Freitag, 30.07.2004

Zu ABOUNA:

Großer Bruder und kleiner Bruder suchen nach ihrem Vater, der sich aus dem Staub gemacht hat. Eine rigide Gesellschaft hindert sie daran, ihr Ziel zu verfolgen. Ich schaue neugierig zu, gespannt darauf, was sich die beiden Jungen einfallen lassen werden.
Plötzlich stirbt der kleine Bruder. Meine Empörung ist unmittelbar. Nicht nur, weil eine sympathische Figur – und ein großartiger Kinderdarsteller – völlig unerwartet aus der Geschichte eliminiert wird, sondern weil der Film danach seine erzählerische Geschlossenheit aufzugeben scheint. Die dem Sterben folgende Darstellung vom tumben Liebesglück des großen Bruders empfinde ich als Verrat, als unproduktive stilistische Entgleisung. Spontan unterstelle ich mangelnde Inspiration, die sich als herrische Autorenintention gebärdet und einen unfertigen Plot per Mord am Personal hinter sich bringt.

Vs Anregung, den Tod des jüngeren Amins als Sinnbild zu lesen für das Ende der Kindheit des älteren Tahir, rettet mich. Ausgestattet mit diesem Schlüssel bin ich wieder in der Lage, die sehr feine Kompositionsarbeit des Films zu erkennen, sie gerade an dieser Bruchstelle bestätigt zu sehen.

Man hat es hier mit einer Versuchsanordnung zu tun, die die Last des Subjekt-Werdens auf die Schultern mehrerer Akteure verteilt. Wie in einem symbolistischen Gemälde (die drei Menschenalter, die vier Jahreszeiten o.ä.) werden verschiedene Entwicklungsstufen im Rahmen desselben Tableaus einander gegenüber gestellt – ein Gleichzeitigkeitsmodell von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Amin verkörpert die extrovertierte Naivität des Kindes, das mit seiner entwaffnend klaren Haltung das Wesen der Dinge berührt. Ein Verlust, der kaum auszuhalten ist.

Der Vater, in seiner an Nicht-Stofflichkeit grenzenden Blassheit, personifiziert den Weg, den der Sohn, diese im Entstehen begriffene Biographie, noch vor sich – imaginärer Fluchtpunkt für männliche Sozialisation in der Phase, in der am Horizont des Bewusstseins aufdämmert, dass Leben nicht einfach nur passiert, sondern Möglichkeiten individueller Gestaltung bereit hält.
Vater Morgana – die weiße Wüste, in der der Mann während des Vorspanns entschwindet, drückt auch das zum Fürchten weite Feld dunkler Ahnungen des Sohnes aus von einer noch auszufüllenden Rolle.

Väter lassen sich auch im Kino suchen – für viele Menschen ist Teilnahme an Populärkultur ein wichtiger Schritt bei der Ausbildung eines eigenen Wertesystems: man beginnt, selbst zu bestimmen, wer als Vorbild in Frage kommt. Wahlverwandschaften.
(Viel eher als Goethe fällt mir Musil ein. Dass die Gewinnung ganzer Figurenensembles aus den Facetten einer einzelnen Persönlichkeit zur beliebten Schriftstellermethode avancierte nach Entdeckung der Psychologie, das habe ich das erste Mal kolportieren gehört über den Mann ohne Eigenschaften.)

Dem Kind-Sein entwachsen heißt, auf das offene Meer des Lebens hinauszusteuern. Davon handelt ABOUNA.

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