The Lexikon of Love
„Moulin Rouge“ von Baz Luhrman
Von Michael Girke
K wie Künstlichkeit: Eine Vorhangpracht öffnet sich, um das bekannte Zeichen der 20th Century Fox preiszugeben, die Kamera fliegt durch ein altes Paris und kommt in der Stube eines armen Poeten an. Ab der ersten Sekunde fegt „Moulin Rouge“ jede Illusion von Realismus aus dem Kino. Und bietet statt Tänzern ein Heer von Tänzern, statt Kulissen ein Kulissenmeer, statt Referenzen ein Referenzengewitter auf. Wenn Kitsch, dann bitte verschwenderisch. Kitsch ist immer einen Schritt von Lächerlichkeit entfernt. Wenn es nicht hinhaut, wirkt Film wie eine Überdosis Eierlikör. Geht es gut, springt für den Zuschauer eine der drei herzerwärmenden Emotionen heraus: Feeling Whoopi.
S wie Singen: Einer der schlimmsten Momente in TV und Kino: Emotionen, die keiner hat, vorgetragen in Form abgestandener Tanzeinlagen. Danach fühlen Hirn und Herz sich an wie Eintopf aussieht. Altern hat nur Nachteile und einen Vorteil: Reife Menschen können unterscheiden zwischen miesen und guten Tanzfilmen. Wenn Fred Astaire singt und stept, werden Welt und Liebe federleicht, wenn Bing Crosby oder Marika Röck raspeln und hüpfen, verlieren Betrachter ihre Sexualität. Das Baz Luhrman ein Guter ist, erkennt man schon daran, das er die Nichtsänger Nicole Kidman und Ewan McGregor an all die großen Songs lässt. Das ist so bezaubernd wie Punk bezaubernd war. Dagegen ist der professionelle Pomp heutiger Musicals (Cats, Phantom der Oper) so interessant anzuschauen wie der Reifeprozess linksdrehender Joghurtkulturen.
H wie Handlung: Ein armer Poet im Paris von 1900 erträumt sich eine Liebe mit einer Hure. Die Liebe erlöst mal wieder von Armut, Prostitution und Showgeschäft, um dann mal wieder tödliche Folgen für weibliche Teilnehmer zu haben. Ein, ähem, übersichtlicher Plot. Raum für Luhrman wirklich alle bekannten und unbekannten Liebes-, Kunst- und Modernemythen zu verarbeiten. So könnte man „Moulin Rouge“ beschreiben. Ergiebiger wäre ein Versuch all die Schnitteskapaden, Kameramorphings, Effekteballette und Farbdramaturgien in Worte zu fassen. Dazu nehmen wir einige Zeilen aus dem Blumfeld-Song „Walkie Talkie“: „Die Häuser kriegen leuchtende Augen/ Rot gibt den Weg frei und verschwindet/ selbst Gelb gerät in einen Taumel/ vergießt sich Blau und möchte Rot sein/ hüllt sich in Weiß ein und erblindet.“ Verrühren Sie Ihre zu diesen Zeilen entwickelten Phantasien mit einem gerüttelt Maß an hysterischem Willen zu Vergnügen, Verspieltheit und Rausch, atemlosen Kunstfanatismus und einer Computeranimation mit Schwindel- und Kreischfaktor 12. Jetzt ist ihre Vorstellungskraft nur noch einige Meter entfernt von einer Sekunde dieses Films.
D wie Dekors: „Es gibt das Paris der Paramount, das Paris von MGM und das Paris in Frankreich. Unter diesen dreien ist das Paris von Paramount das pariserischste.“ So sah es Ernst Lubitsch. „Moulin Rouge“ beerbt mit Vincente Minnelli den Könner unter den Musical-Regisseuren. Und somit all jene grandiosen Hollywooddekors, die das Image von Paris massenwirksamer geprägt haben als Paris selbst es vermochte. Und so lässt „Moulin Rouge“ „Die Welt der Amélie“ aussehen wie einen Flohmarkt für die trübtassigen Parisklischees niedlichkeitssüchtiger Schwachköpfe.
P wie Postmoderne: Es gehen immer noch Leute auf geistige Barrikaden, wenn Kunstwerke die Quellen ihrer Inspiration, ihre Geklautheit offen ausstellen. Das wird als Symptom der zu Ernst und Originalität unfähigen Postmoderne diagnostiziert. Solche Diagnosen lesen sich wie Einsatzbefehle, als solle Kunst gefälligst strammstehen vor einer Aufgabe, die ihr zugewiesen wird. An einer zentralen „Moulin Rouge-„Stelle zitiert McGregor all die Liebesmanifeste der Popmusik („All you need is love“, „Love lifts us up where we belong“ etc.), Kidman macht diese lächerlich. Wer sich und andere je genau beobachtet hat, weiß, was man als Liebe denkt, ist nichts als Songzeile, Filmbild, Angelesenes, Klischee. Wer einen Film wie „Moulin Rouge“ bloß postmodern nennt, ist nicht nur blind für den auch in kitschigstem Kitsch und zitiertester Zitatkunst möglichen Realismus, mehr noch, sein Ernst und seine Originalität entsprechen exakt der Oberflächlichkeit und unreflektierten Reproduktion von Bekanntem die er bei Filmen verurteilt.
T wie Tradition: Ist nicht ein magischer Kindheitsmoment das Öffnen einer Wundertüte? „Moulin Rouge“ ist eine Wundertüte für alle, eine, in der das ganze 20. Entertainment-Jahrhundert Platz hat. Famos wie David Bowies „Heroes“, TRex „Children of the Revolution“, Nirvanas „Smells like Teen Spirit“ und Techno gemixt werden zu einem Plädoyer für Bühnenmagie, Pop und Verschwendung, allem, was das Leben im 20. Jahrhundert erträglich gemacht hat. „Moulin Rouge“ verhält sich zum verordneten Ernst der Gegenwart wie diese tänzerisch-doppeldeutigen Zeilen von Gottfried Benn sich zum verordneten Ernst der 50er verhielten: „Immer nur diese pädagogischen Sentenzen/ eigentlich ist alles im männlichen Sitzen produziert/ was das Abendland sein Höheres nennt – ich aber bin wie gesagt für Seitensprünge.“