Sonntag, 09.05.2010

Carl Theodor Dreyer

Einige Dispositionen zu einem Klassiker

Seyd mir gegrüßt, ihr Könige!

– mit diesen Worten begann Edith Clever Ende der 80er Jahre ihren szenischen Vortrag der gesamten PENTHISILEA von Kleist. Ich sah sie damals im Hebbel-Theater. Sie war aufgestanden, an die Rampe getreten und wandte sich mit diesem Gruß lächelnd an das Publikum. Das tut hier eigentlich nichts zur Sache mit Ausnahme der Tatsache, dass ich zu Anfang daran erinnern wollte, wo im Kino genau der Souverän sitzt. Er sitzt mir gegenüber – es geht hier also um Sie. Ich schaue Sie an als Experte zu Experten. Experten der je eigenen Seherfahrungen, denn die Filmgeschichte, die Bilder, vergessen uns nicht. Dabei brauche ich gar nicht mit Alexander Kluge an ihre unbewusste Bild-Intelligenz zu appellieren, – die stellt sich ganz von alleine ein. Dieser Hinweis, dieses Geraderücken, erscheint mir deshalb so notwendig, weil wir uns in Carl Theodor Dreyer gemeinsam einem kanonisierten klassischen Monument gegenübersehen, auf dessen Charakter als Kapazität – das Wort kanonisch sagt es ja eigentlich schon – sich die filmische Gelehrsamkeit immer sofort verständigen kann. Die Moderne findet durch ihn ihren filmischen Ausdruck, heißt es allerorten. Und selbst gestandene Kritikergrößen verweigern angesichts seiner Person, der Komplexität seines Werkes, ihre Arbeit zu tun, fühlen sich ihm nicht gewachsen.

In meiner Jugend, da ich Filme nur im Fernsehen erleben konnte, wären Werke wie LA PASSION DE JEANNE D’ARC oder ORDET bei uns Kindern sicher mit dem Prädikat karfreitagstauglich durchgegangen, De Sicas FAHRRADDIEBE gehörten dazu und natürlich Pasolini. Hätte der kulturelle Einfluss der Kirche seit den sechziger Jahren gegenüber dem Marktgeschehen nicht einen beständigen Zuwachs an Bedeutungslosigkeit erlitten, würde heute wahrscheinlich Tarkowski gezeigt werden. Aber jenseits dieser kulturellen Hegemonie muss sich das Kunstwerk, der Film, für uns ja stets neu entfalten und gültig werden, will es oder er denn seinem Anspruch als Klassiker gerecht werden.

Dreyer selbst spricht davon, dass ihn als Thema im Wesentlichen das Leiden interessiert und hier speziell das Leiden von Frauen. Aber das sagt er nur zögerlich in einem Radiointerview in New York, in dem man ihn auf ein Lebens-Leitthema festnageln möchte. Tatsächlich passt diese Einschränkung auch schlecht zu einem frühen Werk wie DIE PFARRERSWITWE, aus dem uns der Schalk und die filmische Unabhängigkeit eines Jean Vigo entgegen zu treten scheint, lange bevor Vigo überhaupt zu filmen begann. Überhaupt stehen seine frühen Werke wie ES WAR EINMAL und DU SOLLST DEINE FRAU EHREN in ihrem Witz dem Volkstheater sehr nahe, das seine Komik aus der Bewältigung des Alltagslebens zieht. Da ich selbst aus einem norddeutsch-protestantischen Zusammenhang stamme, erscheinen mir Dreyers dänische Lebenswelten nur allzu vertraut. Aber auch auf Sujets – in drei Filmen kommen Folterkammern vor, mehrmals werden Frauen verbrannt, gerne hängen im Hintergrund unbeteiligt Gehängte herum – also auf Sujets wird man Dreyer nicht reduzieren können. Beginnt der Film ES WAR EINMAL zum Beispiel als Leonce und Lena-Variation in büchnerscher Manier – das Reich Pipi und das Reich Popo feiern fröhliche Urständ – sieht man sich zur Hälfte des Films in einen dänischen Robin-Hood-Wald versetzt, der zum Zuckerbäckerrokoko des Beginns einen ziemlichen Anachronismus darstellt – das Märchen machts möglich und – so kommen wir also nicht weiter.

Nun, was heißt Modernität, mit der Dreyer so oft identifiziert wird, im Film? Zunächst einmal ist modern zu nennen die künstlerische Form, die die Gegenwart adäquat in Kunst übersetzt, die mehr weiß über die Gegenwart als die Gegenwart es vielleicht selbst tut. Da es ein ausentwickeltes Repertoire an filmischen Mitteln zu Beginn von Dreyers Karriere noch nicht gibt, kam er gar nicht umhin, selbst erfinden zu müssen. Natürlich hatte auch er Vorbilder in schwedischen Regisseuren sowie in Griffith – der Film BLÄTTER AUS DEM BUCHE SATANS kündet vom starken Eindruck den INTOLERANCE auf ihn machte – aber die Schwierigkeit auszumachen, was das Moderne an Dreyer sei, ist sein unideologisches Vorgehen. Tradition und Moderne sind in seinen Arbeiten immer gleichermaßen anwesend und verschränkt. Ein Beispiel: In den frühen Stummfilmen wird zur Konzentration auf eine Figur im Bild, zur ihrer Isolierung vom Bildhintergrund, wohl auch dem Geschmack der Zeit entsprechend, oft die Kreisblende benutzt, die das projizierte Bild auf den Protagonisten einschränkt. Heute fühle ich mich dabei um das restliche Bild betrogen und vom Regisseur gegängelt. Aber Dreyer lässt auch in GERTRUD, seinem letzten Film von 1964, nicht von dieser Methode ab. Zwar benutzt er keine einschränkende Kreisblende mehr, aber das Gesicht seiner Hauptdarstellerin wird mittels Ausleuchtung mehrere Blenden über den Bildhintergrund hinaus angehoben, was einen ähnlichen Effekt hat, so als leuchte Gertrud aus sich heraus, wie eine Heilige.

Und an was glaubt Dreyer? Die innere Geschlossenheit seiner Werke, die zuweilen komisch sind aber nie ironisch, lässt einen zunächst vermuten, sie mag auf tiefer Religiosität beruhen. Aber so einfach ist das nicht. Dreyer verlässt sich viel weniger, viel weiter hinten, wenn überhaupt, auf den religiösen Mythos als es z.B. Tarkowski tut. Die Hexen in seinen Filmen glauben selbst daran, dass sie mit dem Übersinnlichen in Verbindung stehen (JEANNE D’ARC/TAG DER RACHE), nicht Dreyer glaubt das. Sie sind nicht bloße Rufmordopfer. Und was glaubt Dreyer? Gertrud darf sinngemäß den wunderschönen Satz sagen: Wenn ich an Gott glauben könnte, würde ich Ihnen wünschen, dass er sich um sie kümmert. – Ich glaube, das Geheimnis besteht in einer überwältigenden Integrität Dreyers bei gleichzeitiger neugieriger Weltoffenheit und Freiheit. Wie er allerdings an diesen Punkt gekommen ist, kann ich Ihnen auch nicht sagen.

Aber zurück zu GERTRUD. Auf die bürgerliche Frau im Aufbruch war im Vorlauf des Jahres 1964 eigentlich Jeanne Moreau abonniert. Sie spielte im Umkreis der Nouvelle Vague und darüber hinaus alle Frauen, die auf Selbstverwirklichung pochten. MODERATO CANTABILE, DIE BRAUT TRUG SCHWARZ, Antonionis LA NOTTE, DIE LIEBENDEN, JULES ET JIM. Bei den letzten drei Filmen ist die Handlung auch nicht sehr weit von GERTRUD entfernt. In diesen Filmen drückte sich seinerzeit Modernität aus. Unabhängige Kameras, entfesselter Ton, weit entfernt von jedem Studio. GERTRUD kommt dagegen wie die Inkorporation von Opas Kino daher. Vorwiegend hoch artifiziell ausgeleuchtetes Studio, nur eine steife Plein-Air-Szene, mehr rezitieren denn sprechen, bis auf einen zentralen Achsensprung hin – ein Kuss, der den Ehebruch markiert – wird das Raumkontinuum unbedingt gewahrt. Und der Rhythmus von einer ebenmäßigen Ausgewogenheit, dass es einen aufgekratzten Menschen schaudern lässt. Dieser Film will nichts bedienen. – Der Schauspieler des jugendlichen Liebhabers im Film, Baard Owe, allerdings erzählt im Interview, er hätte den Film und die Arbeit daran nicht verstanden, und Dreyer hätte ihm daraufhin gesagt, der Film wäre für Frauen mittleren Alters gemacht. Und tatsächlich, als der Film in Kopenhagen im Kino lief, sah er davor lange Schlangen von Frauen mittleren Alters. – Vielmehr, denke ich, fordert der Film eine Situation, wie sie Handke beschreibt:

… [es] geschah mit dem heiteren Schwung, welchen ein Schauspieler empfängt von seinem vollkommen geistesgegenwärtigen Publikum – war der sogenannte Humor demnach nichts als die glückliche Geistesgegenwart?
Peter Handke, Die Wiederholung, Frankfurt/M 1986, S. 302

Oder anders: Ein klassischer Musiker, der in Japan gastierte, erzählte einmal von dem japanischen Publikum, das sich für klassische europäische Musik interessiert und das völlig leer, völlig geöffnet zum Konzert erscheint. Ich denke, so etwas ist angesichts GERTRUDs gefordert.

Was in GERTRUD deutlich wird, weil der Film eben so pur ist, ist das nahtlose Ineinandergleiten von Filmbewegung und Montage. Es ist natürlich auch schon in den Vorgängerfilmen vorhanden. Dort ist es aber weniger kenntlich, weil man vom traditionellen Identifikationskino mitgerissen wird. GERTRUD lässt sich weniger über Identifikation erschließen. Nicht jeder befindet sich schließlich im Stadium der Frau mittleren Alters. Wie Dreyer selber berichtet, war er in seiner Jugend nach einer Tätigkeit als Journalist als Dramaturg für eine Filmproduktion tätig und übernahm dann die Schnittabteilung. Seinerzeit konnte aus Beleuchtungsgründen nur im Sommer gedreht werden. Die Regisseure drehten einen Film nach dem anderen und konnten sich um den Schnitt nicht kümmern. Diese Arbeit übernahm Dreyer. Und das er vom Schnitt her denkt, ist den Filmen anzumerken. Er ist nicht nur der große Bildfinder sondern auch ein großer Rhythmiker, seine Filme von hoher Musikalität.

Filme zu machen heißt, Zugänge zu finden, zu Bildern, die es alle schon gibt. Worauf es ankommt dabei, ist die eigene Verbindungsstelle zu finden zur unablässigen Bildproduktion des eigenen Unbewussten. (Vgl. auch Christoph Türcke: Philosophie des Traums, München 2008) Neben allen epochalen künstlerischen Neuerungen, die LA PASSION DE JEANNE D’ARC aufweist – die Eliminierung des Raumes, die flache Einstellung, Kameras, die aus dem Lot geraten, ein Dialogfilm, der aber ein Stummfilm ist, Gesichtslandschaften, ein Kulissenfilm, bei dem man die Kulissen nicht sieht – all diese Dinge, die Sie in jeder Broschüre nachlesen können, ist er ein Film vom Weinen. Ganz wörtlich ist das genommen bei Godard in VIVRE SA VIE, in dem Anna Karina angesichts einer Projektion von JEANNE D’ARC in Tränen ausbricht. In vielerlei Hinsicht bezieht sich Godard auf Dreyer. Das antipsychologische flache Bild hat er sicher hier gefunden und konnte ihm auf Grund von nunmehr verfügbaren längeren Brennweiten den Raum noch weiter austreiben. Aber ebenso gut kann Godard mit Kontinuum und Raumtiefe umgehen wie Dreyer. Wenn die junge Kaufmannsfrau in TAG DER RACHE die Säulenhalle des Kirchenschiffs durchquert, muss ich auch an die zentrale Dialogszene zwischen Piccoli und Bardot in ihrer Wohnung in LE MÉPRIS denken. Die Wenigsten werden Dreyer und Sergio Leone in Verbindung bringen wollen, aber müssen wir nicht eine Oper in Gesichtern wie SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD von JEANNE D’ARC her denken? Sowie den manieristischen Gebrauch des Zooms in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN von Faßbinder und nicht zuletzt jeden Szenenabschluss in Dynastie oder Dallas, der mit einer Naheinstellung des Gesichts des im Raum verbliebenen Darstellers endet, vielsagend nichtssagend, dann Werbung. Gerade eine Travestie kommt ohne ein Vorbild nicht aus.

Zurück zum Weinen:
Inwendig in mir sei ein einziges großes stilles heißes mächtig nach außen drängendes Weinen, es sei da nicht bloß, es „wüte“, und gerade das mache meine Stärke aus.
Peter Handke, Die Wiederholung, Frankfurt/M 1986, S. 302

Dreyers Filme, wenn man sich denn auf sie einlassen kann, haben die Kraft zu öffnen. Persönlich beginne ich stets zur Hälfte des Films ORDET zu weinen und es hält dann bis zum Ende hin an. Das mag biographische Gründe haben, aber auch daran muss ein Film erst einmal rühren können. Und in diesem Sinne des Öffnungspotentials sehe ich auch einen Film wie LA FRANCE von Serge Bozon in Dreyer’scher Tradition. Um Weinen, Rhythmus und Musik zum Abschluss zusammenzubringen, ein Zitat von Adorno über den Ursprung der Musik:

“Wie das Ende, so greift der Ursprung der Musik übers Reich der Intentionen, das von Sinn und Subjektivität hinaus. Er ist gestischer Art und nah verwandt dem des Weinens. Es ist die Geste des Lösens. Die Spannung der Gesichtsmuskulatur gibt nach, jene Spannung, welche das Antlitz, indem sie es in Aktion auf die Umwelt richtet, von dieser zugleich absperrt. Musik und Weinen öffnen die Lippen und geben den angehaltenen Menschen los. Die Sentimentalität der unteren Musik erinnert in verzerrter Gestalt, was die obere Musik in der wahren am Rande des Wahnsinns gerade eben zu entwerfen vermag: Versöhnung. Der Mensch, der sich verströmen lässt im Weinen und einer Musik, die in nichts mehr ihm gleich ist, lässt zugleich den Strom dessen in sich zurückfluten, was nicht er selber ist und was hinter dem Damm der Dingwelt gestaut war. Als Weinender wie als Singender geht er in die entfremdete Wirklichkeit ein. „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder“ – danach verhält sich die Musik. So hat die Erde Eurydiken wieder. Die Geste der Zurückkehrenden, nicht das Gefühl des Wartenden beschreibt den Ausdruck aller Musik und wäre es auch in der todeswürdigen Welt.”
Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M 1978, S. 122

Wolfgang Schmidt
26.02.2010

Einführung zur Dreyer-Retrospektive im Kino Arsenal, Februar/März 2010

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