Dienstag, 26.05.2015

Begegnung mit dem Tod XY

Vor kurzem habe ich „Eine Taube sitzt auf einem Ast und denkt über das Leben nach“ von Roy Andersson gesehen. Darin gibt es eine Szene, die mich seither verfolgt, mehrmals am Tag muss ich daran denken. Und jedes Mal wird die Empörung größer. Ich möchte hier in die Cineastengemeinde hineinfragen, wie es Anderen mit dieser Szene geht?!?

Der Film rankt lose Episoden um zwei Protagonisten, erfolglose Handelsvertreter für unoriginelle Scherzartikel, die wie auch die meisten weiteren Akteure eher unattraktive Durchschnittsmenschen darstellen. Die Welt wurde nachgebaut und in entsättigte Farben getaucht, zur Theaterbühne gemacht. Es ist eine perspektivlose Welt, die Menschen sind desillusioniert, uninspiriert und hängen besseren Erinnerungen hinterher, von einem lebendigeren Leben. Die reduzierte Narration bietet eine naiv-lakonische Komik, die wohl zünden mag, wenn man viel hinzuphilosophiert. Vordergründig klingt alles schrecklich banal. Ich muss den Grundton des Films schildern, um die Besonderheit der bewussten Szene verständlich zu machen. (Außer ihr gibt es zwei weitere Szenen, die aus dem Rahmen fallen, die ich hier nicht weiter verhandeln möchte – eine historische Episode über den Krieg und eine in einem Affenversuchslabor.)
Also, die Szene spielt in der Kolonialzeit. In eine riesige, scheinbar liegende Kupfertonne, an der Seite ist eine offenstehende Tür, wird eine Gruppe von angeketteten Sklaven geführt, unter Bewachung von Soldaten und Peitschenhieben. Eine Frau mit Kind auf dem Rücken bricht jammernd kurz vor der Tür zusammen, wird trotzdem hineingezwungen. Die Tür wird verschlossen. Eine Fackel wird angezündet, diese unter die Tonne gehalten und man gewahrt, dass die Tonne wohl über einem mit Treibstoff gefüllten Becken hängt, der in Flammen aufgeht. Die Tonne ist gespickt mit verschieden großen Trichtern, wie von altmodischen Hupen oder Megaphonen. Als das Feuer eine Weile brennt, beginnt es aus dem Innern zu rumoren und die Tonne zu rotieren. Ein seltsamer Singsang ertönt. Vage kann man das Trappeln der verzweifelten Menschen in der Tonne durchhören, aber die „Musik“ bleibt doch sehr abstrakt, ein undefinierbarer Klang. Auf der Tonne steht der Name des (bekannten schwedischen Kupfer-) Herstellers ‚Boliden‘. Nach geraumer Zeit erfolgt ein Schnitt auf eine Fensterfront, in welcher sich die Tonne spiegelt. Die Fenster werden aufgeschoben und eine Gruppe von greisen Honoratioren und Damen, in Frack und Ornat und Abendkleidern tritt bedächtig, etwas wackelig auf den Beinen, heraus auf die Terrasse, ergriffen lauschend.
Boliden ist u.a. bekannt durch einen Skandal in Andalusien, wo nach einem Dammbruch giftiger Abraumschlamm einer Kupfermine in einen Fluss gelangte, woraufhin viele Anwohner erkrankten und starben.
Natürlich geht es auch sonst im Film um Fragen, was der Mensch dem Menschen antut, Machtstrukturen, Hierarchien, Ausbeutungsverhältnisse… Aber da bleibt es meist in einem alltäglichen Rahmen. Der Kupfermenschenkochkessel als Musikwalze ragt als Solitär heraus. Ein Bild entsetzlicher Folter als Genuss für eine überalterte dekadente Herrscherklasse.
Wer hat den Film gesehen? Wer hat dazu eine Meinung?

Eine der wenigen Kritiken, die überhaupt diese Szene behandeln:

„Endgültig absurd wird es am Ende nach dem letzten Zwischen­titel: »Homo sapiens«. Ein Affe im Versuchs­labor, auf scho­ckie­rende Weise fest­ge­kettet und sein Kopf einge­spannt, der Schädel aufgesägt und verdrahtet. Ihm werden bei leben­digem Leib Strom­stöße versetzt, während die Labo­rantin neben ihm – hässlich, dick, im Kittel, wie fast alle Menschen in diesem Film hässlich, dick und unvor­teil­haft gekleidet sind – während diese Labo­rantin also ungerührt tele­fo­niert. Das ist natürlich billigste Denun­zia­tion von Wissen­schaft, so billig, dass es den Zuschauer beleidigt zurück­lässt, aber trotzdem ein hoch­gradig eindrucks­volles, dabei seltsam schönes Bild.
Ebenso das Nächste: Ein Dutzend halb­nackte Schwarze, offenbar afri­ka­ni­sche Einge­bo­rene in tradi­tio­neller Kleidung, ange­kettet zum Teil mit Halseisen – »wie der Affe« kommt einem unwill­kür­lich in den Sinn, soll es wohl auch, obwohl und weil diese Asso­zia­tion rassis­tisch ist. Sie werden von Weißen im Tropen­kostüm des frühen im 20. Jahr­hun­derts mit Peitschen in einen Metall­kessel getrieben, der wird erhitzt und beginnt sich zu drehen, womöglich von innen im Über­le­bens­kampf ange­trieben. Es folgt ein 180-Grad-Schwenk auf eine Party-Gesell­schaft aus lauter reichen Alten, die sich das Spektakel angucken. Auch das denun­ziert überaus billig und viel zu einfach west­li­chen Kolo­nia­lismus, ist aber gut abzusehen und als Bild für sich stark.“ (Rüdiger Suchsland, http://www.artechock.de/film/text/kritik/t/tasiau.htm)

Roy Andersson in einem Interview:
„Heutzutage muss man zuerst an sich selbst denken und seinen eigenen Gewinn maximieren, indem man andere übervorteilt. Ich will gar nicht über die schrecklichen Folgen dieses Verhaltens nachdenken. Es ist eine Katastrophe, ein Irrsinn, der den jungen Leuten den Glauben an das Gute austreiben wird.
Ich hasse Erniedrigung, andere Menschen erniedrigt zu sehen und selbst erniedrigt zu werden. All meine Filme drehen sich irgendwie um Erniedrigung. Ich komme aus der Arbeiterklasse und habe gesehen, wie sich Verwandte vor ihren Vorgesetzen selbst erniedrigen, einen übertriebenen Respekt für Autorität zeigen, der ihnen unmöglich macht, ihre Meinung zu sagen und ihnen nur Schuldgefühle lässt. Das habe ich mein ganzes Leben lang erlebt, und ich habe beschlossen, dagegen zu kämpfen“ (….)
„eine präzise arrangierte Szene, in der ein schreckliches Verbrechen in einen fiktiven historischen Kontext gestellt wird. In der Kombination von Grausamkeit und Schönheit ist das fast eine Provokation. Ich beziehe mich auf die Massenvernichtungsszene gegen Ende des Films. Britische Kolonialisten treiben Sklaven in einen Kupferzylinder, und aus den letzten Schreien der Opfer entsteht eine langsame, wundervolle Musik.
Für einen Künstler ist es wichtig, sogar notwendig, vorgefasste Meinungen durcheinanderzuwirbeln, daran zu rütteln, dem Gefühl von Schuld in der Welt etwas hinzuzufügen. Wir sollten uns immer noch schämen. Ich habe diese Szene seit 50 Jahren in meinem Kopf, und es befinden sich darin jede Menge historische Anknüpfungspunkte. Ich bin sehr glücklich, dass sie mir ohne Unterwürfigkeit oder Sentimentalität gelungen ist. „

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