Sonntag, 14.10.2007

Moullet !

Demokratie der irritierten Wahrnehmung

Luc Moullet ist ein fröhlicher Vereinzelter. Er macht seit mehr als 45 Jahren Filme, inzwischen sind es 35; dokumentarische und inszenierte, schwarz-weiße und bunte, fürs Fernsehen und fürs Kino. In Paris ist das möglicherweise anders, aber hier kommen seine Filme seit geraumer Zeit nicht ins Kino. „Wahrscheinlich, weil sie für vom Überfluß verwöhnte Augen zu schäbig sind“, mutmaßte Frieda Grafe 1979.

In manchen seiner Filme spielt er selbst mit, in anderen nicht. Seine trocken-apodiktische Stimme ist häufig aus dem Off zu hören, der Tonfall lässt an Gebrauchsanweisungen denken, aber der Inhalt will nicht zum Tonfall passen. Die Welt müsste anders beschaffen sein, damit Moullets Texte als Gebrauchsanweisungen auf sie anzuwenden wären. Es gibt einen Western mit Jean-Pierre Léaud, den Jean Eustache geschnitten hat. (1) Wahrscheinlich ist das der einzige Western, der vollständig in den Alpen gedreht wurde; ein erratischer Versuch von 1970/71, dem Italo- den Franco- oder Alpino-Western zur Seite zu stellen und zugleich, so Moullet, ein doppeltes Remake von DUEL IN THE SUN und LES DAMES DU BOIS DE BOULOGNE: Kann man King-Vidoro-Bressonianer sein? Warum nicht, würde Moullet fragen.

Sein erster Langfilm, 1966, ist – unter anderem – eine Cinéphilen-Farce, Claude Chabrol wippt darin als lüstern-perverser Onkel im Schaukelstuhl hin und her. Auch Sam Fuller darf etwas über seine Auffassung vom Filmemachen sagen, oder halt, nein, es ist anders: Brigitte, eine der beiden Hauptdarstellerinnen (die andere heißt ebenfalls Brigitte und der Film folgerichtig BRIGITTE ET BRIGITTE) will etwas über Fullers Auffassung vom Filmemachen wissen, aber vor lauter Aufregung hat sie ihre Interviewfragen vergessen. Fuller tröstet sie, Zigarre rauchend und mit starkem amerikanischem Akzent, dass ihm, weil er sie so hübsch und charmant finde, ohnehin keine Antworten eingefallen wären. Er sagt: Woo’s ad tray, tray bell, aber er hätte auch sagen können: Mein Gott, was ich vom Filmemachen halte, hab ich doch letztes Jahr in PIERROT LE FOU schon erzählt.

Manche von Moullets Filmen sind lang, manche kurz. Es gibt auch nochmals andere, die halblang sind oder einen-tick-zu-lang-um-noch-als-kurz-durchzugehen. Wie bei anderen Filmemacherinnen und Filmemachern (Varda, Straub/Huillet, Godard, Kluge, Kristl) ist es eine pragmatische Form des Widerstands, sich nicht auf eine Länge festlegen zu lassen. „[F]ür ein Spiegelei braucht man drei Minuten, für ein Steak etwas länger, und wenn man noch etwas anderes macht… – die Dinge brauchen nun mal unterschiedlich viel Zeit, aber für Radio Canada ist die Zeit für ein Spiegelei zwanzig Minuten, für ein Steak ebenfalls, alles braucht zwanzig Minuten.“ (2) Zu Godards Zitat passt gut, dass Moullets erster Kurzfilm von 1960 den Titel UN STEACK TROP CUIT hat und dass er im Vorprogramm von LE PETIT SOLDAT hätte laufen sollen; Godards Film wurde im September 1960 verboten und Georges de Beauregard, der beide Filme produziert hatte, bekam kalte Füße; das war das.

Alle genannten Filme Moullets sind von einer verblüffenden, gerne auch etwas enervierenden Einfachheit. Es ist ein schnörkelloses, funktionales Kino an der Grenze zur arte povera. Manchmal auch jenseits. Wenn einer einen Film für 60 Millionen alte Francs macht, kann ich denselben Film für die Hälfte machen, sagt Moullet. Er spricht auch einmal davon, dass er im Laufe seiner Karriere höchstens drei Travellings gemacht hat. Es hat ihm nicht gefallen, es war zu kompliziert. Und die Lakonie in seiner Stimme hat dabei etwas so überzeugendes, dass es auf einmal ganz unklar wird, wozu das gut sein soll. Sind die Leute denn verrückt, dass sie die Kamera auf Schienen setzen und darauf hin- oder herrollen lassen? (Man muss dann allerdings schnell einen Jacques Demy-Film gucken, um dieses Lob der Einfachheit nicht zum Dogma erstarren zu lassen und sich davon zu überzeugen, dass aufwändige Kranfahrten und komplizierte Travellings etwas Fantastisches sein können.)

Auf halber Strecke zwischen den beiden schon genannten Filmen, dem ersten Kurzfilm von 1960 und dem ersten Langfilm, BRIGITTE ET BRIGITTE von 1966, liegt Moullets wahrscheinlich bekanntester Auftritt. Genauer: Brigitte Bardot liegt, und zwar in einer Badewanne. In der Hand hält sie Moullets Fritz Lang-Monographie. (3) Moullet ist zu diesem Zeitpunkt 25, das Buch ist gerade erschienen und er treibt sich regelmäßig in der Redaktion der Cahiers du cinéma herum. Für die Zeitschrift schreibt er seit sechs Jahren.

Das Hin und Her zwischen Alltag und Fiktion, zwischen Kino und Schreibtisch, von dem auch LE MEPRIS handelt, charakterisiert gut die cinéphile Welle der 50er und 60er: Einer, dem das Kino zum Lebensraum mutiert ist, schreibt ein Buch über einen seiner Helden, Fritz Lang, und dieses Buch taucht, kaum erschienen, in einem Film auf, der vom Kino handelt. Und – Schachtel in der Schachtel, Spirale jenseits der Spirale – als entstiege er wie von Geisterhand diesem Buch, spielt Lang selbst eine der Hauptrollen in Godards Film. (4)

Zum Fritz Lang-Buch zwei lange Zitate: Fritz Lang an Lotte Eisner, datiert auf den 30.1.1963:

„Ich fand hier einen Brief von einem Herrn Luc Moullet, Cahiers du Cinéma, 125 Champs Elysées, der mir schreibt, dass er ein Buch über mich und meine Filme für Ed. Seghers, Paris, schreibt.
Ehrlich gestanden, Sie kennen mein schlechtes Personengedächtnis, liebe Lotte, weiss ich nicht, ob ich Herrn Moullet kenne. Können Sie mir das vielleicht sagen?
Herr Moullet möchte von mir eine Autorisation für die Reproduktion in seinem Buch von verschiedenen Artikeln, die ich geschrieben habe.
Von einigen Ausführungen, die er schrieb, ersehe ich, dass er ziemlich uninformiert an das Schreiben seines Buches herangeht. Ich erwähne nur, dass er zum Beispiel von einem amerikanischen Projekt meinerseits: BODY SNATCHERS spricht, das ich nie geplant hatte, oder dass ich den GOLEM machen wollte – auch nicht wahr -, oder was ich ihm erzählen könnte von meinem „unfinished film Moontide“, der doch in Paris gelaufen ist. Zwar verstümmelt, aber doch „finished“. […]
Seien Sie doch so lieb, liebe Lotte, und setzen sie sich hin, wenn nötig, stehlen Sie sich die Zeit, und antworten Sie mir und raten Sie mir. Ich möchte nicht unhöflich sein und muss Herrn Moullet seinen Brief irgendwie beantworten.
Ich hoffe, Sie sind gut ins neue Jahr gehopst und auch, dass ich Sie irgendwie bald sehen werde.“

Lotte Eisners Antwort an Fritz Lang, datiert auf den 16. April 1963 (Eisners Tippfehler habe ich so belassen):

„Lieber FritzLang,
Ich habe den Moulet durchgesehen und muss sagen, dass er besser ist, als ich erwartet habe. Hier ist keine Verhimmelung der Indien Filme und Negierung von M.Er versucht ehrlich, sich mit den Filmen auseinanderzusetzen. Ich bin in manchem anderer Meinung – ich hätte auch dasGanze mehr vom Stilistischen aus gesehen, vielleicht weil ich nun einmal Kunsthistoriker gewesen bin. […]
Hier nur ein paar Sachen, dieich Sie anfrage, damit keine Irrtümer entstehen. Haben Sie jemals einen Film Die Sendung des Yogi geplant? Ich weiss davon nichts und weiss nicht , wo Moulet das her hat.Er behauptet zudem , dass Sie in Pest von Florenz den Tod gespielt haben. Ich glaube Sie sollten ihm schreiben, dass es sich bei Der Müde Tod (Trois Lumière) bei der ersten Episode nicht um Venedig 1600 hande sondern um das Qutatrocento. (Seite 9).
Wie bei allen Franzosen bestehen Unklarheiten, was expressionistisch ist, trotzdem ich in meinem Buch das klargelegt habe. Er behauptet, dass Ihre expressionistischsten Filme Siegfried, Metropolis und M waren(Seite 10) Ich finde, dass Sie weit mehr Eklektiker gewesen sind […]
Ich finde, er sollte in der deutschen Epoche mehr auf M eingehen, das sollten Sie ihm schreiben. Aber das ist nur eineKleinigkeit. Sonst können Sie alles autorisieren.“ (5)

Anscheinend sind die Anmerkungen von Lang und Eisner nicht mehr in das Manuskript eingearbeitet worden. Jedenfalls finden sich etliche der angemahnten Ungenauigkeiten und Fehler auch im veröffentlichten Buch wieder, und mit Sicherheit sind nicht alle falschen Informationen auf Moullets Lust zurückzuführen, durch strategisches Einschleusen von Fehlinformationen spätere Abschreiber leichter stellen zu können. (6)

Ein weiterer Brief, diesmal aus dem Jahr 1956, enthält eine schöne Charakterisierung: „Mein lieber Moullet, gerade erhalte ich Ihren Brief, und ich beantworte ihn sofort, weil er so sympathisch ist und ich darin einen neuen Moullet entdecke, voller Humor, entspannt und klarsichtig. […] Ja, ich gebe zu, wir haben uns ein wenig vor Ihnen gefürchtet. Zunächst einmal, weil Ihre (aufrichtige und leidenschaftliche) Bissigkeit einmal unsere eigene war und es schockierend ist, in den Cahiers immer wieder auf diese Art von Sarkasmus zu stoßen, und außerdem hatten wir den Eindruck, als gingen Sie in beiden Richtungen zu weit (Lobhudeleien und Haßtiraden). Mir gefiel es nicht, wenn Sie erklärten: ‚Resnais ist kein ernstzunehmender Filmemacher’ oder ‚Cottafavi ist der größte Italiener nach R.R.’, denn ich hatte dabei das Gefühl, einer Karikatur meiner selbst (unserer selbst) zu begegnen. […] Es ist noch zu früh, Artikel von Ihnen zu veröffentlichen (schreiben Sie viel für sich selbst, werden Sie disziplinierter usw.), aber es wäre idiotisch, auf Ihr enormes Wissen zu verzichten…“ (François Truffaut an Luc Moullet, März 1956). (7)

Zehn Jahre nach dieser paternalistischen Ermunterung und drei Jahre nach LE MEPRIS kann man Moullets Verhältnis zur Cinéphilie in BRIGITTE ET BRIGITTE beobachten: Kein verklärt-patinöser Blick auf einen verzauberten Ort der Jugend, keine Spur von der selbstvergessenen Nostalgie, die dem Begriff seinen schalen Beigeschmack verleiht.

Die beiden Protagonistinnen, die aus den Provinzen nach Paris gekommen sind, treffen sich am Bahnhof. Beide heißen Brigitte, beide sind fast identisch gekleidet und reisen mit dem gleichen Koffer. Es liegt nah, dass sie gemeinsam ein Zimmer nehmen – schwer genug – und die Stadt erkunden: Zuerst die Hörsäle der Sorbonne, in denen der Lärm von Presslufthämmern kaum von den monotonen Sermonen der Professoren zu unterscheiden ist, dann die besserwisserischen Zirkel der Jungs, die im Kino pro Film 13 bis 14 Seiten Notizen machen. Eine der beiden Brigittes versucht dann, bei einem Professor (Eric Rohmer) eine Erhebung zum Kino in Paris einzureichen. Die Sequenz, die sich dann anschließt, gehört zu meinen Lieblings-Moullet-Stellen, sie ist so erzählt, wie man die Landung auf einem fremden Planeten im Stil des ethnographischen Kinos erzählen würde.(dt. Übersetzung)

– Cinéphiler I: Le cinéma est la seule manifestation artistique de l’Amerique, qui, avant, était inculte. L’usine à mythes, ce n’est pas le cinéma, mais la littérature americaine.
– Brigitte: Mais par son coté commercial, Hollywood ne semble t’il pas avoir favorisé deux générations de délinquants juvenils – des gangsters aux beatniks et aux mashed-potatoes?
– Cinéphiler I: L’auréole romantique de l’échec chez Ernest Hemingway, Scott Fitzgerald, Tennessee Williams a servi d’excuse à trois générations de délinquants adultes.

– Brigitte: Si le cinéma américain est médiocre, n’est-ce pas la faute des Westerns infantils?
– Cinéphiler II: Au contraire. Les films américains médiocres sont des adaptations littéraires. Beckett, d’après Anouilh, Zhivago, Le vieil homme et la mer, d’àpres Hemingway.
– Brigitte: Quels sont les trois meilleurs cinéastes américains?
– Cinéphiler II (ohne das geringste Zögern): Hitchcock, Orson Welles, et Jerry Lewis.

– Brigitte: Quels sont les trois pires cinéastes américains?
– Cinéphiler III (ohne das geringste Zögern): Hitchcock, Orson Welles, et Jerry Lewis. L’ordre exact, c’est: 321 Hitchcock, 322 Jerry Lewis, dernier: Orson Welles.

– Brigitte: Quels sont les trois meilleurs cinéastes américains?
– Cinéphiler IV (ohne das geringste Zögern): Vincente Minelli, Harry Revier et Edward Ludwig. Son dernier film est si prodigieux qu’en projection j’ai pris 12 pages de notes – non, 13.
– Brigitte: Vous voyez des films dans votre quartier?
– Cinéphiler IV: Je vais à Londres, à Bruxelles ou à New York quand il y a un nouveau film d’Edward Ludwig.

Im letzten Interview wird die Ironieschraube dann endgültig überdreht. Der Cinéphile wird nach seinem Lebenstraum gefragt und antwortet in einer der wenigen Großaufnahmen à la Dreyer mit verklärtem Blick ins Leere: „Mourir en projection“ – während der Vorführung sterben.

Natürlich ist Moullet selbst ein Bewohner des Cahiers- und Positif-Planeten, den er hier beschreibt und dem er später mit LES SIEGES DE L’ALCAZAR noch einen Film gewidmet hat- gut vorstellbar, dass er die Antworten der Cinéphilen eins zu eins aus den Zeitschriften übernommen hat (vielleicht sogar aus seinen eigenen Texten). Aber er ist als beinharter Materialist zugleich weit entfernt von jedem Pathos. Deshalb äußert sich „Cinéphilie“ bei ihm auch bis heute vor allem ganz pragmatisch darin, dass er nicht aufhört, über Filme zu schreiben und Filme zu machen, egal, ob mit oder ohne Geld. In dieser Starrköpfigkeit erinnert er an Straub und Huillet (angeblich verwechselte Truffaut Moullet Mitte der 50er Jahre gern mit Jean-Marie Straub), und von Straub stammt auch das Lob, das bis heute automatisch erwähnt wird, wenn der Name Moullet fällt: Moullet sei der einzige gleichzeitige Erbe von Bunuel und Jacques Tati. (8)

Das wird mit seinem Humor zu tun haben, den Moullet selbst regelmäßig mit Hinweisen auf seine pataphysischen Vorlieben erläutert. Nicht, dass ich mit Alfred Jarry besonders vertraut wäre, aber mir scheint, dass das Absurde in Moullets Filmen mehr mit dem Absurden des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu tun hat als mit dem Becketts oder Ionescos. Es entwickelt sich – wie bei Jarry – noch in der Nähe des Anarchismus (und damit des Sozialen) und ist nicht existenzialistisch zurückgeholt ins Individuelle. Kann man das sagen: Dass das Absurde in seiner pataphysischen Ausformulierung noch die Befreiung und Öffnung feiert, während es sich später dann – verschreckt und angenagt von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts – in sich zusammenkauert und nach innen wendet? Dass also das expansive und explosive Lachen plötzlich damit konfrontiert war, dass Expansion und Explosion Verheerendes angerichtet hatten und nun Selbstbescheidung an die Stelle treten musste? Ich bin mir nicht sicher.

Wenn es eine Gemeinsamkeit mit Tati und Bunuel gibt, dann liegt sie wohl im Befremden. Denn darin sind sich die Dinge trotz des anarchistischen Einschlags gleich in Moullets Filmen: Man kann ihnen mit Befremden begegnen. Es herrscht die Demokratie der irritierten Wahrnehmung. Seine Filmographie lässt sich daher auch beschreiben als eine (prinzipiell unabschließbare) Liste von Dingen, denen man mit Befremden gegenüberstehen kann: Der Verschluss einer Literflasche Cola (ESSAI D’OUVERTURE), die Lebensmittel auf dem heimischen Teller (GENESE D’UN REPAS), die Absperrkreuze in der Pariser Metro, die das Schwarzfahren verhindern sollen (BARRES), die eigene Beziehung und Sexualität (ANATOMIE D’UN RAPPORT), die Arbeitslosenversicherung (LA COMEDIE DU TRAVAIL), die nordfranzösischen Kohleberge (LA CABALE DES OURSINS), und so weiter.

Gegen die scheinbare Selbstverständlichkeit des Alltags bringt Moullet sein Pulverisierungsunternehmen in Anschlag. Die Ordnungen zerbröckeln wie Knäckebrot unter dem etwas zu festen Zugriff. Auch die dramaturgischen Konventionen zerkrümeln. In LA COMEDIE DU TRAVAIL ist die vertrackte Liebesgeschichte zwischen einem, der mit seiner Arbeitslosigkeit hochzufrieden ist, und einer Job-Vermittlerin, die ihn ausgerechnet durch die Vermittlung einer Arbeitsstelle verführen will, – klassischer Melodramen-Stoff – eigentlich längst zu Ende erzählt, als ein obskurer Mordplot beginnt.

An die Stelle der erzählerischen Kohärenz tritt bei Moullet das Prinzip der Reihung. „Meine Technik ist einfach“, sagt er über das Drehbuchschreiben, „ich arbeite an einem großen Tisch. Wenn ich die Idee zu einem Film habe, schneide ich Blätter in vier Teile und schreibe auf diese kleinen Zettel Ideen für einzelne Szenen. Wenn der Tisch ganz bedeckt ist (was ungefähr 100 Gramm Papier ausmacht), weiß ich, dass ich genug Material habe, um einen guten Film zu schreiben. Die Zettel, d.h. die Szenen, müssen jetzt nur noch in die richtige Reihenfolge gebracht werden. Das ergibt manchmal einen etwas kurvigen und widersprüchlichen Parcours; am schwierigsten ist es, alles in die richtige Ordnung zu bringen. Es gibt Teilordnungen, Segmente von sieben oder acht Blättern, und ich muss diese Segmente untereinander verschieben. Wenn es eine zu große Erschütterung zwischen zwei Segmenten gibt, schreibe ich eine zusätzliche Szene.“ (9) Der Kitt zwischen den Segmenten ist Moullets gleichbleibende, lakonische Insistenz: Lächerlichkeit, Banalität, sich für keinen Witz zu schade sein – ein Prinzip an der falschen Stelle anwenden, dann aber konsequent und fast etwas stumpfsinnig – eine Sache so lange und von so nahem ansehen, dass sie von immer ferner zurückblickt.

Moullet hat von Beginn an über Filme geschrieben. Anders als bei den Leuten von der Nouvelle Vague ist sein Schreiben jedoch nicht hinter dem Regieführen zurückgetreten oder zur Ausnahme geworden. Er schreibt kontinuierlich, immer mal wieder zu Cecil B. DeMille, außerdem zuletzt längere Texte über King Vidor und Deleuze („In the papers my students submit at Paris III I have very often found references to a certain Gilles Deleuze. Intrigued, at one point I went to the closest public library, where I borrowed the two works by this author consecrated to the cinema.“) Zu Deleuzes Kino-Büchern verhält er sich wie zu den Dingen in seinen Filmen. Mit dem Begriff „Naivität“ wäre es falsch beschrieben; eher ist es eine Skepsis, ein Erstaunen gegenüber Deleuze’s Terminologie, vor allem aber gegenüber dem Missverhältnis von Beispiel und Verallgemeinerung. „Zeit-Bild“, „Bewegungs-Bild“: die Schubladen sind Moullet einfach zu groß, als dass er einzelne Filme darin verschwinden sehen wollte.

*

Eine von Alfred Jarrys Definitionen der Pataphysik geht so: “Die Pataphysik wird vor allem die Wissenschaft des Einzelnen sein, auch wenn man behauptet, es gebe Wissenschaft nur als Wissenschaft des Allgemeinen.“ In Moullets Kritik an Deleuze ist diese Definition nur notdürftig verkleidet: “Das Allgemeine ist eine Falle. Nur das Lokale, das Einzelne existiert.” Das scheint mir – auch heute, an seinem 70. Geburtstag – ein zentraler Satz im Glaubensbekenntnis des Atheisten Luc Moullets zu sein. (10)

________________________________

Anmerkungen:

(1) UNE AVENTURE DE BILLY LE KID / A GIRL IS A GUN. Mir fällt erst jetzt auf, wieviel Eustache und Moullet trotz der Verschiedenheit ihrer Filme miteinander zu tun haben. Eustache schneidet Moullets UNE AVENTURE DE BILLY LE KID, Moullet produziert Eustaches und Barjols LE COCHON. Beide betonen häufig, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen kommen und auch deshalb ein einfaches, „proletarisches“ Kino machen. Und wenn Moullet in LA COMEDIE DU TRAVAIL (1987) Michel Delahaye als Chef des Arbeitsamts besetzt, dann ist das auch eine schöne Reverenz an Eustaches letzten Film OFFRE D’EMPLOI, in dem Delahaye als Arbeitsloser auf Stellensuche war. Eustache: die Depression. Moullet: die Komik. (zurück)

(2) Jean-Luc Godard: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas, München: Hanser 1981, S. 179. (zurück)

(3) Luc Moullet: Fritz Lang, Paris: Édition Seghers 1963. Brigitte Bardot liest zwei Stellen aus dem Materialteil mit Texten von Fritz Lang vor (im Buch S. 108 und S. 124). (zurück)

(4) Beide Briefe faksimiliert abgedruckt im von Ralph Eue zusammengestellten Lotte Eisner-Dossier in kolik.film. Sonderheft 6 (2006), S. 31-75. Ich habe die orthographischen Eigenwilligkeiten und die Schreibung „Moulet“ in Eisners Brief beibehalten. Dank an Ralph Eue für Material zu Moullet. (zurück)

(5) Der Film wiederum müsste dann Eingang finden in eine Neuauflage des Buchs und so weiter, ad infinitum. (zurück)

(6) Moullets Vergnügen an der Desinformation: Mal liest man, sein Vater sei Postsortierer gewesen, dann wieder spricht er von ihm als Vertreter. (zurück)

(7) Das Zitat stammt aus einem Telefongespräch mit Straub im Jahre 1993 und ist abgedruckt in dem schönen Büchlein, das begleitend zu einer gemeinsamen Retrospektive der Cinémathèque Suisse, der Cinémathèque Francaise und des Ciné 104 entstanden ist: Luc Moullet le contrebandier, hg. von Jean-Paul Combe und Hervé Guitton, Paris / Lausanne / Pantin 1993, S. 5. Im Buch auch eine Bibliographie der Texte von Moullet bis 1993. (zurück)

(8) Ralph Eue: Capricci, Farcen und Bagatellen, in: Viennale. Vienna International Film Festival, 16.-28. Oktober 1998, S. 173-179. Dort – anlässlich eines Viennale-Schwerpunkts zu Luc Moullet – auch weitere Texte von und über ihn. Es ist ansonsten wenig deutschsprachiges über Moullet geschrieben worden, ein übersetzter Text von ihm über das Verhältnis von Mai 68 und Filmen hier: Luc Moullet: L’esprit de mai, in: That Magic Moment. 1968 und das Kino. Eine Filmschau, hg. von der Viennale, Wien: Viennale 1998, S. 7-17. (zurück)

(9) Jean-Paul Combe und Hervé Guitton: Entretien avec Luc Moullet, in: Luc Moullet le contrebandier, S. 17-47: 32. (zurück)

(10) Wovon nicht die Rede war: Von Moullet als Lehrer an der FÉMIS und der Universität (Sorbonne III). Von den Bergen, die in fast jedem Moullet-Film eine Hauptrolle spielen. Von Moullets Auftritt in Martin Rits nicht genug zu rühmenden Kurzfilm LA LECON DE GUITARE. Überhaupt von Moullet als Schauspieler und von seinem Buch „La politique des acteurs“. Von GENESE D’UN REPAS, von dem sich alle Lebensmittelfilmemacher der letzten Jahre eine Scheibe abschneiden sollten. All diese Auslassungen sind sträflich, aber sie sind nicht zu ändern. (zurück)

*

Zur Verfügbarkeit von Moullets Filmen:

– Im letztem Jahr hat Blaqout eine Box mit 7 Moullet-Filmen auf DVD herausgebracht; alle Filme mit englischen Untertiteln. Enthalten: BRIGITTE ET BRIGITTE, LES CONTREBANDIERES, UNE AVENTURE DE BILLY LE KID, ANATOMIE D’UN RAPPORT, GENESE D’UN REPAS, LES SIEGES DE L’ALCAZAR, PARPAILLON und Gérard Courants Film über Luc Moullet L’HOMME DES ROUBINES.

– Einzelveröffentlichung von Blaqout: LA COMEDIE DU TRAVAIL (& BARRES als Bonus), allerdings ohne Untertitel.

– Als DVD-Beilage zu cinéma 011 erhältlich: LA CABALE DES OURSINS und LE FANTÔME DE LONGSTAFF, beide nur auf französisch.

– Der Kurzfilm ESSAI D’OUVERTURE, ein guter Einstieg in Moullets Filme, ist auf einer Sammlung mit Kurzfilmen des Festivals von Clermont Ferrant, aber auch im Netz verfügbar.

– In einem Text von Jonathan Rosenbaum ist zu lesen, das Schweizer Label „Les Films du Renard“ plane, 12 Filme von Moullet auf DVD herauszubringen. Schön wär’s.

*

Zum Weiterlesen (auf Englisch):

* Andy Rector: Luc Moullet (Part One). Zwei Cahiers-Texte von Moullet in englischer Übersetzung und weitere Links

* Chris Fujiwara: A Mineral Cinema. Luc Moullet at the Harvard Film Archive, in: The Phoenix, 26. Mai 2006

*

Übersetzung der Cinéphilen-Umfrage:

– Cinéphiler I: Das Kino ist der einzige künstlerische Ausdruck Amerikas, das bis dahin kulturlos war. Nicht das Kino ist die Mythenfabrik, sondern die amerikanische Literatur.
– Brigitte: Aber scheint Hollywood in seiner kommerziellen Ausprägung nicht zwei Generationen jugendlicher Straftäter begünstigt zu haben – von den Gangstern über die Beatniks bis hin zu den Mashed Potatoes?
– Cinéphiler I: Der romantische Heiligenschein, der dem Scheitern bei Ernest Hemingway, Scott Fitzgerald, Tennessee Williams verliehen wird, hat drei Generationen von Erwachsenen als Entschuldigung gedient.

– Brigitte; Liegt die Mittelmäßigkeit des amerikanischen Kinos nicht an den infantilen Western?
– Cinephiller II: Im Gegenteil. Die mittelmäßigen amerikanischen Filme sind Literaturverfilmungen: Beckett nach Anouilh, Doktor Schivago, Der alte Mann und das Meer nach Hemingway.
– Brigitte. Wer sind die drei besten amerikanischen Filmemacher?
– Cinephiler II (ohne das geringste Zögern): Hitchcock, Orson Welles und Jerry Lewis.

– Brigitte. Wer sind die drei schlechtesten amerikanischen Filmemacher?
– Cinephiler III (ohne das geringste Zögern): Hitchcock, Orson Welles und Jerry Lewis. Die genaue Reihenfolge ist: Platz 321 Hitchcock, Platz 322 Jerry Lewis, letzter: Orson Welles.

– Brigitte. Wer sind die drei besten amerikanischen Filmemacher?
– Cinephiler IV: Vincente Minelli, Harry Revier und Edward Ludwig. Ludwigs letzter Film ist so außergewöhnlich, dass ich 12 Seiten Notizen gemacht habe – nein, 13.
– Brigitte: Gehen Sie hauptsächlich in ihrem Viertel ins Kino?
– Cinephiler IV: Ich reise nach London, Brüssel oder New York, wenn ein neuer Film von Edward Ludwig herauskommt. (zurück zum Text)

– Volker Pantenburg –

Ein Kommentar zu “Moullet !”

  1. Volker Pantenburg schreibt:

    Es ist vielleicht nicht uninteressant zu wissen, dass der Cinéphile I von André Téchiné gespielt wird. Drauf gekommen bin ich durch den folgenden Text: Nicole Brenez: Godard et ses émules par Philippe Garrel, in: Nicole Brenez u.a. (Hg.): Jean-Luc Godard. Documents, Paris: Editions du Centre Pompidou 2006, S. 100-108. Philippe Garrel hat 1967 – neben anderen Arbeiten für den ORTF – eine Sendung mit dem Titel GODARD ET SES ÉMULES gemacht, in der er mit Francis Leroi, Jean Eustache, Jean-Michel Barjol, Romain Goupil und Luc Moullet über Godards Einfluss auf ihre Arbeit spricht. Eine Transkription der Sendung und weitere Informationen im oben genannten Text.

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie müssen angemeldet sein, um zu kommentieren. Ein neues Benutzerkonto erhalten Sie von uns, bitte dazu eine Email mit gewünschtem Username an redaktion(at)newfilmkritik.de.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort