Über „Persévérance“ von Serge Daney
Serge Daney, „Persévérance. Entretien avec Serge Toubiana.“ Paris 1994. – Dt. Im Verborgenen. Kino – Reisen – Kritik. Wien 2000.
Ausschnitt aus einem schriftlichem Gedankenaustausch zwischen Jürgen Ebert und Johannes Beringer
(Dezember 2001/Januar 2002)
(Jürgen Ebert:)
Mir ist die Frage der Filmkritik wichtig. Ist es nicht tatsächlich so, dass die Entwicklung, die das Kino nach Bazins Tod nahm, später dazu nötigte, dass man sich von seinem Erbe lossagen musste? Eine Entwicklung, die vor allem durch „Selbstreferenz“ des Kinos gekennzeichnet war, also durch eine gewisse Tendenz der Filme, nicht nur mit Filmzitaten zu spielen, sondern das Reale als ein Zitat auszugeben, in der Art eines Metakinos, als ob die Wirklichkeit sich nur noch durchs Kameraobjektiv wahrnehmen liesse. Der humanistische, phänomenologische Blick, der noch für das Kino des Neorealismus ganz selbstverständlich zuständig gewesen war, verlor sich allmählich in den sechziger Jahren. Der Blick richtete sich mehr nach innen und in eine innere Leere, die durch die Konsumwelt entstanden war. Die „Szenographie des Blicks“, wie Daney es nannte, war zerbrochen. Plötzlich fand sich das Kino als Teil einer veränderten, gefährdeten, semiotisierten Umwelt wieder, es fand nicht mehr im dunklen Saal statt, sondern repräsentierte die ganze gekippte Medienwirklichkeit, die Welt der Simulakren, die für mehr Kulturerlebnis, für mehr Subjektivität warb. „Gucken wir Film“ war die Parole der neuen Programmzeitschriften mit ihren albernen Punktebewertungen. Kein Bundesland, das Film nicht fördern mochte, ob als wirtschaftliche Investition oder als Kulturfaktor.
Und an dieser seltsam zwiespältigen, aufgewühlten, kritischen Erneuerung des Kinos, die eigentlich erst mit seinem vorhergegangenen Niedergang einsetzte, setzt nun Daneys Analyse an: Die Diagnose, die er dem Kino stellt, lautet schlicht, dass die visuelle Information den Bezug der Bilder zur sichtbaren Realität auflöst und dass diese Auflösungserscheinungen in den Kinofilmen selbst sichtbar werden.
Mit anderen Worten, die Bazinsche ästhetische Einheit von Kino und Wirklichkeit, die Tradition eines gewissen poetischen, bildontologischen Realismus, verliert sich in der Allgegenwart der Aufzeichnung der Bilder und Töne (im „Audiovisuellen“). Nicht nur das Kino, die Welt im ganzen ist als Objekt hinfällig geworden, wir sind in eine ökologische „Prozessrealität“ eingetreten, die erfahrbare Welt präsentiert sich in auswechselbaren „Szenarien“. Scheinbar alles kann da gezeigt, aber kaum noch etwas richtig gesehen werden, oder umgekehrt, alles wird sehbar, kann aber immer schlechter „vermittelt“ werden. Ein Wort von Bertrand Russell fällt mir ein: Je besser die Logik, um so weniger lässt sich etwas beweisen.
Ich glaube, das ist der Hintergrund, vor dem die scheinbar paradoxe Behauptung, das Filmbild sei nicht Gegenwart, zu verstehen ist. Das Visuelle ist etwas Zerebrales, das jeweils auf den Wahrnehmungsebenen spielt, auf denen man die Dinge anvisiert. Du könntest dir mit der Kamera auch die Silberkörner sichtbar machen, wenn sie belichtet werden, oder fliegende Elementarteilchen lassen sich in einem Hochenergiebeschleuniger fangen, doch wenn du das Bild so weit in die optische Information der Materie hinein auflöst, kommst du irgendwann in Bereiche des Immateriellen und rein Symbolischen.
Damit will ich nur sagen, daß das Kino nichts wirklich abbildet ohne eine bestimmte Sehweise. Es ist das Verlangen zu sehen, das etwas sichtbar macht. So daß die Filme also keineswegs in einer beliebigen aktuellen Gegenwart abrollen, sondern in einer Illusion von Gegenwart, in einer Virtualität verschiedener denkbarer Welten. Die „Gegenwartskunst“ filmischen Sehens besteht eben darin, in einem einzigen Bild die Welt anhalten zu können, „woanders“ zu sein und die Urteile über die Wirklichkeit aufzuheben. Ohne die Möglichkeit eines solchen Stillstandes der Bilder (S. 26) würde unser armes Auge nur Flimmern sehen. Die Wirklichkeit ist grundsätzlich eindeutig, ein echtes Bild dagegen unendlich vieldeutig – das ist der Trancemoment der Filmkritik, völlig nutzlos, aber unersetzbar. Allein aus dieser symbolischen Reflexionsfähigkeit des inneren Auges schöpft, recht verstanden, im Sinne Bazins noch, der Mythos des totalen Films.
Aber ich fürchte, dies idealistische, selbstreflexive Element in der historischen Erfindung des Kinos ist seinen Nutzern heute gar nicht mehr bewusst.
(Johannes Beringer:)
Nach der Phase oder während der Entwicklung, die Du beschreibst (semiotisiertes Kino/semiotisierte Umwelt), war es für mich aber so, dass die Anfänge wieder durchdrangen und wichtig wurden: etwa in dem elementaren Zugriff, den Huillet & Straub praktizieren. Der Kulturschock (den Sitz unter dem Hintern spüren), den ihre Filme auslösen, stellt sich ein, weil sie geradezu eisern (mit avanciertesten Mitteln) Kino-Anfang herstellen … das heisst, Kino immer wieder auf Kinematographie zurückführen. (Wenn man sich an die Begriffsunterscheidung hält, die Morin in seinem Buch „Der Mensch und das Kino“ von 1956 macht.) Es ist wirklich eine – veraltetes Wort – materialistische Ästhetik, die sie auf Film anwenden (mit all dem natürlich, was das geistig impliziert): das Gekräusel des aufsteigenden Zigarettenrauchs, das Glitzern eines Sees faszinierte die ersten Kinozuschauer mehr als die Bewegung ‚grober‘ Körper (die kannten sie nämlich schon durch die Vorformen der Kinematographie). – Ich könnte hier auch die Filme von James Benning, Chantal Akerman oder Pedro Costa nennen. Solange solche Anfänge da sind, ist noch kein Ende.
Semiotisierte Umwelt? Ja – aber im Kino geht es immer auch um dieses Minime, Unmerkliche, Nicht-Fassbare, nicht zu Fassende. Um die Wellen, die sich immer wieder anders brechen (woran also nicht nur die Filmanalyse, sondern schon ganze ‚logische Wissenschaften‘ gestrandet sind). Überhaupt sollte dieser Begriff ‚Analyse‘ in den Geisteswissenschaften mal für ein paar Jahrzehnte beiseitegelegt werden – so lange jedenfalls, bis das naturwissenschaftlich Aufgeladene darin (mit den Kriterien Wiederholbarkeit, Genauigkeit, Überprüfbarkeit) verschwunden ist. Vor einem Film, einem Text oder einem Bild geht es gar nicht um Analyse, sondern um das Finden der richtigen Worte, die mit der eigenen Empfindung auch den Gegenstand bezeichnen. Also um eine Art der Annäherung, die die richtige Brennweite, die richtige Nähe und Distanz findet – so wie es etwa Helmut Färber in seinen Filmbeschreibungen und Texten gelungen ist. Sein auf den ersten Blick ‚bescheidener‘ Ansatz hat sich als viel reicher erwiesen als der pseudo-objektive Uni-Wissenschafts-Popanz.
Ich möchte also auf diesem Anteil des ‚Ungesehenen‘, ‚Entwischenden‘ bestehen, der freilich zu benennen wäre. („Das Unregelbare des Lebens“ lautete mein letzter Titelvorschlag für „Persévérance“; mit „Im Verborgenen“ konnte ich nicht so viel anfangen). Selbst bei einer montierten und hervorgehobenen Szene kann es vorkommen, dass sie der Aufmerksamkeit irgendwie entgleitet: Daney nennt die „vorbeihuschende“ Montage gegen Ende von Psycho, „aus der nur groteskes Zubehör hervorragt: ein kubistischer Schlafrock, eine fallende Perücke, ein gezücktes Messer.“ Bei Fritz Usinger habe ich in dem Band „Rose und Lotos“ diese Notiz gefunden: „Das Unsichtbare ist dasselbe wie das Sichtbare. Aber das Unsichtbare ist stärker als das Sichtbare.“
Ein Satz, der wie für Abbas Kiarostami geschrieben sein könnte – für seine letzten Filme jedenfalls.
(Ebert:)
Du sprichst von den Anfängen des Kinos und von den photographischen Schönheiten des Filmbildes, aber sind diese Schönheiten nicht primär analytischer Natur? Ihrer Herkunft nach ist die Filmkamera ein Instrument der Analyse, eine optische Sonde, die in die Struktur der Materie eindringt und dem menschlichen Auge die stumme Physiognomie der belebten und unbelebten Natur enthüllt. Es ist ja nicht so, dass das Kino durch eine blosse intellektuelle Mode „semiotisiert“ worden wäre, vielmehr ist das Kino eine Semiotik, die uns die sichtbare Welt als einen Zeichenprozess deuten lehrt. Das Sehen mit der Kamera, die selbst nicht sieht, nur aufnimmt, schreibt den scheinbar natürlichen Dingen ihre historisch-materielle Signatur ein. Deshalb auch ist die Einstellung eine Angelegenheit der Moral, eine Kadrierung oder eine Kamerafahrt sind Formen, die ins Visuelle hineinschneiden. „Es geht darum, jedem Augenblick des Menschenlebens seine historische Bedeutung zukommen zu lassen“, so wollte es, in Zavattinis Worten, der Neorealismus. Das Wirkliche wird erst wirklich wahrnehmbar, wenn wir es erforschen.
Jetzt würde ich dich gern mal fragen, wie du zu diesen Fragen stehst. Denn der Begriff der filmischen Einstellung, wie Daney ihn noch von Rivette übernimmt, der geschrieben hatte, der Cineast beurteile, was er zu zeigen habe, und er werde beurteilt nach der Art und Weise, in der er es zeige, diese Sichtweise aufs Kino stellt doch eine enorme kritisch-theoretische Herausforderung dar, auch wenn von all dem der heutige Medienservice keine Ahnung mehr hat.
(Beringer:)
Mein Problem ist, dass ich nicht weiss, was das sein soll: ein Bild oder eine Einstellung als Zeichen. Wenn ein Film ‚redet‘, dann ist das Faszinierende doch gerade, dass das auf einer anderen, vielleicht averbalen oder vor-verbalen Ebene geschieht und eben nicht so ‚lesbar‘ ist wie ein Text. Die Verführung ist immer wieder gross, die Sprachen zu verwechseln – natürlich soll man verbalisieren, in Worte übersetzen, denken, was man da gesehen und gehört hat, aber das heisst ja noch nicht, die beiden Ebenen nicht auseinanderzuhalten und für sich, wie zwei parallele Welten, bestehen zu lassen. (So wie es in einem selbst ja auch geschieht: vor dem Einschlafen wälzt man noch Worte und Sätze, danach kommen die Bilder – man ist näher am Schlaf.)
Sicher sind die Einstellungen ‚aufgeladen‘ mit Absichten, Gedanken, Gefühlen und tragen ihre ‚historisch-materielle Signatur‘ (Deleuze hat ja versucht, die verschiedenen Arten von Filmbildern zu charakterisieren), aber ein Bild ist trotz allem immer noch etwas für sich – interessant darin ist auch der sozusagen nicht-menschliche Anteil. Und je mehr ein Bild nur noch Zeichen ist (schliesslich zur Chiffre herunterkommt, wie etwa die Nachrichten-Archivbilder für ‚Judenvernichtung‘ und ‚Auschwitz‘), desto verbrauchter und nichts-sagender wird es – oder entzieht sich eben.
Aus einem Film, den Helmut Färber zum 80. Geburtstag von Robert Bresson gemacht hat (WDF, 24.9.1987), habe ich mir diese Wort-Passage herausgeschrieben (er vergleicht Abbildungen in Büchern mit Fotos, die direkt vom Filmbild abgenommen worden sind, und stellt das für die Textproduktion vielfach Zurechtgeschnittene heraus): „Was ist es, was da verloren ist? Wie im menschlichen Denken Bewusstes und Unbewusstes zusammenwirken, so wirken in einem Bild Bedeutendes und Unbedeutendes zusammen, Bedeutendes und Nicht-Bedeutendes. Das Bedeutende: das, was spricht. Das Unbedeutende, Nicht-Bedeutende: das, was ist, existiert. Durch das Zusammenwirken von beidem ist ein Bild Sprache und ist es zugleich ein Stück Welt, hat teil an der Lebenswirklichkeit eines Menschen und an der Menschheitsgeschichte. Verloren, weggelassen ist, was zu wenig, was nichts weiter mitzuteilen, zu enthalten scheint und deshalb überflüssig, störend. Aber wo jenes Zusammenwirken des Bedeutenden mit dem Nicht-Bedeutenden in Bildern erst nicht mehr wahrgenommen, dann auch nicht mehr geduldet wird und verdrängt, da sind keine Bilder mehr, sondern Bildbegriffe, Information. Information ist körperlos. In Bressons ‚Noten zum Kinematographen‘ steht der Satz: ‚Mir unbedeutende (nicht bedeutende) Bilder angelegen sein lassen.‘ Und: ‚Wenn ein Bild, für sich betrachtet, etwas klar ausdrückt, wenn es eine Interpretation zulässt, wird es sich in der Berührung mit anderen Bildern nicht verwandeln. (…)'“
Meines Erachtens macht Daney in „Persévérance“ nichts anderes, als verschiedene Phasen oder Stadien der Annäherung an das, was ein Bild oder eine Einstellung ist, zu beschreiben. (Das geht bis zum Phantasma des Im-Bild-drin-seins, des Hindurchgehens durch es.) Das ist Teil seiner Cinébiographie. Auf die ’semiotische Phase‘ blickt er zurück. Das geschieht in einer Rede, die mit Sprache eher spielerisch umgeht – Erkenntnisse in sich verändernden Sprech- und Schreibzusammenhängen immer neu und vielleicht genauer zu formulieren versucht, sich improvisierend auch wieder-holt. Weniger im Vertrauen darauf, dass sich eine Theorie zusammensetze, als dass einige Pflöcke eingehauen werden, die dem reissenden Strom standhalten. („… wenn man schon ein Liebchen von Hypothese unter seinem Herzen trägt“, heisst es in einem Brief von Lichtenberg.) Das ist eine Vorgehens- oder Verhaltensweise, die ihn nicht nur mit Godard, sondern auch mit Bazin (und einigen anderen) verbindet.