Freitag, 09.07.2010

Ortswechsel

The little boy who, after several years‘ attendance at the movies, was one night taken by his father to a staged play — Stevenson’s „Treasure Island“ — a marvel of high adventure in strange places across strange seas, even in its stage form — summed up for me (Maurice Tourneur, 1918 in VARIETY) the crux of difference between the spoken and the screened drama in what he said after the curtain had fallen on the last act.
„Well,“ said the pater, „now, Bobbie, that you’ve seen your first spoken play on the regular stage, after all the many plays you’ve seen at the movies, what do you think of it?“
„The people stayed too long at the same place!“


The Blue Bird, Maurice Tourneur, 1918

Tourneur expressed his love for cinema by saying that it has „a brutality that no other medium of expression possesses“. (Richard Hand)

Barthelemy Amengual fand, Hawks, Vidor und Ford seien von Tourneurs Victory beeinflusst. Auf seinem Parcours durch die frühe Filmgeschichte hat Ekkehard Knörer am Sonntag die Sichtung von Victory (1919) absolviert. Wucht und Schärfe der Joseph-Conrad-Verfilmung kommen ganz anders zur Sprache in einem Artikel in „Conradiana“. Darin weist Richard Hand auf Tourneurs Jahre als Regisseur im Théâtre du Grand Guignol hin.

But the Grand-Guignol is not simply about the enactment of violence; it carries far-reaching implications regarding the issue of character. Grand-Guignol is a late, and frequently ironic, evolution of melodrama, but it is even more indebted to stage naturalism. With this in mind, it is interesting to note that Tourneur worked under André Antoine, the great French naturalist director, for seven years (from 1902). Despite fulfilling so many of the conventions of silent movie melodrama, Tourneur’s Victory is something special. It would be unfair to describe all the characters and performances as merely melodramatic: Jack Holt as Heyst and Seena Owen as Alma are not the mere ciphers that heroes and heroines are in many other films of the period. Indeed, Tourneur has been acclaimed as an „early ‚woman’s‘ director“ for his comparatively sophisticated construction of female characters. A key moment in Victory is Alma’s nonchalance after the fight with Ricardo (an incident that is both loyal to the book and impressive on screen): when Alma sucks the bruise on her arm and adjusts her sarong, she is a woman of the world, not the blushing flower of screen melodrama who would have probably swooned long before. (Richard Hand: Loving and killing: the two great adventures in life)


Im Himmel trennt Mister Time zwei Liebende – vor ihrer Geburt. Es soll die größte Traurigkeit auf Erden ihr vereinbartes Erkennungszeichen sein. Regardless of the merits of Maeterlinck’s The Blue Bird, Tourneur’s film holds, according to silent film historian Kevin Brownlow, a contradictory position, being regarded as the single greatest silent movie ever made by some and totally unwatchable by others. (Richard Hand)


Figures de cire, 1914. Eine Nacht im Wachsfigurenkabinett. Schönheit im Nitratkopienschaden.

Mag sein, daß das Ich sich nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen fortsetzt, dem das Ich als trügerische Fassade dient. Aber nach außen wenigstens scheint das Ich klare und scharfe Grenzlinien zu behaupten. Nur in einem Zustand, einem außergewöhnlichen zwar, den man aber nicht als krankhaft verurteilen kann, wird es anders. Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen. Allen Zeugnissen der Sinne entgegen behauptet der Verliebte, daß Ich und Du eines seien, und ist bereit, sich, als ob es so wäre, zu benehmen. (Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, 1930)


Vivian Martin und Chester Barnett in The Wishing Ring, 1914. Trauben, Schürzen, Rosen, Sonnenschein. Was ist schwerer zu beschreiben als das, was man „natürliches Spiel“ nennt?

Maurice Tourneur, in VARIETY, 1918: In the myriad ranks of everyday life there are countless geniuses that would win fame and fortune on the stage or in the studio if the powers they have were but developed. It is this latent capacity for drama that makes children in their pantalettes and frocks play house and weave romances and tragedies in their little worlds of make-believe that often startle listening grown-ups. *


Robin Macdougal und Katherine Bianchi in The Blue Bird, 1918.
Vor dem Kuss wischt sich der Junge den Mund ab.

Eines der vielen Ausdrucksmittel, die dem Kino mit der Zeit geraubt wurden, ist der Blick in die Kamera. Oliver Hardy war der größte Virtuose dieser Kunst, Zbynek Brynych ihr Verteidiger: „Einmal sollten sich Zwei durch eine Glasscheibe in einer Haustüre hindurch küssen. Aber weil einer der beiden verhindert war, mußte ich beide getrennt von einander filmen. Also ließ ich die beiden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils alleine das Glas küssen und dabei in die Kamera sehen. Als ich das später zusammenschnitt haben die beiden einander dann geküßt, wirklich geküßt.“ *

Ich applaudierte hier vor Jahren Klaus Wybornys Äußerung, eine Sprache sei der Film nicht, weil er nicht verneinen könne. Sieht man die Verwandtschaft von Film und Traum, ist folgendes interessant:
Das ‚Nein‘ scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Freiheit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen, so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen Element weiß; ob es in dem Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist.
Aus einer Arbeit von K. Abel, Der Gegensinn der Urworte, 1884, erfuhr ich die überraschende, auch von anderen Sprachforschern bestätigte Tatsache, daß die ältesten Sprachen sich in diesem Punkte ganz ähnlich benehmen wie der Traum. Sie haben anfänglich nur ein Wort für die beiden Gegensätze an den Enden einer Qualitäten- oder Tätigkeitsreihe (starkschwach, altjung, fernnah, bindentrennen) und bilden gesonderte Bezeichnungen für die beiden Gegensätze erst sekundär durch leichte Modifikationen des gemeinsamen Urworts.
(Sigmund Freud: Die Traumdeutung, 1910)

„Und gleich danach die Frage: sind Traumbilder zwei oder dreidimensional, und immer wieder auch die Frage: sind Traumbilder überhaupt Bilder? Es fühlt sich merkwürdig an, sagen zu müssen: Ich weiß es nicht, aber es stimmt,“ – das finde auch ich und bin begeistert von Klaus Wybornys Text „Rhythmus im Blut, Der gefallene Engel“.
Und, ja, „man könnte es herausfinden, man müßte mal drauf achten, aber das sage ich mir seit zehn Jahren, solange sage ich jedesmal: Ich weiß es nicht, das ist schon sehr merkwürdig.“

Kevin Brownlow erzählt (im Gespräch mit Christine Leteux), er habe auf der Grundlage zahlreicher Interviews ein Buch geschrieben über Maurice Tourneur, es aber nie veröffentlicht. Denn als ihm Jacques Deslandes sagte, auch er schriebe ein Buch über Maurice Tourneur, gab Brownlow sich geschlagen, angesichts der Menge der zusammengetragenen Dokumente.
„He even had his exercise book from the Lycee Condorcet. Unbeliveable. And Scripts and contracts and letters and…
He disappeared! Nothing more was heard from Jacques Deslandes. The documents disappeared… Fade out, fade in. Many years later, two men came to see me at my office, they said they were writing a book about Maurice Tourneur. And they had the most amazing documents. They didn’t have the exercise book, but they had the equivalent, really astonishing things. They have disappeared too! (Laughs) The documents have disappeared. I just don’t know what’s going on … So, I appeal to anyone who’s reading this and has a lead on what has happened to those precious documents… Somebody should do a book on Maurice Tourneur!“

4 Kommentare zu “Ortswechsel”

  1. Ekkehard Knoerer schreibt:

    Danke vor allem für den Hinweis auf Maurice Tourneurs mir zuvor unbekannten Grand-Guignol-Hintergrund. Das ist nicht nur deshalb interessant, weil damit ein eindeutiger Link zu André Antoine gesetzt ist, eine Verbindung, die mir, als ich dann gestern über dessen Film schrieb, gar nicht klar war. Oscar Méténier, der spätere Gründer des Theaters Grand Guignol, war ja in der Tat nicht nur Assistent des Polizeichefs von Paris, sondern einer der erfolgreichsten Autoren von Antoines naturalistischem Théâtre Libre.

    Es trifft sich, dass damit mein Verweis auf Tod Browning im „Victory“-Text noch einmal in einem anderen Licht steht – ich habe sogar einmal (mit Stefanie Diekmann) einen Aufsatz geschrieben über Brownings – keineswegs direkt nachweisbares – Verhältnis zu Grand Guignol. Die zentrale These, dass nämlich Brownings Filme immer Meta-Spektakel sind und die Pointe haben, den Zuschauer potenziell jederzeit zum Beteiligten zu machen, könnte man sehr gut zu „Victory“ und etwa der Vorhangszene in Beziehung setzen. Aber auch und gerade in dieser Vergleichshinsicht scheint mir der Tourneur-Film auf ästhetischer „Bannung“ zu beharren. (Wenn ich recht verstehe, ist Dein Eintrag neben anderem auch ein Einspruch gegen diese Behauptung?)

  2. Rainer Knepperges schreibt:

    Danke für dein Nachhaken! Gelegenheit, für das Unzusammenhängende des Eintrags „meine Leser um Entschuldigung zu bitten“, und ganz wie der famose Freud im letzten Kapitel des Unbehagens, „nachträglich etwas gutzumachen.“

    Also die dunklen weichen Bildränder sehe ich, anders als du, nicht als Rahmen von Kompositionen mit darin eingesperrten Darstellern. Unsere weißen Webseiten sind der falsche Hintergrund. Richtig wäre der dunkle Kinosaal. Man kann nämlich, wenn man will, im frühen Kino einen (letzten) Widerspruch gegen das Rechteck wahrnehmen. Dazu gehört, dass uns Gesichter und Körper – insbesondere Paare – in diesen alten Filmen so häufig frontal begegnen. Wir haben uns an das vornehm Abgewandte des „modernen“ Kinos gewöhnt, leben quasi in der Bresson-Zeit. Ich finde den lässigen Frontalismus der „Primitiven“ toll. Befördert er doch die unklaren Affekte, in deren Folge sich das traumhafte Erleben im Kino erst einstellt: die flüchtigen Ortswechsel, das fließende Sich-Identifizieren, die ansteckende Verwirrung von Aggression und Liebe. Ich erinnere mich, wie sehr mich das Hitchcock-Buch von Patalas überzeugte, mit der simplen Feststellung, dass Hitchcockfilme von Paaren handeln. Aber klar, wie gut erklärt das den ungeheuer wirkungsvollen Schrecken, der sich da immer wieder einstellt, beim bloßen Anblick des Anderen im Profil.

  3. Ekkehard Knoerer schreibt:

    Sehr interessante Überlegungen. Ich will nicht direkt, eher vornehm seitwärts gewandt widersprechen. Könnte es nicht sogar sein, dass da geradezu ein Paradox wirksam wird – dass nämlich die weiche Rahmung durch Schwarzraum die Figuren im Bild zwar einbettet (würde ich vielleicht doch eher sagen als einsperrt), gerade dadurch aber jene Diffusionszone eröffnet, die den Übertritt ins affektive Traumerleben des Bildgeschehens möglich macht? Nicht zuletzt die Irisblende, die so beliebt ist in dieser Phase des Kinos, wäre das Emblem dieses Sachverhalts: Sie lässt verschwinden, indem sie fokussiert, sie lässt ins Dunkel gleiten und aus dem Dunkel herangleiten und macht das gerahmte Bild im Rechteck dazwischen zu einer Art Übergangsklarstadium. Umso instruktiver wären dann aber die Unterschiede. Nochmal zu Browning: Er ist – wenn ich mir da jetzt nicht ein falsches Bild in der Erinnerung mache – kein Mann der weichen Rahmen und Irisblenden. Was dann möglicherweise zu meiner These passt, dass er immer schon ein Meta-Traumtheater veranstaltet und möglicherweise diesen Distanzierungsschritt durch das Grand-Guignol-haft Brutale seiner Effekt- und Affektproduktion zu kompensieren versucht. Tourneurs „Victory“ rahmt das Geschehen dagegen zu Diffusionsbildern mit „unklaren“ Affektwirkungen.

    Ausgerechnet Bresson würde mir nicht einfallen zum Nicht-Frontalismus. Jedenfalls ist der Weg von Bresson zu meinem heiß geliebten Möchtegern-Bresson-Schüler Eugene Green sehr kurz, der sich eine Ästhetik und einen Spaß daraus macht, Dialogszenen immerzu in Frontalkonfrontationen seiner Darsteller mit der Kamera münden zu lassen. Was sicher noch einmal etwas anderes, nämlich absichtlich Brechtischeres ist als die Frontalität im früheren Kino, die nicht auf Verfremdung, sondern auf Affizierung zielt. Aber andererseits werde ich ja doch auch total affiziert von Greens Unverwandtismus.

  4. Rainer Knepperges schreibt:

    Leider kenne ich nur drei der zwölf Filme von Browning & Chaney. Ich verknüpfe mit ihnen: grell waches Entsetzen und sanft gewecktes Mitleid, also ganz andere Sensationen als die des Traums. Ich stimme deiner Unterscheidung also voll zu.

    Wenn ich hier mal salopp die „Modernen“ (nach Bresson) trenne von den „Primitiven“ (zu denen ich noch Hitchcock zähle), so geschieht das entlang folgender Linie:
    Bei Hitchcock ist die Frontalansicht der Darsteller das Selbstverständliche. Nicht umsonst: die zahllosen Zugreisen, die Autofahrten oder Essensszenen an Tischen. Was im Leben eigentlich rar ist, das frontal Ansehen, machen diese Filme mit Bedacht zur gewohnten Norm, – um von ihr heftig abzuweichen, in Profilansichten, deren Kälte schaudern lässt. Liebesentzug! Angst!

    Ist es so falsch, wenn ich denke: bei Bresson ist es genau das Gegenteil? Tausend Handgriffe, tausend Fußschritte, tausend Schultern sind im Bild, bis Gesichter einander frontal begegnen. Liebesgeständnis! Mozart!

    Natürlich sind solche Oppositionen immer nur Rhetorik, Kampfgebrüll: Primitive vor, noch ein Tor! In dem Sinne fordere ich die Einwechslung von William Castle. Der flankt wie Browning; der kann nebenbei den Brecht decken; der dribbelt, wenn’s sein muss, in totaler Finsternis.

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