Freitag, 30.08.2013

Karten und Pläne

Christophe Colomb (Gaumont production 1910)
Christophe Colomb (1910 Louis Feuillade)

Landkarten, Globen und handgezeichnete Pläne im Kino. Eine der eindrucksvollsten Bildersammlungen, die mir bislang im Internet begegnet sind, hat Roland-Francois Lack zusammengetragen. Auf Nebenpfaden seiner verwinkelten Webseite begibt sich The Cine-Tourist mit detektivischer Leidenschaft an die Schauplätze der Filme von Capellani, Feuillade, Becker, Chabrol… – oder er trauert um Bernadette Lafont.

Le Chevalier de Maison Rouge (Albert Capellani 1914)
Le Chevalier de Maison Rouge (Albert Capellani 1914) via

„Wenn wir eine Weile in einem gewissen Weltbereich gelebt haben und viele Wege darin gegangen sind, bildet sich in uns ein Netzwerk all dieser Wege in Form einer inneren Landkarte.“
Das schreibt Klaus Wyborny in seinem langerwarteten und jetzt endlich erschienenen Buch „Elementare Schnitt-Theorie des Spielfilms“.

„Diese im Bewusstsein entstehende Landkarte ist etwas äußerst Seltsames. In ihr steckt ein Großteil unserer Lebenserfahrung, in einer merkwürdig wabernden Gesamtheit, worin wir plötzlich aber auch in Details einzutauchen vermögen, die unglaubliche Präzision und Schärfe aufweisen. Dann wieder enthält sie unklare Bereiche, von denen wir gerade mal wissen, dass es darin eine Straße gibt. Solche Landkarten gehören für uns zu den wichtigsten Verankerungen in der Welt, in ihnen findet man das, was man die ‚eigene Heimat‘ nennt. Diese Heimat ist in unserem Bewusstsein auf seltsame Weise ganz und – in paradoxem Sinn – weglos geworden: Weil es so zahlreiche Wege darin gegeben hat, dass sich diese zu einem Gefühl von Verbundenheit verdichteten.“ (Wyborny)

Les Vampires (1916 Feuillade)
Les Vampires (1916 Louis Feuillade) via

„… man müsste da sagen, dass sich eine ganze Anzahl von früher bemerkten und anfangs sogar zur Orientierung benutzten Einzelheiten inzwischen sozusagen eingeebnet hatten – beispielsweise wurde das große rote Schild eines Teegeschäfts beim Heimfahren nicht mehr beachtet, welches lange Zeit hindurch die Einbiegung der Strecke zum Park und die richtige Aussteigestelle verlässlich vorgemerkt hatte. Nein es gab jetzt Dutzende anderer bemerkter Weiser, an die man sich einzeln halten konnte, jedoch tat man nicht einmal das mehr: der ganze Brei zusammen genügte stumpf und sicher für den Weg.“ (Heimito von Doderer: „Ein Mord den jeder begeht“)

Male and Female 1919 Cecil B. DeMille
Reiseplanung in Male and Female (1919 Cecil B. DeMille)

Das ist einer jener Filme von DeMille, in denen mittendrin auf einer Wegstrecke ein Unfall die Karten neu mischt: die Klassenverhältnisse, Männer/Frauen, die Welt fängt neu an, von vorne. Luc Moullet hat darüber sehr schön geschrieben.

sundown 1941 hathaway
Gene Tierney landet am Rhino Rock, in Sundown (1941 Henry Hathaway)

„Man tritt in ein unbekanntes Geschehen und bemüht sich, eine Vertrautheit mit diesen Örtlichkeiten zu entwickeln. Wesentliche Teile des narrativen Systems versuchen, dem Zuschauer die Bildung einer ähnlichen Landkarte zu ermöglichen, wie man sie zur Orientierung in der eigenen Umgebung verwendet.“ (Wyborny)

1951 - Lightning Strikes Twice - King Vidor a

1951 - Lightning Strikes Twice - King Vidor b
Überblendungen in Lightning Strikes Twice (1951 King Vidor).

„Von besonderem Interesse sind im Film daher Situationen, in welchen der Held ein Terrain erkundet, das auch ihm noch unbekannt ist. Dann stehen wir mit ihm auf Augenhöhe und es entsteht eine filmspezifische Spannung.“ (Wyborny)

„Wo man was erlebt, dort ist man bald daheim.“ (Doderer)

Le Trou (1960 Jacques Becker)
Le Trou (1960 Jacques Becker)

Aber kein Plan kann schöner sein als der eines Ausbruchs.

Pepe le moko (Julien Duvivier, 1936)
Pepe le moko (1936 Julien Duvivier)

Ein Polizeikommissar schaut auf kartografiertes und dennoch unwegsames Gelände: Die Kasbah von Algier. Der Gejagte (Jean Gabin) muss aus seinem Refugium herausgelockt werden.

„Der Aal verlässt sein Saragossameer, um in seinem Heimatfluss zu laichen. Er lässt sich von der Strömung und allem Möglichen leiten, gewiss aber nicht von einer Landkarte oder Begriffen wie Zukunft und Vergangenheit. Er jagt einen Zustand, in dem er sich befinden, der er sein möchte, er flieht vor einem Zustand, der er gewesen ist. Die Verbindungslinie besteht gewöhnlich in einer Geraden mit einer Spitze. Sie ist ein Pfeil. Er ist dieser Pfeil. Er folgt der Idee, die er von sich hat. Er jagt dieser Idee, die er von sich hat, in ein Äußeres in ein Unbekanntes hinein. Dies Äußere nennen nur wir Menschen Raum.“ (Wyborny)

Charlie Chan In Panama 1940 - Norman Foster
Charlie Chan In Panama (1940 Norman Foster) via

Würde das X den Ort markieren an dem eine Bombe platziert werden soll, dann müsste uns die Sache keine Sorgen machen, sagt Charlie Chan, denn er weiß: Dies ist der Plan eines Friedhofs.

Rohrpost Paris
Und das sieht fast so aus wie ein Filmschnitt-Diagramm von Klaus Wyborny, ist aber die Pariser Rohrpost. *

Verknüpfungen „zwischen zwei der Erregung fähiger Wesen“ sind das Kleingedruckte in Wybornys Schnitt-Theorie. Das „Kollisionspotenzial“ ist ihr verstecktes Zentrum. „Kollisionsschnitte“, schreibt er, seien „so ungefähr das Komplizierteste, was das narrative System leistet. Deshalb bleiben sie, außer in ihren einfachsten Formen, vielen Regisseuren relativ rätselhaft. Ich meine sogar, dass sie nur im kalifornischen Kino der 1950er und 1960er Jahre von Regisseuren wie Hawks, Vidor, Ford, Walsh, Dmytryk, Hathaway, Mankiewicz, um ein paar zu nennen – sowie vor allem Hitchcock und dem in der Inszenierung von Außenaufnahmen noch erstaunlicheren Anthony Mann – einigermaßen begriffen wurden.“

39 Steps
39 Steps (1935 Alfred Hitchcock)

the furies 1950 anthony mann
The Furies (1950 Anthony Mann)

Nur selten kann eine Landkarte im Film Orientierung stiften, häufiger knüpft sie lose an ein Vertrauen an, sie beglaubigt Autorität, oder aber sie stellt die Macht in Frage.

Prince of Foxes -1949- Henry King
Prince of Foxes (1949 Henry King)

Cesare Borgia (Orson Welles) beobachtet durch ein Loch in der Wand den Mann, den er mit einem Auftrag auf den Weg schickt: nach Venedig.

Reisebefehle, Mordaufträge, Planungen ganz allgemein wecken Misstrauen gegen die Mächtigen, das Schicksal, die große Geschichte.

1931 - Heroes for Sale - Wellman
Heroes for Sale (1933 William Wellman)

Arbeitssuchende werden von riesigen Plakaten abgewiesen, weggeschickt ins Nirgendwo, in eine Landkartenmontagesequenz. We can’t take care of our own. Das Wir entscheidet. Die Slogans der Bundestagswahl wollen entsprechend der Wortkombination „Rotgrün“ aneinander montiert werden: Das Wir entscheidet. Und du? Was willst du noch?

detour - ulmer
Detour (1945 Edgar Ulmer)

„Who knows the city? Only those who walk, only those who ride the bus. Forget the mystical blatherings of Joan Didion and company about the automobile and the freeways. They say, nobody walks; they mean no rich white people like us walk. They claimed nobody takes the bus, until one day we all discovered that Los Angeles has the most crowded buses in the United States. The white men who run the transit authority responded to the news not by improving service, but by discouraging ridership. They raised fares. They stopped printing maps of the bus system. They refused to post route maps or schedules at bus stops. They put their money into more glamourous subway and light rail projects.“ (Thom Andersen: Los Angeles Plays Itself)*

danger diabolik 1968
Danger: Diabolik (1968 Mario Bava) via

Lange habe ich gewartet. Endlich gibt es Neues zu lesen von Pico Be. Zwei schillernde Überblendungstexte, überbordende Pendlerschriften – zwischen München und Berlin.
„München, von Mönchen erbaut, von Bier gestillt, Ort des blauen Himmels und himmlischer Gleichgültigkeit, und dann Berlin, die Stadt im Sumpf. Denn nichts Anderes bedeutet Berlin in seinem slawischen und altpolabischen Ursprung – schlammiger Sumpf und Morast.
Wir müssen uns also diese Busfahrt vorstellen wie die Busfahrt in dem Film Der Weg, der zum Himmel führt von Luis Buñuel, nur rückwärts betrachtet, als würden wir uns den Film rückwärts anschauen. Der Weg führt nach unten und zurück in der Zeit.“

Und interessanterweise, das kann kein Zufall sein, fühlt sich der Reisende schuldig – „so schuldig wie der Knabe in Buñuels Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz eines Verbrechens für schuldig befunden wird. Des Verbrechens, kraft böser Gedanken seinen Mitbürgern Tod und Unglück zu bescheren.“

village of the damned - wolf rilla
Village of the Damned (1960 Wolf Rilla)

Kinder testen Schule. Meine Lieblingsstelle in diesem Kurzfilmportrait des Fundus Theaters ist bei Minute 5:30, wenn während der psychogeografischen Erkundung des Schulgebäudes ein Junge sagt: „Ich bin hier auch schon einmal vorbeigegangen und hab mich gewundert; ich hatte plötzlich ein ganz schlechtes Gewissen.“ Mit Erstaunen wird nachgefragt: „Ein schlechtes Gewissen? Hier an dem Ort, wo man die Schuhe vor der Klasse auszieht, kriegt man ein schlechtes Gewissen?“ – „Hab ich jetzt auch!“

Les Misérables - 1934 - Raymond Bernard
Les Misérables (1934 Raymond Bernard)

Ein Verzweifelter (Harry Baur) studiert eine Karte. Sie sagt ihm, dass er wählen muss: Seiner inneren Stimme folgend vor ein Gericht treten oder einer Sterbenskranken das lang vermisste Kind herbeischaffen. Beides eilt. Beides ist unvereinbar. Die Geografie lässt es nicht zu.

1950 - Mister 880 - Edmund Goulding
Mister 880 (1950 Edmund Goulding)

Der alte, bescheidene Geldfälscher, der immer nur Ein-Dollar-Noten druckt, verbirgt in seinem Kleiderschrank einen gewissenhaft markierten Stadtplan. Der junge, ehrgeizige Fahnder studiert an großen Wandkarten, nach welchem Prinzip seit vielen Jahren die Blüten in New York gestreut werden.

Mister 880 - 1950 - Edmund Goulding
Burt Lancaster in Mister 880 (1950 Edmund Goulding)

Eine eigenartige Spannung liegt über diesem Film. Die Mühe, Sorgfalt, Leidenschaft, mit der dem amateurhaften Straftäter nachgeforscht wird, der Arbeitsaufwand kann uns nur unangemessen vorkommen. Aus dieser falschen Proportion baut sich der Film ein überzeugendes dramatisches Dilemma.

Armistice Day Blizzard of 1940
Armistice Day Blizzard of 1940

In Gerhard Lamprechts Emil und die Detektive (1931) hängen an den Wänden des Polizeireviers, so groß wie Stadtpläne, die Plakate von Fingerabdrücken.

High Sierra (1941 Raoul Walsh)
High Sierra (1941 Raoul Walsh) via

Ungezählt: Die Karten auf denen die Polizei eine Menschenjagd plant. Aber noch nie war eine Straßensperre erfolgreich. Nicht im Kino.

Ende des ersten Teils

Im zweiten Teil geht es dann um Karten, Pläne, Väter und Söhne.

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