Hier wächst Qualität für die Frische-Märkte von Reichelt
Als ob nicht meine Existenz schwer genug auf mir lastete, habe ich mir die zentnerschweren Existenzen der „Kinder von Golzow“ (Barbara und Winfried Junge, 1961–2007) aufgeladen. Es war mir nicht nach Operette. Der Reiz dieser 43-stündigen Dokumentation liegt nicht so sehr darin, dass sie über 40 Jahre lang das unerquickliche Geschäft eines Lebens in Deutschland, das Leiden und Dulden der Unteren, beobachtet, sondern in der vollkommenen Verkehrung der Voraussetzungen des Projekts. Das Projekt beginnt als ein Versuch, sozialistische Normalität und sozialistisches Ideal miteinander zu vergleichen, schönfärberisch zuweilen, oft erhellend, es endet mit der kapitalistischen Katastrophe, die auch Filmproduktion und Ästhetik mit sich reißt. Nun wird der Film zu einer radikalen Selbstrevision, er zeigt zuvor zensierte Passagen, er deckt schwierige Produktionsbedingungen auf, von einer inszenierten und – insbesondere von Hans Dumke, einem früh verstorbenen Kameramann der Defa-Wochenschau – glänzend fotografierten Geschichte wird er zu einer Folge von eiligen Improvisationen. Vor allem aber wird er Teil unserer kapitalistischen Situation, er stellt sich nicht nur mit seinen Protagonisten, sondern auch mit uns in die Schlange am Arbeitsamt. Indem Golzow kapitalistisch wird, golzowisiert sich der Film. Er hat uns Westlern dabei eine Enttäuschung voraus, er hat einen Sinn, eine Ideologie verloren. Die Ideologie in Winfried Junges Akzentuierung lautete etwa, der Aufbau des Sozialismus werde schwierig werden, nicht alles werde gelingen, aber, keine Angst, für jeden gebe es einen Platz. Mit 1989 gibt es nicht nur faktisch, sondern auch ideologisch für niemanden mehr einen Platz, für die Protagonisten nicht, für den Film nicht, auch für die Zuschauer nicht, es gibt bestenfalls befristete Stellen und ABM-Maßnahmen, es gibt nur noch Hetze und Hohlheit, und selbst da, wo zuvor gar keine tönenden Parteilosungen standen, steht nun z.B.: „Hier wächst Qualität für die Frische-Märkte von Reichelt“. Wenn Rüdiger Neumanns Zufallsfilme die äußere Schäbigkeit des Landes zeigen, zeigen die „Kinder von Golzow“ seine innere.