Donnerstag, 09.10.2014

Technologiekampagne 1968 mit Harun Farocki

(vorher mit Wolfgang Staudte in Bulgarien)

Von Johannes Beringer

Oktober 1968 war ich mit Harun Farocki und Mitgliedern der ‚Projektgruppe Technologie’ vom berliner SDS auf Rundreise durch die Bundesrepublik.

Vorher, im August, mit Wolfgang Staudte in Bulgarien: der Filmakademist Jörg Michael Baldenius hatte mich gefragt, ob ich Lust hätte, bei dem Film Heimlichkeiten mitzumachen. Es gab eine Einladung zu einem Treffen in die Pacelliallee in Dahlem – oh! Villa mit Swimmingpool! – und schon war ich dabei. Staudte, der als Dozent an der DFFB so gut wie nie anwesend war, hatte wohl das Gefühl, er sollte doch mal für die Studenten etwas tun. Bernd Fiedler wurde Kameraassistent bei Wolf Wirth, Baldenius zweiter Regieassistent und ich sollte Primärton machen. Abflug nach Varna und von dort an den Goldstrand: der Plot drehte sich um eine Ost-West-Liebesaffäre (mit Kriminalfall) – Karl Michael Vogler war der Westler, Reinhild Solf die Ostlerin. Es gab bulgarische Schauspieler und bulgarische Technik (es wurde koproduziert); Angel Wagenstein bzw. Vagenshtain erschien ein- oder zweimal am Drehort: er hatte das Drehbuch – Arbeitstitel: „Erinnerung am Morgen“ – geschrieben (siehe auch seine Zusammenarbeit mit Konrad Wolf bei Sterne, 1959, Goya, 1970/71, u.a.). Merkwürdig, wie wenig ich mich an Ewa Strömberg erinnere (die doch dann in Erotik- und Gruselfilmen bei Jess Franco grössere Rollen innehatte) – ziemlich gut aber an Katrin Schaake, die in dem Goldstrand-Hotelkasten das Zimmer neben dem meinen bewohnte (und in die ich ein bisschen verknallt war). Memorable Szene, wie Bernd Fiedler und Hans Werner Bussinger Musiker (unter richtigen Musikern) mimten in dieser Freiluft-Arena – vor Publikum im abendlichen Ost-Unterhaltungs- oder Amüsierbetrieb. (Wir waren natürlich ganz anders gepolt: Bernd Fiedler hatte von seinem Bruder gerade Kassetten mit Musik von Velvet Underground und The Doors geschickt bekommen.) In Erinnerung geblieben ist mir auch das Lachen des bulgarischen Toningenieurs (mit seinem Gerätewagen), als ich einen Raubdruck von „Die Funktion des Orgasmus“ von Wilhem Reich aus der Tasche zog, um darin zu lesen. (Den Reich konnte er ja eigentlich nicht kennen. Oder lachte er bloss über den ‚Orgasmus’? Ich radebrechte mit den Bulgaren ja bloss ein bisschen auf französisch.) Einmal, auf einer staubigen Landstrasse im Inneren des Landes, traf das verkleinerte Team auf eine Gruppe von musikspielend-umherziehenden Roma – und weil ich ein Lied von ihnen aufnahm und für sie wieder abspielte (sie horchten erstaunt auf ihre eigene, vom Nagra-Tonbandgerät her fremd klingende Musik), kriegte ich von einem von ihnen sein Lenin-Abzeichen. Gegen Ende der Dreharbeiten hatten wir nichts besseres zu tun, als zu streiken, weil das Geld ausgeblieben war. (Staudte, dem das peinlich war, bemühte sich um rasche Abhilfe.) Die Lewa, die wir als Diäten kriegten, konnten wir ja nur auf den Kopf hauen – Essen und Alkoholisches an der Hotelbar am Abend. (Staudte war bestimmt der Trinkfesteste unter uns.) Ende August sprach sich noch die Sorge herum, ob wir wieder rauskommen würden aus Bulgarien: die Sowjets waren gerade in Prag einmarschiert und es hiess, die Flughäfen könnten geschlossen werden.
Den Film selber habe ich nie gesehen. Ich hörte nur, dass er in Köln angelaufen und nach ein paar Tagen wieder abgesetzt worden sei. Ein Fiasko. Staudte hatte über seine Firma Cineforum GmbH eigenes Geld investiert und war bankrott. Ihm blieb nur, für das von ihm wenig geschätzte Fernsehen, Folgen von ‚Der Kommissar’ oder ‚Tatort’ zu inszenieren, um sich wieder zu sanieren.

Der Betrieb an der Filmakademie war nach der langen, ereignisreichen Sommerpause im September wieder aufgenommen worden: ich schaute Harun Farocki ein bisschen zu, wie er in der Toilette der Akademie am Theodor Heuss-Platz mit Gerd Volker Bussäus als Darsteller einen Text inszenierte – mit dem ersten praktisch einsetzbaren Video-Aufnahmegerät, das die Schule angeschafft hatte! (1- Zoll Ampex, s/w, 1.:1,37.) Farocki schrieb später (2009), er sei dabei auf eine Filmidee zurückgekommen, die er ein Jahr zuvor beim Warten im Hauptbahnhof in Frankfurt am Main gehabt habe (sich auf das Versmass eines Majakowski-Gedichts besinnend): „Mir fiel der Bauplan meines Films ein, noch bevor ich wusste, wovon er überhaupt handeln sollte. Ich machte mir keine Notizen, deshalb brauchte ich eine Art Exempel, mit dessen Hilfe ich mir die Strukturidee merken konnte. Dafür griff ich einen Witz auf, den ich als Kind auf dem Schulhof gehört hatte. In der Nachkriegszeit: ein Mann arbeitet in einer Staubsaugerfabrik. Er stiehlt jeden Tag ein Bauteil. Als er alle Teile zusammen hat, will er den Staubsauger zusammensetzen – aber wie er es auch anstellt, es kommt immer eine Maschinenpistole dabei raus.“ (Typoskript ‚Lerne das Einfachste!’, abgedruckt in: Tom Holert / Marion von Osten, Hg., „Das Erziehungsbild. Zur visuellen Kultur des Pädagogischen“, Schlebrügge, Wien 2010.)
Der dreiteilige ‚brechtische’ Text – Bussäus stellt alle drei darin vorkommenden Figuren dar – war auf ‚minimale Variation’ hin angelegt und richtete sich an die Zielgruppe der Ingenieursstudenten. (Nachzulesen auch bei Tilman Baumgärtel, „Vom Guerillakino zum Essayfilm: Harun Farocki.“ Würzburg 1997, S. 99ff.) Es gibt da den Arbeiter in der Staubsaugerfabrik, der seiner Frau einen Staubsauger heimbringen will und deshalb Einzelteile herausschmuggelt. Aber wie er es beim Zusammensetzen auch macht, es wird immer ein Maschinengewehr daraus. Der Ingenieurs-Student, der in der Staubsaugerfabrik arbeitet, glaubt, die Fabrik stelle Maschinengewehre für Portugal her und nimmt deshalb ebenfalls Einzelteile mit. Aber wie er es beim Zusammensetzen auch macht, es wird immer ein Staubsauger daraus. Die dritte Figur, Ingenieur in einem Elektrokonzern, nimmt das, was der Arbeiter glaubt und was der Student glaubt, auf und sagt, die Maschinenpistole könne ein nützlicher Haushaltsgegenstand werden, der Staubsauger eine nützliche Waffe. „Was wir herstellen, liegt an den Arbeitern, Studenten und Ingenieuren.“ (A.a.O., S. 100)
Agitatorisches Lernkino also und (nüchtern gehaltenes) revolutionäres Vereinigungs-Pathos. Kaum abgedreht, gingen wir mit dem kurzen Video auch schon auf Reisen: die ‚Projektgruppe Technologie’ des SDS hatte ein hektographiertes Arbeitsheft erstellt (Berlin, im Juni 1968) – „Technologie und Revolution. Diskussionsbeitrag zum Problem des Abbaus technologischer Herrschaft“ – und plante Vorträge und Diskussionen an den Standorten von Technischen Universitäten in der Bundesrepublik. Der Video-Film sollte dazu am jeweils selben Tag an Eingängen oder vor der Mensa eingesetzt werden. Wir luden also das Videogerät samt Monitor (d.h. TV-Apparat) in den von der DFFB zur Verfügung gestellten VW-Bus und brachen zu zweit auf. Lange Stunden auf der Autobahn, erstmal über die Transitstrecke, lagen vor uns – und, vielleicht weil ich nicht so überaus redselig war, begann Harun einen deutschen Schlager nach dem andern zu singen, textsicher bis ich weiss nicht zu welcher Strophe. Ich war bass erstaunt – deutsche Schlager waren für mich als Jazzfan so ziemlich das verabscheuenswürdigste, was es auf musikalischem Gebiet gab. Er hatte da also einen ganz anderen Zugang. Handelte es sich vielleicht um ‚Camp’? Kam er nicht wie ich von innen, sondern von aussen und musste sich einen Kulturzugang erst erarbeiten oder aneignen? Als er mich dann aufforderte, auch etwas zu singen, musste ich ernsthaft passen: ich war bereits beschädigt – schon als Jugendlicher – durch die Selbstverständlichkeit dieser schweizerischen Harmoniebestrebungen, die sich in gemeinsamem Singen (in der Schule und ausserhalb) ausdrückten und die ich, ganz instinktiv, als erzwungen und falsch erlebt hatte. Ein arges Verlegenheitsgefühl überkam mich jedesmal, wenn ich bei einem solchen Akt mittun sollte – nur in der Rekrutenschule, also unter Zwang, in Schritt und Tritt, scheine ich bei solchen Gelegenheiten mitgemacht zu haben. Ich musste Harun also erklären, Jazzfan sei ich nicht umsonst. Ich hätte mich abgewendet von dieser Art Heimatkultur.
Die Unterkünfte waren kein Problem – in Frankfurt am Main sowieso nicht, da gab es genug Bekannte (allerdings: ich musste auf dem Boden neben dem Bett schlafen, das Harun mit der Frau teilte, die uns Logis anbot) –, der SDS in der jeweiligen Stadt sorgte dafür. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die geräumige Unterkunft in Stuttgart, eine Art Fabriketage glaube ich: es waren nämlich auch Jugendliche da, die zu Hause ausgebüchst waren. Die wurden wirklich ganz liebevoll behandelt – jedenfalls habe ich gesehen, wie sie zu Bett gebracht wurden und wie da ein SDSler noch am Bett eines vielleicht 13-, 14jährigen sass, um ihm etwas vorzulesen. (Fast sah es aus, als würde ein Nachtgebet gesprochen.) Ein Phänomen, das vielleicht nicht genügend Beachtung gefunden hat: wieviele Jugendliche es damals in der Familie nicht mehr aushielten und einfach abhauten. (Andere landeten in Erziehungsanstalten.) Ein Gutteil der Blumenkinder- und Hippiebewegung bis hin zu den Trebegängern und den politisch Radikalisierten setzte sich doch aus solchen ‚Fällen’ zusammen – und der SDS war eben eine Adresse, wo sie unterkommen konnten. Vielleicht war es auch das, was mich an der gesamten westdeutschen und westberliner Politisierungswelle am meisten anzog: dass sie so etwas wie diesen existentiellen Unterbau hatte und von ihm mitgetragen wurde. Es gab ja erstmal diesen fast elementaren Antagonismus: in und mit den erstarrten Verhaltensweisen und Reglementierungen der vorherigen Generation war nicht auszukommen – man musste das ‚wahre Leben’ woanders suchen.
(Eine Variation von Harun Farocki, 7.9.2013: „Die Übernachtung in den SDS-Zentralen war etwas besonderes: viele legten sich zu uns auf den Boden, die auch noch bei den Eltern ein Bett hatten, einfach um das Abenteuer eines gemeinsamen Aufbruchs zu erleben. So etwas habe ich nach der Maueröffnung gesehen: im Europa-Center schliefen viele Teenager aus dem Osten und viele aus dem Westen leisteten ihnen Gesellschaft – wieder nicht gefilmt. Muss ich nachholen.“)

Ebenfalls im schwäbischen Raum besuchten wir diese Ampex-Firma (das Gerät war defekt): dazu war eine Fahrt aufs Land nötig – wo uns dann, in einem dieser mitten auf eine Wiese gesetzten Fertigteil-Kuben weitergeholfen wurde. Schwäbischer Unternehmergeist hatte sich anscheinend die Rechte als ‚Ampex-Distributor’ gesichert und sich das handwerkliche Know-How angeeignet.

Ein Abstecher auch nach Ulm, zur Filmabteilung der Hochschule für Gestaltung, war eigentlich selbstverständlich: ich erinnere mich an Oimel Mai und Marion Zeemann, die in einer dieser Schlafzellen zusammenlebten. Überhaupt: wenn man die Umgebung der Hochschule zu Gesicht bekam (ziemlich einsam auf einem Hügel gelegen), wurde auch ein bisschen verständlicher, was für Filme (den ‚Gestaltzusammenhang’ mit der übrigen Hochschule negierend oder nicht negierend) da zustande kamen. Das heisst, es gehörte wohl ein bisschen was dazu, aus diesen Zusammenhängen und dem landschaftlichen Abseits auszubrechen. Das Konzept der ‚Miniatur’ war dabei sicher erstmal hilfreich. (War es nicht so, dass man da ein bisschen wie auf einem ‚andern Stern’ lebte? In zwei Miniaturen von Kahn / Leiners Auf der Suche nach dem Glück, 1966/67, gibt es Wissenschaftler, die einen fremden Planeten erforschen, und den Umgang mit einer Extraterranerin. Und in Oimel Mais Elitetruppe Fleur de Marie, 1969/70, und Kluges Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte, 1969-1972, ist dies – nach Art einer Science-Fiction-Bricolage – zu Spielfilmlänge entwickelt.)
Ich konnte im terrestrischen Untergeschoss schlafen, dort, wo die Schneidetische standen – und wo auch die Cutterin schlief. Sie sagte mir noch vor dem Einschlafen (von Bett zu Bett), sie werde an die Uni Konstanz gehen, sobald der Gebäude-Komplex dort eröffnet sei.

Der Begriff, der bei mir von den Technologie-Veranstaltungen hängen geblieben ist, lautet „exemplarisches Lernen“ – es galt wohl, den von der ‚Projektgruppe Technologie’ bereits kritisch durchgearbeiteten Wissensstoff (André Gorz, Jürgen Habermas, Serge Mallet, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock, insbesondere dessen Buch zur „Automation“, Jahrgänge der Zeitschrift ‚Atomzeitalter’ u.a.m.) an ‚Fallbeispielen’ zu begreifen. Farockis unmittelbar auf die Rundreise folgenden Artikel in der Zeitschrift ‚Film’ – ‚Staubsauger und Maschinenpistolen – Ein Wanderkino für Technologen’ (12/1968) und ‚Die Agitation verwissenschaftlichen und die Wissenschaft politisieren’ (3/1969), wobei er sich auch mit der ‚Geschichte der Lerntheorien’ beschäftigte – machen klar, dass die ‚Technologiekampagne’ nachgewirkt hat und in welcher Weise er sie weiterdenkt. Überhaupt liest sich das 17seitige KU [= Kritische Universität] ‚Arbeitsheft’ (samt Anhang von 6 Seiten) in Teilen, als hätte Harun Farocki (mit einem Sprung in die 80er Jahre) daraus ein Arbeitsprogramm gemacht.
„Mit lernenden Elektronenrechnern, die nicht nur einen programmierten Prozess steuern und ausführen können, sondern darüber hinaus vorhandene Verfahren zu verbessern in der Lage sind, und sie veränderten Bedingungen anpassen, und neue Bedingungen entwickeln können, ist das Problem der totalen Automatisierung des Produktionsprozesses zumindest theoretisch gelöst.“ (‚Arbeitsheft Technologie und Revolution’, Berlin, Juni 1968, S. 2)
Das Papier formuliert insbesondere den Widerspruch, der sich ergibt dadurch, dass die Maschinisierung / Automatisierung tendenziell die Abschaffung der Arbeit ermöglicht (dagegen stellen sich die Gewerkschaften) und den sich daraus für die Gesellschaft ergebenden Sach- und Systemzwängen. „Man sieht, dass hier die Argumente für die Rationalität des Systems in Irrationalität umschlagen, um das System überhaupt zu erhalten.“ (A.a.O., S. 7) Es gibt Kompensationen an allen Ecken und Enden: Aufblähung des Dienstleistungssektors, Schaffung von neuen Bedürfnissen, massenhafter Konsum, Ausbau der Manipulationsmechanismen in der Form, dass sie „verinnerlicht“ oder „zumindest als zur Erhaltung des Systems anerkannt“ werden. Rückwirkungen auf die Arbeitswelt selbst, Upgrading und Downgrading von bestimmten Arbeiten, neue Arten des Spezialistentums, Veränderungen der Betriebsstruktur durch Computerisierung werden diskutiert. Entscheidend (für die Kampagne) wäre natürlich gewesen, wenn die ‚Sachrationalität’ von Technikern und Wissenschaftlern (also früheren und aktuellen Studenten) durch gesellschaftspolitische Argumente hätte aufgebrochen werden und die Klassenschranke zu den Arbeitern hätte fallen können. (Dieser Prospekt wird im ‚Arbeitsheft’ selbst eher skeptisch beurteilt, nichtsdestoweniger als notwendig.)
„Die intensive Forschung über Verhaltensformen von Gruppen und Individuen auf bestimmte, kontrollierte Arten der Informationsdarstellung, wie auch die Simulierung von emotionalen Reaktionen mit Computern beweisen, dass ein nicht nur abstrakt wissenschaftliches Interesse an solchen Vorgängen vorliegt.“ (A.a.O., S. 6)
Leben BRD zeichnet sich da in Vorformen und Aussichten schon ab.

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