Nach einem Film von Mikio Naruse
Man kann darauf wetten, dass in einem Text über Mikio Naruse früher oder später der Name Ozu zu lesen ist. Also vollziehe ich dieses Ritual gleich zu Beginn und schreibe, nicht ohne Unbehagen: Ozu.
Sicher, beide arbeiteten für dasselbe Studio. Sicher, in den Filmen Naruses kann man Schauspieler wiedersehen, mit denen man in den Ozu-Filmen Freundschaft geschlossen hat, in „Meshi“ von 1951 etwa Setsuko Hara und Haruko Sugimura, die ihre Mutter spielt. Sicher, viele Filme Ozus und Naruses werden dem Shomingeki zugerechnet und interessieren sich für den Alltag und die Normalität, nicht für das Drama und den Ausnahmezustand. Aber auf ähnliche Weise könnte man Filme von Hawks und Ford nebeneinander stellen und mit staunendem Zeigefinger sagen: Hier: John Wayne. Hier: Western. Insofern versperrt der Ozu-Vergleich vielleicht den Zugang zu dem, was an Naruse interessant ist und worüber ich nach dem ersten Film der kleinen Naruse-Reihe nur mutmaßen kann. Jedenfalls kommt es mir vor, als müsste der Name Ozu im Zusammenhang mit Naruse in Form einer Frage formuliert werden, die etwas Ungeklärtes markiert; nicht als Antwort, die seinen Filmen einen Platz zuweist.
Die immer wieder benannte Nähe zu Ozu ist nachvollziehbar, aber auch erstaunlich, denn die wenigsten Einstellungen in „Meshi“ könnte man sich in einem Film von Ozu vorstellen. Es ist eine andere, weniger rechtwinklige Geometrie, die hier am Werke ist, sowohl in den einzelnen Bildern als auch in der dramaturgischen Architektur des gesamten Films. Naruse scheint sich eher treiben zu lassen und im Verlauf eines Films stärker auf die Bewegungen seiner Figuren zu reagieren. Wer Ozu im Hinterkopf hat, kann dies als nachlässig oder weniger konsistent empfinden; es zeigt aber mit gleichem Recht eine Offenheit für all das, was trotz oder gegen einen vorher vielleicht gefassten Entschluss in die Kamera einströmen kann. So gibt es in „Meshi“ zwei Einstellungen, die keiner der Figuren zuzuordnen sind, aber auch nicht unbedingt einem Erzähler (Erzählerin des Films aus dem Off ist in drei wichtigen Phasen des Films Michiyo Okamoto, die ihren Mann verlässt und eine Weile bei ihrer Mutter und den Geschwistern in Tokio lebt).
In beiden Einstellungen ist jeweils eine belebte Straße zu sehen, eine davon ist mit Sicherheit in Osaka, das die überraschend vor der Heirat zum verwandten Ehepaar geflohene Nichte mit ihrem Onkel Osaka besichtigt. Ob die andere Einstellung etwas Entsprechendes in Tokio zeigt, weiß ich nicht mehr. Durch die starke Bindung der Kamera an Michiyo und die anderen Hauptfiguren ist man geneigt, auch diesen Blick einer dieser Figuren, dem Ehemann oder der Nichte zuzuschreiben. Die Kamera bewegt sich aber ganz autonom in den von der Straße eröffneten Bildraum hinein, sie schwankt dabei sogar ein bisschen, so dass man denken könnte, es sei eine Subjektive. In der Einstellung taucht allerdings keine der uns vertrauten Figuren auf; mein Gedanke war deshalb, dass es sich um Material aus dem Fundus des Studios handeln könnte, um eine anonyme Stadtansicht. Aber dass diese Bilder in diesem Film sind, verändert seine Erzählung. Ihre seltsame Unangebundenheit hebt die Erzählung aus dem Individuellen in eine jedenfalls angedeutete Allgemeinheit, die nicht die der anthropologischen Aussagen ist, sondern viel mit der japanischen Nachkriegsgesellschaft zu tun hat.
Durch das Einfache, Alltägliche hindurch, an seinen Rändern ist in Naruses Film ein erstaunliches Nachkriegsjapan erkennbar, das permanent in es hineinwirkt. Das ist kein „gesellschaftlicher Hintergrund“, das sind keine „Ausflüge ins Soziale“; es scheint eher die Grundierung der gesamten Erzählung zu sein, etwas, das sie einfärbt, nicht erklärt. Ich will nur ein paar Szenen beschreiben, die mir aufgefallen sind, weil sie auf die ambivalente Präsenz der Amerikaner und überhaupt auf die Nachwirkung des gerade sechs Jahre zurückliegenden Krieges hindeuten.
– Eine Freundin, die Michiyo zufällig in Tokio trifft, ist mit ihrem kleinen Kind unterwegs; ihr Mann ist, wie sie erzählt, immer noch verschollen. Vielleicht helfen die Berichte über die Vermissten im Radio, sagt sie ohne rechte Überzeugung, um im nächsten Satz nachzuschieben, dass sie ihr Radio leider habe verkaufen müssen. Wir sehen diese Frau später noch einmal, jetzt verkauft sie Zeitungen, und das Kind sitzt schräg hinter ihr mit dem Rücken zu uns gewandt, auf einem Zaun.
– Mit einem Kollegen, der ihn zu einem wackligen Börsengeschäft überreden will, geht Okamoto einmal nach der Arbeit in einer Kneipe trinken. (Überhaupt sind die Börsenspekulationen und die Schlangen vor dem Arbeitsamt ein ökonomischer Subtext, der den Film durchzieht; Geld haben – kein Geld haben.) Später ziehen sie zu dritt weiter in eine Art Cabaret, das in einer immens großen Halle untergebracht ist. Es läuft amerikanische Musik, und auf der Bühne tanzen Frauen in einer Formation, die an 30er-Jahre US-Musicals erinnert. Auf einem runden Plateau wird eine kreisförmig arrangierte Gruppe von Tänzerinnen von unter der Bühne nach oben gehoben, als werde ein Stockwerk tiefer gerade ein Busby-Berkeley-Film gedreht.
– In der Gasse vor den kleinen Häusern in Okamotos Nachbarschaft wirft sich ungelenke Junge von Gegenüber mit zwei anderen, kleineren Jungs, einen Baseball zu.
– Einzelne amerikanische Worte durchstoßen das Japanische: „Handkerchief“, sagt Okamoto, bevor er zur Arbeit geht und sein Einstecktuch sucht. „Don’t know“ sagt einmal irgendjemand. Die Worte sind aber so in die Melodie des Japanischen eingelassen, dass sie kaum zu bemerken sind. Man wird lediglich dadurch darauf aufmerksam, weil die englischen Untertitel an diesen Stellen fehlen.
Volker Pantenburg