Dienstag, 08.03.2005

Marivaux, mon frère, Inch’Allah!

„L’Esquive“ heißt das Ausweichmanöver beim Boxen. Abdellatif Kechiches gleichnamiger Film, der gerade überraschend vier Césars gewonnen hat, kommt fast ohne Schläge aus, wenn er Vorstadt-Jugendliche beim Einstudieren eines Theaterstücks in der Schule zeigt. Über die Leistungsfähigkeit von Sprache und darüber, was sich mit Marivaux in der Pariser Banlieue anfangen lässt, sprechen Stefanie Schlüter, Ekkehard Knörer, Volker Pantenburg, Stefan Pethke und Simon Rothöhler.

Stefan Pethke: Kechiche kommt mir vor wie jemand, der sehr genau hingeguckt hat, wie die Dardenne-Brüder seit ‚Rosetta‘ arbeiten: er kadriert total eng und gibt damit auch einen reduzierten Blick auf die Welt wieder. Aber er macht die Welt dadurch nicht ärmer. So eine Mischung aus Konzentration und Detailgenauigkeit, die einen dafür entschädigt, dass man eigentlich die ganze Zeit ausbrechen und den Rahmen erweitern möchte. Das ist eine tolle visuelle Übersetzung des Schlüsselbegriffs in diesem Film: „Druck“. Wenn ich als Zuschauer denke, ich möchte diesen Rahmen aufdrücken, dann komme ich genau hin zu diesem Begriff von „Pression“.

Volker Pantenburg: Jemand, der einen Film über Jugendliche in der Vorstadt macht, ist ja selbst einem Druck ausgesetzt: Spätestens seit den Achtzigern gibt es Banlieue-Filme, und seit Kassowitz‘ „Hass“ ist das als Genre im Mainstream kanonisiert. In diesem Genre gilt es fast als Gesetz, die Energie der sozialen Brennpunkte von vornherein als problematisch, als potentiell gewalttätig zu schildern.

Stefanie Schlüter: „L’Esquive“ ist vor diesem Hintergrund eine Rückeroberung dieses Raums und ein politischer Akt: Der Film zeigt diesen Raum und rehabilitiert ihn nicht mit der naiven Behauptung, das Problematische sei nicht da, sondern zeigt in einer Bewegung der Abweichung, wozu diese Energie auch fähig sein kann.

Pantenburg: Die erste Szene bleibt noch ganz im Rahmen der Gattung: Ein paar Jungs stehen aufgebracht zusammen und beschließen: „Den Typen machen wir fertig“. Krimo, einer von ihnen, geht dann nach Hause, um seinen Tschako zu holen. Und dann, als Lydia reinkommt in die Geschichte, die ihr Rokoko-Kleid fürs Theaterstück beim Schneider abholt, findet die erste dramaturgische Abweichung statt.

Pethke: Erzählt wird doch im Grunde, dass Krimo sich in dem Moment in Lydia verliebt, in dem er sie in diesem neuen Kleid sieht. Das ist gefilmt wie ein erster Blick, wie Liebe auf den ersten Blick. Erst hinterher erfährt man, dass die sich schon seit dem Sandkasten kennen.

Pantenburg: Die haben die Liebe gewissermaßen nur aufgeschoben; darum geht es doch auch in dem Stück, das die Jugendlichen im Französischunterricht einstudieren.

Ekkehard Knörer: Wobei das bei Marivaux sehr viel spielerischer ist, weil es ja darum geht, die Lust nicht aufzuschieben, sondern sie zu verlängern. Es gibt immer mehr Mitwisser, die halten aber immer mehr dicht und müssen immer forcierter dichthalten, um die Spielfläche weiterhin freizuhalten für die Verwechslungskomödie. Und die Stelle, an der hier im Film der größte Druck herrscht und zugleich der Rahmen bricht, ist die Szene, als die fünf von der Polizei aufgegriffen und brutal gefilzt werden.

Pethke: Dramaturgisch ist da Schluss, danach sieht man nur noch die Theateraufführung, wie ein Nachhall oder ein Echo.

Pantenburg: Der Polizeieinsatz war ein Schock. Da kommt auf einmal eine bösartige Form von Energie rein, die vorher zwar immer latent da ist, aber sich andere Wege sucht und findet. Der Schock besteht auch darin, dass das Figurenarsenal aufgesprengt wird. Plötzlich sind da Fremde, die da definitiv nichts zu suchen haben. Bei allen anderen Figuren hatte ich trotz allen Unwohlseins, das die mit sich rumschleppen, das Gefühl, dass die sich mit einer sehr großen Selbstverständlichkeit und Sicherheit durch ihr Terrain zwischen den Häuserblocks bewegen. Die haben ihre Orte, ihre Konventionen, ihre Zeichensysteme und wissen, in welchen Konstellationen wer wofür zuständig ist. Das ist ja ein autarkes soziales System, das da abgebildet wird: Als Lydia Geld braucht, fragt sie Krimo. Um an die Rolle im Theaterstück ranzukommen, greift Krimo auf die eigenen geklauten Dinge zurück. Und dieser Rahmen, der eigentlich immer eingehalten wird, bricht in der Polizei-Szene.

Knörer: Das ist zudem der einzige Moment, wo das Revier verlassen wird. Man weiß zwar nicht genau, wo die sind, aber man hat stark das Gefühl, dass es ein Außerhalb ist. Sie müssen da erst hinfahren – das ist ein bisschen wie beim klassischen Duell; die gehen vor die Stadt.

Pethke: Ich glaube nicht, dass das eine Bewegung aus diesem Territorium heraus ist, sondern eine bestimmte Zone im Bezirk: Dieses Duell kann man auch in seinen eigenen Gefilden stattfinden lassen.

Knörer: Sozusagen eine interne Exterritorialität…

Pethke: Genau. Und dass genau da der Staat auftaucht, weil er eben weiß, dass da bestimmte Dinge laufen, die woanders nicht laufen, finde ich sehr logisch.

Simon Rothöhler: Man hat nicht das Gefühl, dass dieser Ort ein Übergang ist zu besseren Vorstädten, es ist nicht so, dass die Polizei hier einen Brückenkopf markiert…

Pethke: … oder eine Grenze verteidigt. Auf keinen Fall.

Rothöhler: Die Polizei hat einen selektiven Zugriff auf das Territorium und geht ziemlich willkürlich vor, zumindest nur stichprobenartig.

Pethke: Es ist auch eine gefährliche Zone, da setzt man sich eben auch einem Risiko aus.

Rothöhler: Außer diesem Ort gibt ja noch die Schule, die auch nicht zum Revier gehört, und die Lehrerin ist irgendwie auch eine Polizistin. Das ist halt eine permissive Brutalität, die sie ausübt. Man sieht genau: Die hat in Paris studiert und die feinen Unterschiede begriffen, ist jetzt aber nicht in der Lage, das pädagogisch zu realisieren. Und im Grunde genommen ist doch das Angebot mit dem Theaterstück ähnlich absurd wie die Polizeiaktion.

Pantenburg: Aber die Lehrerin ist doch viel weniger bösartig. Ist sie nicht, wenn man bei der Druckmetapher bleibt, diejenige, die umlenkt, während die Polizisten ganz klar den Deckel draufhalten? Sie ist – ganz bewusst – mit Sublimation beschäftigt und die Bullen mit Verdrängung.

Schlüter: Ich finde aber die Lehrerinnenrolle nicht so eindeutig. In der ersten Szene fand ich sie sehr restriktiv. Ich habe da nur den Mund wahrgenommen und die Zähne: Eine Person, die diktiert. Aber durch den Erfolg, den die Klasse am Ende mit dem Theaterstück erzielt, was auch eine Stabilität in der Gemeinschaft wiederherstellt, wird sie gewissermaßen rehabilitiert.

Rothöhler: So stark will ich das auch gar nicht machen. Nur: Wenn man zwei Weisen unterscheidet, in denen der Staat in diese Gegend kommt, dann ist die Lehrerin nicht nur der gute Staat, der sich bemüht mit seinem hochkulturellen Impact und die Polizisten sind eben die Polizisten, sondern auch die Lehrerin hat so einen Polizeiaspekt.

Pethke: Ich bin da nicht einverstanden. Wenn die Schule gleichgesetzt wäre mit Polizei als eine Staatsinstitution, dann würde das sehr viel stärker über eine direkte Machtausübung gehen, wie wir sie bei der Polizei ja auch sehen. Dann würden Noten ins Spiel kommen, dann würde es um Regeln gehen, die in diesem System herrschen. Deshalb ist die Schulklasse für mich eigentlich ein anderer Ort, nämlich der Ort der kanonisierten Kultur. Was macht man mit der? Lebt die noch? Wenn ja: wie? Darum muss es natürlich auch gehen, wenn man sagt: Jetzt kommt die Hochkultur in die Banlieue. Für mich repräsentiert die Lehrerin eher den Kulturschaffenden, sie hat die Interpretationshoheit. Es geht zwar, um Machtprozesse und Machtkonstellationen, aber um solche bei der Herstellung von Kultur.

Knörer: Man kann zugleich ja nicht übersehen, dass sie die Stellvertreterfigur des Regisseurs ist, der in die Banlieue geht und das nochmal vorführt. Seine Rolle ist strukturell dieselbe.

Schlüter: Ich finde, man kann diese zwei Seiten gut sehen, als Krimo das erste Mal vor der Klasse sprechen soll und sie ihn bis zum Äußersten triezt. Man könnte das als eine repressive Situation verstehen, aus der er ausbrechen muss – auch weil er diese Doppelrolle hat als Liebender und als Schauspieler. Aber auf der anderen Seite kann man das auch als Geste eines Regisseurs lesen, der seine Schauspieler mit harten Bandagen zum Agieren bringt.

Rothöhler: Ja, damit wird ein Beobachterstandpunkt innerhalb des Films markiert. Er markiert seinen Eingriff über diese Erzählung der Lehrerin. Sonst ist man ja bei so einem Modell von Verismus…

Pantenburg: … von „Unmittelbarkeit“,

Rothöhler: So, als könne man in den Räumen drin sein, die Kechiche natürlich niemals von innen sehen kann, wenn er mit seiner Kamera da hin kommt und das auf bestimmte Thesen hin präpariert. Das öffnet er damit ja wieder. Das würde Larry Clark nie machen.

Knörer: Aus ideologischer Verblendung.

Pethke: Stimmt. Larry Clark taucht in seinen Filmen nicht wirklich auf, der entzieht sich als „Buddy“.

Schlüter: Wozu der Film keine eindeutige Position bezieht, ist die Frage von Einschluss- und Ausschlussmechanismen in der Aneignung von Sprache. An Krimo wird das exemplifiziert. Über das Theaterstück sagt er einmal: „Die Sätze sind zu lang. Ich krieg die nicht in meinen Kopf.“ Er zeigt das durch sein Verstummen und durch seine Körperhaltung. Er läuft ja die ganze Zeit mit hängenden Schultern und einem etwas ausdruckslosen Gesicht durch die Gegend. Und solche Grenzlinien zwischen Einschluss und Ausschluss gibt es auch zwischen den Freunden. „Ah, der spielt jetzt Theater, dann gehört er nicht mehr zu uns.“

Pantenburg: Die Lehrerin formuliert einmal provokativ eine Art Moral des Marivaux-Stücks: „Man kann seine Herkunft nicht abschütteln, so sehr man sich auch anstrengt“. Könnte man das nicht als Moral des Films missverstehen?Pethke: Auf keinen Fall. Denn wenn es um eine Übertragung Marivauxscher Verhältnisse gegangen wäre, dann hätte ja einer aus dem reichen 16. Arrondissement da einbrechen müssen.

Rothöhler: Oder Krimo hätte sich in eine Bürgertochter verlieben müssen, die zum Cello-Unterricht muss.

Pethke: Genau, die reiche Welt ist wirklich komplett ausgespart.

Pantenburg: Ziemlich früh gibt es die erste Marivaux Probenszene im diesem angedeuteten Amphitheater. Da sieht man Lydia in ihren Kleid und die Trabantenstadt-Silhouette. Darin liegt auch eine Erweiterung des Publikums. Die Fenster der Wohnblocks blicken alle auf dieses Theater.

Rothöhler: Ist das nicht die erste Szene, in der sich der Raum öffnet? Man geht doch in den Film rein mit Großaufnahmen – wirklich wie bei „Rosetta“, zwar nicht auf den Rücken der Figuren gefilmt, sondern auf die Gesichter, sehr schnelle Schnitte, aber auch keine Reißschwenks, sondern in so einem Stakkato.

Knörer: Aber den ersten explizit gesetzten Theaterauftritt gibt es schon vorher. Vor dem Fenster der Freundinnen, wo Lydia den Raum sofort zur Bühne macht, wenn sie sich zuerst hinter der Mauer versteckt und dann aus diesem Off heraus ihr neues Kleid präsentiert. Die Frage ist aber, ob das eine Struktur ist, in der etwas ausdrücklich ausgestellt wird, oder ob es nicht eher eine klassische Spiel-im-Spiel Struktur ist, die den Illusionsraum geschlossen hält. Das wäre ja ein wichtiger Unterschied.Rothöhler: Ist das eine Geschichte der Aneignung von Kultur? Sehen wir zu, wie sich die Kids über diese fremde Sprache Freiräume schaffen? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Film nicht doch auf dieser Differenz beharrt.

Pethke: Absolut.

Rothöhler: Und das empfinde ich als Stärke. Es ist ja nicht so, dass die mit diesem Text konfrontiert werden und dann über Liebe sprechen können. Das bleibt denen total äußerlich.

Pantenburg: Ich glaube auch, dass der Theater-Text hier eher Material ist, das auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen benutzt werden kann. Eben nicht zwingend über Aneignung, In-die-Rolle-Schlüpfen und Sich-selbst-Finden. Bei Krimo zum Beispiel ist das ja ganz pragmatisch gedacht. Der Text ist die Leiter, mit der ich ans Fenster meiner Liebsten hochklettere, so unbeholfen ich das auch hinkriege…

Rothöhler: … Das Gegenteil von method acting.

Pantenburg: Utilitarismus. Und das wird nicht abgetan als eine illegitime Verwendungsweise des klassischen Textes, sondern als eine ganz tolle Art gezeigt, wie man mit diesem Text umgehen kann.

Pethke: Man könnte doch auch umgekehrt sagen: Die Aneignung, die hier stattfindet, ist die eines mit dem kulturellen Kanon bestens vertrauten Regisseurs, der sich der Schönheit der Banlieue-Sprache zuwendet. Es gelingt ihm zu zeigen, dass er da Schönheiten entdeckt und die organisiert. Er nimmt also die Sprechweisen von denen überhaupt wahr und auch ernst.

Rothöhler: Marivaux ist kein Medium für die, zu Ausdrucksformen zu finden, sondern bietet eher eine Chance, über die Distanz zu diesem Text zu sprechen. So baut der Film das. Der Text bleibt ja immer fremd. Egal, ob er leidenschaftlich deklamiert wird von der Lydia oder ob er wirklich nur widerständiges Sprachmaterial ist wie bei Krimo.

Knörer: Was die Sprach-Szenen in den Auseinandersetzungen untereinander ganz stark strukturiert, sind Sitzordnungen und polyphones Zusammenspiel, sobald es mehr als zwei sind, die da reden. Wie zum Beispiel laut/leise-Wechsel inszeniert werden. Das ist ja fast schon mehr als die Bühne leisten kann.

Pantenburg: Und im Gegensatz zu Marivaux lässt sich das auch nicht verschriftlichen. Das ist nur über Improvisation zu erzeugen, also über ein Modell von Mündlichkeit. Weil die Dardenne-Brüder eben genannt wurden, bei denen Arbeit so ein zentraler Begriff ist; ich glaube, dass es auch hier um Arbeit geht. Arbeit an der Sprache, Arbeit mit Schauspielern.

Rothöhler: Es gibt ja bei den Dardennes einen positiven Arbeitsbegriff. „Le Fils“ endet quasi mit einer Kollektivierung, bei der man nicht gemeinsam spricht – das wäre das Modell hier – sondern gemeinsam ein Stück Holz bearbeitet. So wird dort die Schuldfrage gelöst: Man ist erschöpft, man hat sich durch einen Raum gejagt, die Körper sind müde, jetzt kann man gemeinsam arbeiten. Das ist ein utopischer Arbeitsbegriff. So ist das hier auch mit der Sprache. Man kann weiter sprechen. Aber das wird natürlich immer auch räumlich inszeniert. Das ist kein reines Dialogkino, auch nicht in der für mich zentralen Verführungssequenz in der, als Krimo Lydia aus dieser Gruppe von Mädchen herauslöst und sie erst nicht kommen will. Sie sitzt da in der Mitte wie eine Prinzessin. Und aus diesem Tableau muss er sie erst herauslösen, was wieder wie ein Theater-Auftritt gefilmt ist: Er steht am Baum, raucht die Zigarette noch auf, man sieht nur ihn, dann ein Schwenk, dann die Gruppe, und er geht auf die Gruppe zu.

Pethke: Du kannst diesen Film wirklich nur mit diesen Leuten machen. Die Vorstellung, den Text einen Schauspieler wieder aufführen zu lassen, die ist gruselig.

Schlüter: … ungefähr so gruselig wie die, was den Slang angeht, oft ahnungslosen deutschen Untertitel.

Rothöhler: Ist es nicht so, dass bei solchen Laienfilmen die Laien häufig über ihre Körperlichkeit angezapft werden und nicht über ihre Sprache? Man fordert sie dann auf, nicht so viel zu sprechen, sondern eher auf eine bestimmte Art und Weise die Straße entlangzulaufen, und hier wird das ja voll auf die Sprache gemünzt. Und das finde ich irgendwie erstaunlich, wie er die in diese Temperatur versetzt, diese Sprache so abzurufen: Es ist ja nie ein falscher Ton dabei, selbst wenn sie ihren Amateur-Status bei den Marivaux-Proben bewusst nochmal konstruieren müssen – Laien, die Laien spielen. Selbst das ist genuin, wie Lydia als Schauspielerin agiert.

Knörer: Bei Thomas Arslans Filmen zum Beispiel ist das ja völlig anders. Da werden die Laien distanzierend eingesetzt. Das Interessante an „L’Esquive“ ist, dass das Spiel der Laien so weit getrieben wird, dass es schon wieder als Geschauspiele authentifiziert ist – und das ist ja schon extrem schwierig, eine wirklich hohe Kunst.

Pantenburg: Kechiche lässt die in einer solchen Intensität nicht schauspielern, dass quasi die Unterscheidung kollabiert…

Schlüter: Man hat den Eindruck, dass die Jugendlichen ihren Raum recht gut beherrschen. Das lässt sich auch an der Kommunikation über die Klingelanlagen und über die Fenster beschreiben, die so abläuft, als wären die Jugendlichen allein in diesem Raum.

Pantenburg: Das ist noch mal so ein ironischer Wink. In Frankreich wird diese Handyverschuldung unter Jugendlichen ähnlich hoch sein wie hier. Und die Kids sind sich völlig klar darüber: „Tut mir leid, kein Guthaben“, und deshalb ruft man halt ganz archaisch oder benutzt die Gegensprechanlagen. Es gibt präzise Taktiken, damit umzugehen.

Rothöhler: Wobei das natürlich welche sind, die den Raum noch einmal abdichten. Wenn du die Gegensprechanlage nutzen musst, kannst du nicht auf die Champs-Elysées fahren und sagen, dass du dort bist.

Pantenburg: Interessanterweise braucht „L’Esquive“ den Kontrast zur Großstadt gar nicht. Der Film braucht nicht die Stadt als Verlockung, nicht als Sehnsucht, als Ort, an dem man konsumiert, um die Vorstadt zu erzählen.

Knörer: Was der Film bei der Theateraufführung in der Schlusssequenz betont, ist, dass alle im Publikum, Eltern, Mitschüler auf das Stück reagieren, und zwar angemessen reagieren. Das kann man sich ja auch anders vorstellen. Es ist keine Frage, dass das ein liberaler Film ist. Das sieht man da ganz deutlich.

Rothöhler: Wir haben aber schon so ein bisschen die Message: Alles OK in den Banlieues.

Pethke: Nee, finde ich nicht. Der Film hat überhaupt kein propagandistisches Interesse. Dazu bleibt er dann auch zu sehr auf des Messers Schneide.

Pantenburg: Ich fände es nicht überraschend, wenn da doch einer abgestochen würde. Das ist ja kein Raum, in dem das jetzt eliminiert oder suspendiert wäre.

Pethke: Nee, das ist genauso rausgekascht wie vieles andere.

Rothöhler: Ich dachte das nur, weil dieser eine Gefahrmoment mit dem Polizeieinsatz so stark betont wird. Und wenn man das dann abzieht, dann ist es ja schon so, dass intern alles gut funktioniert.

Pethke: Die Gewalt findet in der Sprache statt. In der Art, wie die Sprache klingt, wie sie eingesetzt wird, welchen Druck sie selber hat und erzeugt.

Rothöhler: Ich fand aber, dass diese Sprache trotz ihrer roughness, trotz dieser gewalttätigen Begriffe, die da im Raum stehen, nicht wirklich auf Referenz aus ist. Die Sprache wird von ihrer Leistungsseite her gezeigt. Wenn die sich beleidigen geht es nicht darum zu sagen, dass jemand eine Nutte ist, sondern um die interne Logik dieser Sprache. Im Prinzip ist es ziemlich diskursiv, was die da machen.

Pethke: Ist das nicht der Unterschied zwischen Waffenbesitz und Waffengebrauch? Ständig wird verbal gefuchtelt mit allem, und dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn das Ding irgendwann mal hochgeht. Die wissen schon, was alles passieren kann, aber das entbindet sie nicht von der Pflicht, ständig in dieser Aushandlungspraxis zu bleiben.

Knörer: Aber das gilt doch auch umgekehrt, oder? Wenn mit Waffen ständig rumgefuchtelt wird, glaubt man irgendwann nicht mehr, dass sie auch losgehen können.

Schlüter: Vielleicht ist die Sprache vor allem ein Mittel der Übertreibung. „Playing the Dozens“. Immer noch einen obendrauf setzen. Sich sprachlich so hoch schaukeln, bis es nicht mehr geht.

Pantenburg: Schon in der ersten Auseinandersetzung darüber, ob Krimo bei der Probe zusehen darf oder nicht, ist es erstaunlich, was für ein Wissen um die Gesprächsverschiebungen sichtbar wird. Wie schnell das hin- und hergeht. Schuldzuweisungen, Schuldverschiebungen, blitzschnelle Argumentation.

Pethke: Das ist toll, wie Lydia, die Lucky Luke-mäßig schneller spricht als ihr Schatten, das hinbekommt. Das ist ja eigentlich ein absolutes Ausschlusskriterium für die Schauspielerei: Tempo vor Artikulation. Aber hier steht eben das Sprechen als performativer Akt im Vordergrund. Kechiche macht aus Sprache Kino.

Schlüter: Lydia versucht diese Druck-Situation ja zu unterlaufen. Sie sagt: Ich kann mich unter Druck nicht entscheiden, und deshalb schiebt sie die Antwort auf. In dieser Szene im Auto, als sie sich jetzt gefälligst mal für oder gegen Krimo entscheiden soll, ist der Druck ja ganz spürbar. Das ist der engste Raum des ganzen Films, und die anderen drei stehen als Überwachungsinstanz frontal davor.

Pethke: Oder als Publikum.

Pantenburg: Und die Bullen kommen von hinten.

Rothöhler: Über den einzigen druckfreien Raum haben wir noch gar nicht gesprochen. Das ist die Wohnung von Krimo und seiner Mutter. Sie spricht beim Bügeln mit ihm und man würde erwarten, dass sie stärker darauf insistiert, dass er mitkommt, um den Vater im Gefängnis zu besuchen. Das tut sie nicht. Da ist Krimo ja am zugänglichsten und antwortet auch in einem ganz anderen Tonfall als sonst, flirtet ein bisschen mit seiner Mutter. Er hat eine ganz andere Temperatur in dem Moment. Das ist vielleicht sein Gegenraum zu den anderen.

Schlüter: Aber da hat es keinen Platz für Lydia.

Rothöhler: Lydia schafft es eben nicht, Krimo in einen anderen Sprachmodus zu übersetzen. Sie üben ja zusammen das Theaterstück und sie versucht, das Modell der Lehrerin zu übernehmen und ihm in den Text zu helfen, aber sie unterbreitet ihm kein Kommunikationsangebot, auf das er eingehen kann. Er kann auch nur sehr hart seinen Wunsch artikulieren, mit ihr zusammen zu sein. Er kann diesen mütterlichen Raum, wenn man so will, nicht herstellen, auch nicht über diese Marivaux-Schleife.

Pethke: Interessant ist ja, dass Frida, die ohnehin immer die ist, die am meisten abkriegt, obwohl sie dafür gar nichts kann, auch in der Polizeiszene der Trigger ist für die Eskalation. Frida und Marivaux: Sie will das Buch verbergen oder hat vergessen, dass es noch in ihrer Tasche steckt; das wird ihr als Verheimlichen ausgelegt. Und die Bullen sind dann zu dämlich zu erkennen, dass davon keine Bedrohung ausgeht.

Schlüter: Dann aber dieser harte Schnitt auf die Theaterszene, diese Gelenkstelle zwischen Polizeieinsatz und Theateraufführung. Es geht zurück in die Kulturszene, obwohl der Marivaux eben vorher nichts ausrichten konnte.

Rothöhler: Das ist ja unter anderem ein Cliffhanger. Man fragt sich die ganze Zeit: Was für Folgen hat dieser Polizeieinsatz gehabt?

Knörer: Und es ist spannend: Wo ist Krimo? Wird der auf der Bühne erscheinen?

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L’Esquive, F 2004, Regie: Abdellatif Kechiche, mit Osman Elkharraz (Krimo), Sara Forestier (Lydia), Sabrina Ouazani (Frida), Nanou Benahmou (Nanou), Hafet Ben-Ahmed (Fahti), Aurélie Ganito (Magalie) u.a. [Eine kürzere Fassung des Gesprächs erscheint in der Jungle World 10/2005]

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