Samstag, 17.04.2010

Augmented Reality

Augmented Reality, erläuterte einer, funktioniert so: Leute programmieren eine virtuelle grafische Schicht und legen sie über das, was wir als Realität kennen. Sie überziehen die Umgebung mit einer bedruckbaren Klarsichtfolie, die im normalen Leben nicht wahrzunehmen ist. Sichtbar wird diese Folie, wenn man sein Telefon, also genauer: die Kamera des Telefons, irgendwohin hält. Auf einer Wand steht dann: »Ich war hier«, oder in der Luft schwebt »Das, was Sie da grad sehen, ist der Kölner Dom«.

In einem YouTube-Clip hatte er eine Frau die Vorzüge der Augmented Reality preisen sehen. Sie war sehr aufgeregt bei dem Gedanken, wie man der realen Welt jetzt eine zweite Welt voller kommunikativer Möglichkeiten hinzufügen könne. In der zweiten Hälfte ihres Vortrags kam sie, erinnerte er sich, nicht auf Arthur Schnitzlers Erzählung »Ich« von 1917 zu sprechen, in der jemand seiner Existenz immer unsicherer wird und deshalb beginnt, die Möbel und Menschen in seiner Umgebung mit kleinen Zetteln zu versehen. Auf den Zetteln steht »Tisch«, »Spiegel«, »Bett«, »Ehefrau« und so weiter, und er klebt diese Zettel auf den Tisch, den Spiegel, das Bett, die Ehefrau; das beruhigt ihn ein bisschen. Ende und Höhepunkt der Erzählung sei (wenn er das richtig in Erinnerung habe), dass der arme Mann völlig verwirrt und erschöpft – oder ist er sogar tot, ja, doch, wahrscheinlich ist er eher tot – in seinem Zimmer gefunden wird. Auf seinem Rücken findet man einen Zettel mit dem Wort »Ich«.

Verstehe, warf ein anderer ein, aber wo wir grad von diesen neuen Beschriftungen der Welt reden, das ist doch nichts anderes als virtuelles Reviermarkenpinkeln, und die Großkapitalisten – er neigte zu vulgärmarxistischen Ansichten und gefiel sich in der Verwendung anachronistischer Politterminologie – sind sowieso die ersten, die sich die Technik zu eigen machen würden und die hübsche Klarsichtfolie von oben bis unten mit Werbebannern vollpinseln. Erst pflastern sie die wirkliche Welt zu mit Werbung, beklagte er sich, und wenn die voll ist, machen sie einfach in der virtuellen Welt weiter. »Starbucks 200 Meter rechts«. Und was ist eigentlich aus dem Second Life geworden? Muss man sich das als Geisterstadt 2.0 vorstellen, ein Update der verblassten Straßenraster, die er aus dem Flugzeug östlich von Los Angeles im Wüstensand gesehen hatte?

Einem wiederum anderen fiel zu diesem Thema Julius von Bismarcks Fulgurator ein. Der Fulgurator ist ein findig umgebauter Fotoapparat, der auf das Blitzlichtsignal anderer Fotografen reagiert. In exakt dem Moment, in dem jemand in der Nähe den Auslöser seines Fotoapparats betätigt, projiziert das Gerät ein zweites Bild in das fremde Bildmotiv hinein. Das ist wie eine Art kurzzeitige Tätowierung der Realität, ein Stempel, der kurz aufblitzt, aber fremde Fotografien dauerhaft kontaminiert: Leute fotografieren das Schild am Checkpoint-Charlie und sehen auf ihrem Bild stattdessen die Information, wie viele Mexikaner jährlich beim Versuch sterben, die US-amerikanische Grenze zu überqueren. Am Tiananmen-Platz fliegt über das tausendfach fotografierte Mao-Porträt plötzlich eine Friedenstaube. Klaus Wowereit trägt auf den Fotos der Pressefotografen ein O2-Logo am Revers. Die Blicke der fulgurisierten Touristen und Pressefotografen sind einigermaßen verwirrt, sie vergleichen die unveränderte Realität mit ihrem augmentierten Abzug, reiben sich die Augen und wissen nicht genau, woran sie zweifeln sollen. Julius von Bismarck, Erfinder und Inhaber des Patents, prognostiziert Klagen von Leuten, die ihn der Manipulation ihrer Fotos bezichtigen. Im Prinzip freut er sich aber auf einen Prozess, denn die Sache liege ja klar zu Tage. Nicht die Fotos manipuliere er, sondern das, was die Leute fotografieren, da ist er juristisch auf der sicheren Seite.

Andersherum erging es mir am Ostersamstag. Am Beginn des Finales von FÄHRMANN MARIA begleitet Maria (Sibylle Schmitz) den Tod in eine Kirche. Sie geht in den Glockenturm und zieht am Seil. Ich glaube, sie will die Dorfbevölkerung und ihren todgeweihten Geliebten in der Fährhütte warnen. Das Seil bewegt sich auf und ab und der Klöppel schlägt ein ums andere Mal an den Glockenrand. Aber es ist kein Laut zu hören, nur gespenstische Stille. Ich traute meinen Ohren nicht, denn in genau dem Moment, an dem die Filmglocken den Dienst versagten, setzte ein Klang ein, der nicht aus dem Film, sondern von draußen zu kommen schien. Ich öffnete die Balkontür und hörte jetzt ganz klar und deutlich die Glocken, die in der Kirche nebenan gerade zur Ostermesse geläutet wurden.

Ein Kommentar zu “Augmented Reality”

  1. goncourt schreibt:

    Hat ein bisschen was davon, als der Papst gewählt wurde und alle auf den weißen Rauch aus der sixtinischen Kapelle warteten, und in dem Moment fing das Nachbarhaus neben mir an zu brennen.

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