbach, Essen, Frankfurt, Freiburg, Gelsenkirchen, Günzburg, Hamburg, Hannover, Hechingen, Hürth, Karlstadt, Kelheim, Köln, Krefeld, Landshut, Lichtenfels, Marktredwitz, Mannheim, Meschede, Memmingen, Mosbach, München, Neckarsulm, Nürnberg, Osnabrück, Salzgitter, Schrobenhausen, Sindelfingen, Stuttgart, Walldorf und Wuppertal. Denn was ist das Kino eigentlich? Gar kein Ort. Flucht. Sache von Einwanderern. Zukunft.
Demet Akbağ und Ata Demirer
EYYVAH EYVAH von Hakan Algül
Erwähnen muss ich noch das winzige Kino 13 oben rechts unterm Dach des Filmpalasts. Für viele war es sicher eine bittere Enttäuschung, aber für jeden war es ein Erlebnis. Ein in der ganzen Welt einzigartiger Raum, ein Polyeder von grausamer Kompliziertheit. Unzählbar seine Ecken, seine stumpfen und spitzen Winkel. Unbegreiflich die Geländer, Ebenen, Schrägen, Stufen überall, selbst M.C. Escher wäre gestolpert. Irgendwo war oder ist auch noch ein Kühlschrank. Früher hieß es „Ufa 13“, für mich heißt das Ding auf ewig so. Dieser liebgewonnene teppichbodenbezogene Hohlkristall. In den letzten Jahren sah ich dort einige Filme mit Will Ferrell. Niemand, der das Gefühl nicht kennt, kann sich vorstellen, wie es ist, in einem halb kubistischen, halb expressionistischen Rhombikosidodekaeder zu sitzen und Old School auf der Leinwand anzuschauen. Ich habe mir deshalb jetzt vorgenommen, den Raum, als Mitglied eines internationalen Forscherteams, mit Echolot zu vermessen und ihn auf der nächsten Dokumenta nachzubauen, aus Krokant.
31.03.2010 11:03
Ich weiss nicht, ob man über das Kino Karli in den Berliner Neukölln Arkaden auch so tolle Sätze schreiben könnte; ich zumindest kann es nicht. Der Film „Eyyvah Eyvah“ läuft aber jedenfalls auch dort und er ist wirklich sehr schön – und gemacht ist er für alle, die auch nur ein wenig nachfühlen können, was es bedeutet, sich der Welt mit jeder Menge Selbstzweifel und Unsicherheit zu nähern…