Dienstag, 26.02.2002

Offenes Geheimnis

Zu den Filmen von Maurice Pialat
von Bert Rebhandl

Blue transcends the solemn geography of human limits
(Derek Jarman)

1. Warten
Als Pialats Film Le garcu in Frankreich der Öffentlichkeit präsentiert wurde, brachten die Cahiers du Cinéma zu einem Interview ein Photo, das den Regisseur und seinen Hauptdarsteller Gérard Depardieu auf einer Stiege sitzend zeigt, den Schauspieler gedankenverloren ins Leere starrend, während eine Hand am Revers der Jacke herumnestelt. Zu seinen Füßen sitzt Pialat, er blickt mit verschlossener Miene ebenso eher nach innen als auf einen Gegenstand. Es ist eine Haltung, die von Erschöpfung zeugt, mehr noch von zweifelndem Innehalten, und Regisseur und Schauspieler sind einander fremd, vereint nur in ihrem Blick auf ein imaginäres Sujet, von dem wir nichts wissen, das wir allenfalls ahnen können: Es ist vielleicht der Film, wie sie ihn sich vorstellen.
„The readyness is all“, heißt es in Hamlet, und wie sehr gilt dieser Satz erst für Pialat, der beim Filmemachen nicht von Improvisation sprechen will, sondern von „Spontaneität“, die oft das Wichtigste in einem Moment zu fassen scheint, da es gerade im Begriff ist, sich wieder zu verbergen. Die Liebesszenen mit Sandrine Bonnaire in A nos amours beginnen meist gerade in dem Moment, da die Lust ausklingt, die Erschöpfung aber noch anhält.
Kein anderer Regisseur in Frankreich macht die Mühsal dessen so sichtbar, was Foucault einmal „parrhésia“ genannt hat, „Freimut“. Bei Pialat ist sie eine Errungenschaft des erzählenden Kinos überhaupt, abgetrotzt dem Widerstand der Schauspieler gegen ihre Rollen. (Nicht Regieanweisungen seien wichtig, sagt Pialat, sondern Sympathie oder Antipathie.) Freimut verbirgt sich fast in einer Montage der Ellipsen. Psychologische Zeit, die immer Kontinuitäten konstruiert, löst sich auf in privilegierte Augenblicke der Wahrheit – und häufiger in solche des Ennui.
Die Erzählung der Stiefeltern von ihrer späten Liebe in L’enfance nue, die dem Adoptivsohn Francois erstmals Vertrauen einflößt (was Pialat damals noch mit einer Großaufnahme des Jungen bedachte, einem Mittel, das er heute kaum mehr so deutlich positiv konnotiert einsetzen würde); oder der Augenblick, da den Eltern in Passe ton bac d’abord ihre Schulabschlußprüfung einfällt (die sie mit einer Arbeit über Colette überraschend gut bestanden haben) und darüber ihre Liebe zueinander. Das Warten auf Augenblicke wie diesen ist die Arbeit des Kinos von Pialat.

2. Genealogie
Zwei Seiten weiter in Cahiers du Cinéma findet sich ein zweites dieser rätselhaft verdichteten Photos, die zu Le garcu wie ein Metatext wirken. Im Vordergrund auf einem Sofa spielt Pialat herzlich mit dem kleinen Antoine, seinem Sohn, der vielleicht vier Jahre alt ist. Antoine ist einer der Hauptdarsteller in Le garcu. Im Hintergrund sitzt Depardieu, im Film der Vater des Kleinen, auf einem Sessel, die Augen geschlossen, mit der rechten Hand streicht er versonnen über das Kinn. Es ist ein kontemplativer Moment, in dem drei Generationen zusammenkommen, und die Genealogie ist eine unreine, ausgespannt zwischen der Wirklichkeit des Films und der Wirklichkeit, die das Photo dokumentiert: Der Vater und der Sohn erschaffen sich in Le garcu Gérard Depardieu als einen Ersatzvater, wie um die unmittelbare Abfolge der Generationen aufzubrechen und ihrer Konflikthaftigkeit auszuweichen.
In A nos amours spielt Pialat selbst einen Vater, und Sandrine Bonnaire die Tochter. Während eines in auffälligen Großaufnahmen gefilmten Gesprächs zwischen den beiden könnte man einen Moment lang auch meinen, er muß die Familie verlassen, weil er seiner Tochter zu nahe ist. In Le garcu bricht der Vater einmal mit Macht in das Leben des kleinen Sohns ein, als Depardieu mit einem lächerlich großen Spielzeug mitten in der Nacht in die Wohnung poltert, aus der er ausgezogen ist. Umgekehrt begreift er am Sterbebett seines Vaters seine eigene, vergessene Herkunft.
Pialat beobachtet häufig jugendliche Helden vor der Generationenablöse, bei ziellosem und nichtsnutzigem Zeitvertreib. Dieses Verhalten wirkt, als gelte es für die Protagonisten, Zeit zu überbrücken, bis sich die Gesellschaft ihnen nicht mehr versagt, sie nicht mehr als Versager zurückweist. Zugleich scheinen sie zu ahnen, was ihnen die Väter und die Institutionen bringen werden: Unterwerfung und Disziplin. Pialat hat als Filmemacher übrigens keine Väter und keine Söhne. Allenfalls eine Tochter, die Schauspielerin Sandrine Bonnaire, die er für A nos amours entdeckt hat, und die mittlerweile den Weg der Disziplin sehr weit gegangen ist. Aber fügen sich die Filme Pialats seiner väterlichen Disziplin?

3.
Macht
Viele seiner Filme handeln von den Institutionen, durch die die Gesellschaft ihre Macht über die Individuen ausübt: das Sozialamt (L’enfance nue), die Schule (Passe ton bac d’abord), die Arbeit (Loulou), die Polizei (Police), die Kirche (Sous le soleil de Satan), der Kunstmarkt und die Medizin (Van Gogh), und in all diesen Filmen immer wieder die Ehe/Familie.
Das Dilemma ist für die Protagonisten kaum lösbar: Wenn man erwachsen werden will, kann man sich der Bewegung in diese Institutionen hinein nicht entziehen, es sei denn um den Preis der Delinquenz. Umgekehrt deformiert die Institution ihre Träger, und es geht das verloren, wonach die Filme von Pialat suchen – Spontaneität, oder eben: Freimut. Es scheint, als wollte Pialat verschiedene Optionen in diesem Konflikt an dem Schauspieler Gérard Depardieu ausprobieren. Der inhaltsleere Vitalismus des Kleinkriminellen Loulou und der Professionalismus in Police verhalten sich zu einander wie zwei Aspekte einer Persönlichkeit, die auch in der Überwindung dieser Spaltung nicht „zu sich“ finden würde. Der priesterliche Gehorsam als radikale Unterwerfung unter ein Prinzip stellt einen paradoxen Ausweg aus dieser hoffnungslosen Freiheit dar. Die möglichen Gegenentwürfe verbindet Pialat häufig mit klassenspezifischen Zeichen: kleinbürgerliche, eher noch proletarische Milieus lassen bei ihren Festen (Hochzeiten!) erahnen, was vielleicht möglich wäre, trotz Fron und Staublunge, trotz Arbeitslosigkeit und unwirtlicher Behausungen.

4.
Psychologie
Wenn die Genealogie unrein wird, wächst der Raum der Freiheit. Zweimal reagieren die Stiefeltern in L’enfance nue ausdrücklich nicht „wie Gendarmen“ (so die Formulierung der Stiefmutter), zweimal unterbleiben Sanktionen, die man hätte erwarten können. Es ist dies nicht die geringfügigste Unterbrechung eines Systems von Ursache und Wirkung, von Überwachen und Strafen. Kein Naturalismus setzt sich durch, kein Reflex wird ausgelöst, sondern eine unvermutete Geste ermöglicht einen Ausweg hin zu so etwas wie einem Humanismus, wie Pialat ihn meinen könnte, nämlich einer Natürlichkeit, einer Unverbildetheit, Unbehauenheit der Person, einer Kultur ohne jene spezifisch bürgerliche Kultiviertheit, die bereits wieder ein Korsett bedeutet und für die der kunstsinnige Dr. Gachet in Van Gogh die markanteste Verkörperung ist. Pialat ist kein Verfechter der Psychologie. Aber er läßt, anders als Godard oder Bresson, die Arbeit der erzählerischen Dekonstruktion des Identitätskinos gleichsam sich selbst erledigen. Geläufige Verkettungen funktionieren bei ihm nicht einmal mehr als deren Umkehrungen oder Entstellungen. Eher könnte man meinen, er vertraue die Filme seinen Darstellern an, deren Physis, nicht Psychologie, sie prägt.

5.
Ankommen
Am Ende von Van Gogh spricht die junge Marguerite dem toten Maler einen Satz nach. „Er war mein Freund.“ Jetzt, da er abwesend ist, muß er dieses emphatische Bekenntnis zulassen, das zugleich eine Aneignung ist. Zuvor hatte er es durch sein Auftreten abgewehrt, widersprüchlich, nicht ausrechenbar, zurückgezogen hinter seine immerwährend in einer Art Anspannung halb zugekniffenen Augenlider. Es ist nicht ganz ohne Interesse, daß früh in diesem Film eine Untersuchung an Van Gogh vorgenommen wird. Dr. Gachet, Bürger, Arzt, Kunstsammler, in den Augen seiner Tochter ein „Konformist“, horcht in den Patienten hinein; er kann nicht viel mit ihm anfangen, weil er keine Instrumente dabei hat. Dann überprüft er noch den Reflex, er funktioniert – eine leere Funktion. Der Körper gibt sein Geheimnis, die Seele, nicht preis. Aber im Kopf des Malers sitzt der Schmerz.
Es ist die Tragik des Vincent van Gogh, wie Jacques Dutronc in spielt, daß ihm der Körper ein Gefängnis ist, aus dem er nicht freikommt, außer im Tod und in seiner Kunst. Zugleich aber erzählt der Film eine Geschichte von einem anderen toten Körper gleich zweimal, es ist die Leiche eine gefallenen Revolutionärs im Paris des Jahres 1870. Dem klinischen Blick des Dr. Gachet bricht in diesem Moment nur ein medizinisches Weltbild zusammen, für die Mutter des Toten hingegen eine Welt. Pialats Kino arbeitet dagegen an, daß der Körper erst im Tod erkannt wird. Er mutet dem Körper eine Wahrheitsarbeit zu und verschweigt nicht, daß er viel häufiger zum Ort der Züchtigung und des entfremdeten Begehrens wird. Er versucht, die Schauspieler, ob Laien oder Stars, aus der Erstarrung zu holen. Was im Leben möglich ist und was nicht, das ist bei Pialat ein offenes Geheimnis, offen wie eine Wunde und das Meer.
(1996)

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