Mai 1968 filmen
Actua I / Les Amants réguliers
Zu Beginn der 1990er Jahre hat Philippe Garrel sein Werk rückblickend in vier Phasen aufgeteilt: Von 1964 bis 1968, so der Regisseur, handele es sich um Jugendwerke, was angesichts seines damaligen Alters von 16 bis 20 Jahren als plausible Kategorie erscheint. Von 1968 bis 1978 folgen, so die Selbstperiodisierung, die „Nico-Jahre“, in denen Garrel mit der „chanteuse allemande“ zusammenlebt und sieben Filme mit ihr macht. Dann kommt eine „narrative“ Periode, wobei das Erzählen noch ganz fragil und zerbrechlich ist, so als müsse einer nach einer halb selbst gewählten, halb erzwungenen Aphasie vorsichtig wieder das Sprechen lernen. Garrel zählt zu dieser Phase vor allem L’enfant secret und Elle a passé tant d’heures sous les sunlights. Schließlich, ab 1988, findet dann eine Rückkehr zum Dialog statt. Die unzähligen Aushandlungsprozesse zwischen Mann, Frau, Kind sind nun nicht mehr ganz so ausschließlich über Gesichter, Gesten, Körper gesteuert wie zuvor. Diese vierte Phase, so würde ich denken, ist auch 25 Jahre nach Garrels Selbsteinschätzung nicht zu Ende. Ihr Beginn ist zugleich der Beginn einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Marc Cholodenko, mit dem Garrel seitdem 10 Filme, darunter Les Amants réguliers, geschrieben hat.
Was heute Abend projiziert wird, ist eine historische Montage. Actua I von 1968, 6 Minuten Filmmaterial aus dem Übergang von Phase I und II, trifft auf den wohl bekanntesten Film aus der Phase IV, Les Amants réguliers. Zugleich kollidieren damit zwei Blicke auf das Jahr 1968, das hier einmal als Dokument erscheint und einmal als Versuch einer Teilrekonstruktion dieses Dokuments mehr als 30 Jahre später. Actua I, Kurzform für „Actualités révolutionnaire“, ist erst vor kurzer Zeit wieder aufgetaucht, das Negativ galt als verschollen. In einem Gespräch über Les Amants réguliers erinnert sich Garrel: „1968 hatte ich, gemeinsam mit Serge Bard und Patrick Deval, einen Film von drei Minuten Länge gedreht, Actua 1. Das war eine Art Wochenschau auf 35mm, eine revolutionäre Wochenschau über die Bewegung des 22. März – eine Art Gegen-Wochenschau zu denen von Pathé. Der Film bestand aus einer Mischung selbstgedrehter 35mm-Aufnahmen unserer Cameflex-Kamera und 16mm-Amateuraufnahmen, die wir auf 35mm aufbliesen. Für Les Amants réguliers habe ich dieselben Einstellungen nachgedreht, so wie ein Maler ein Gemälde neu malt, das ihm gestohlen wurde. So zum Beispiel die Kamerafahrt entlang den Wagen der CRS Sicherheitspolizei, die auf der Brücke parken.“ Dass Garrel, Bard und Deval, wenig später Protagonisten der Zanzibar-Bewegung, so ungehindert an den Wagen der Sicherheitspolizei vorbeifahren konnten, lag wohl daran, dass sie in einem Luxuswagen, dem Lancia Cabriolet des Schriftstellers Alain Jouffroy unterwegs waren und damit unverdächtig schienen.
Actua I hat also lange Zeit nur in der Erinnerung derer existiert, die den Film damals gesehen haben. Zu ihnen gehörte Jean-Luc Godard, der die folgende Beschreibung gibt: „Ich erinnere mich auch an die Einstellungen von 1968, die einzigen, in denen man die CRS [die Sicherheitspolizei] frontal sah, mit der düsteren Kargheit des 35mm-Materials, zu einem Zeitpunkt, an dem jeder nur auf flauem 16mm drehte.“ Wenn denn überhaupt gedreht wurde, müsste man hinzufügen. Zwar entstanden im Mai 1968 binnen kürzester Zeit etliche der auf Fotografien basierenden 16 mm-Cinétracts in kollektiver Autorschaft, kurze Flugblattfilme mit agitatorischem Impuls, aber kaum jemand entschied sich, die Kamera während der Demonstrationen, Kämpfe, Debatten mitlaufen zu lassen. Man wünscht sich einen vierstündigen Film von Jean Rouch über Paris im Frühjahr 1968, „Chronique d’un printemps“ – aber dieser Film existiert nicht.
Claude Lelouch hat dies mit großem Bedauern auf den Punkt gebracht: „Mai 1968 ist sehr schlecht gefilmt worden. Das war eine Liebeserklärung, und keiner war in der Lage, das in kinematographisch angemessener Weise aufzuzeichnen. Wahrscheinlich hat das mit Schuldbewusstsein zu tun. Einige von uns fühlten sich schuldig, zu den Vermögenden zu gehören. Ich selbst hatte es mir gerade einigermaßen bequem gemacht. Aus diesem Grund haben wir vergessen das Ereignis zu filmen, obwohl wir daran teilnahmen, wir waren zu beschäftigt mit unseren persönlichen Schwierigkeiten. Als das Festival in Cannes abgebrochen wurde, habe ich zu keinem Augenblick daran gedacht, meine Kamera herauszuholen, dabei wäre es leicht möglich gewesen. Keiner hat da gescheit seine Arbeit gemacht.“
Les Amants réguliers bezieht sich implizit und explizit auf diese Phase zurück. Auf die offensichtlichste Weise tut er dies, indem er Mai 68 zum Ausgangspunkt einer Erzählung macht. Zum anderen, wie oben bereits erwähnt, indem er versucht, den verlorengeglaubten Film von damals exakt nachzustellen und erneut zu drehen. Zum dritten, indem er, wie fast alle Filme Garrels, die Erzählung mit Autobiographischem durchtränkt, ohne dabei deutliche Grenzen zwischen Erinnertem und Erfundenen zu setzen. Ohnehin ordnet der Film Realität, Traum und Rausch auf einer gemeinsamen Ebene an. Hinzu kommen etliche filmische Anspielungen, auch und vor allem auf Jean Eustaches La Maman et la Putain, der für Garrel und andere seiner Generation den vielleicht wichtigsten Bezugspunkt darstellte.
Ein paar Anmerkungen zum Produktionshintergrund von Les Amants réguliers. Für einen Film Garrels, der oft unter widrigen, äußerst knappen ökonomischen Bedingungen arbeitet, sieht dieser Film nach einem ungewöhnlich luxuriösen Budget aus. Möglich wurde er einzig dadurch, dass Garrel im Windschatten Bertoluccis agierte, der 2004 mit The Dreamers seine Version von 1968 verfilmt hatte, ebenfalls mit Louis Garrel in der Hauptrolle. Garrel drehte teils in den gleichen Kulissen, kaufte für wenig Geld die Kostüme auf, übernahm auch einige der Schauspieler, darunter seinen Sohn. Es ist also ein „Film d’occasion“ im mehrfachen Sinne, eine Produktion im Stil der B-Filme Hollywoods, die auf Zweitverwertung setzt und Bertoluccis nostalgischem Blick auf 68 einen deutlich anderen entgegensetzt.
Die Retrospektive hier im Arsenal bietet die seltene Gelegenheit, die unterschiedlichen Phasen Garrels komprimiert und in dichter Folge zu erleben. So verschieden die Filme stilistisch auch sind, sie scheinen mir alle um die Frage zu kreisen, welche persönlichen, sozialen Zusammenhänge sich finden oder erfinden lassen, um kontinuierlich künstlerisch produzieren zu können. Etwas schematisch gesagt sind die beiden Pole, zwischen denen sich dies bei Garrel aufspannt, die Familie einerseits und die bohemistische, dandyeske Künstlergruppe andererseits. Mit anderen Worten: Family oder Factory, vielleicht auch eher: Family als Factory. Die fortgesetzte Präsenz seines Vaters Maurice Garrel als Schauspieler in den Filmen zwischen 1964 und 1968 und dann wieder ab den 1990er Jahren ist ein Indiz dafür, aber auch Brigitte Sy und der gemeinsame Sohn Louis Garrel gehören zur regelmäßigen Besetzung. Es geht dabei, glaube ich, nicht oder nicht in erster Linie um Blutsverwandtschaft oder die bürgerliche Kleinfamilie, sondern darum, Näheverhältnisse, persönliche Bindungen, auf die Leinwand zu bringen und dabei etwas zu erzeugen, was zwischen Fiktion und Dokument oszilliert. Dies gilt gleichermaßen für die Produktionsgemeinschaften mit Nico, Jean Seberg, Frederic Pardo in den 1970er Jahren wie für die Familie im engeren Sinn. In den Filmen der 1970er Jahre ist es interessant zu sehen, was mit einer von Warhol inspirierten Produktionspraxis passiert, wenn sie ohne dessen ökonomische Sicherheit, aber auch ohne die queere Utopie der New Yorker Factory umgesetzt wird. Fluchtpunkt all dieser Bemühungen, so romantisch ist Garrel dann doch, ist jeweils die künstlerische Lebens- und Produktionsweise als ein alternativer, stets bedrohter und hochprekärer Existenzmodus.
In Les Amants réguliers finden sich beide Gruppierungen wieder: Die zurückgezogene Bohème, die sich eine alternative Welt aus Kunst, Rausch, Träumerei aufbaut, und die Familie. Dazu eine Szene in Les Amants réguliers, gleich anschließend an die Straßenkämpfe, nach etwa 45 Filmminuten. Wir sehen Francois und seine Mutter. Sie decken den Tisch, der Großvater kommt hinzu. Es geht darum, ob die Barrikadenkämpfe nun als Niederlage oder als Sieg zu bewerten sind, dann um Vor- und Nachteile eines Hauses auf dem Lande, um Engagement und Rückzug. Wir sehen in dieser Szene aber auch, wie der Schauspieler Louis Garrel, sein tatsächlicher Großvater Maurice und seine wirkliche Mutter Brigitte Sy beim Essen über alltägliche Dinge sprechen, während sie von Philippe Garrel, seinerseits Vater, Sohn, Familienmitglied gefilmt werden. Es ist schwierig herauszufinden, wie genau diese Überlappung von Privatem und Öffentlichem die Szene beeinflusst, aber dass sie es tut, scheint mir ganz deutlich.
Ich möchte diese kurze Einführung mit einer Erinnerung Garrels an Chantal Akerman enden lassen. Sie stammt aus einem Text, der unmittelbar nach Akermans Selbstmord vor einem Jahr entstanden ist und auf den ich erst vor ein paar Tagen hingewiesen wurde. 1968 wird hier zum Ausgangspunkt einer Politik des strategischen Rückzugs: ”It’s ‘68 that put us in the underground. Your generation has to understand that it’s not because we were forced into the underground, it’s because after ’68 we didn’t want to show our films to a mass audience. We thought that was a vulgar job, as a matter of critiquing the society of the spectacle. We joined up with a movement whose idea was circulation purely by word-of-mouth. It was a really peculiar thing, with an elitism that didn’t belong to the bourgeoisie, nor to social success, nor even to the conquest of any run-of-the-mill power structure. We tried to remain a secret. It didn’t last just for one film; we were all committed with the idea of staying that way for the rest of our lives.”
Kino Arsenal, 20. Oktober 2016.