Marseille 1. – 10. März
Ich war sehr wunschlos gestimmt (Haschisch in Marseille)
Walter Benjamin, Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen
Freitag. Marseille, Provence. Am Flughafen kann man sich entscheiden, wo man hin will: Aix, Marseille, ans Meer oder in die Berge. Die Berge kann man sehen, hinter der Fläche des Flugfeldes, hell und schroff. Die Autobahn führt durch Häuserschluchten mitten in die Stadt. Die Häuser haben die gleiche Farbe wie die Berge.
Cité Le Corbusier. In Marseille gibt es unzählige Häuser wie dieses, mit mehr oder weniger Leidenschaft berechnete Zellanhäufungen, und in jeder Zelle Leben. Das Hotel ist im dritten Stock, aber höher, als man denkt, weil darunter Maisonettewohnungen liegen und das Haus auf Betonpfeilern ruht, fünf, sechs Meter hohe, sich nach oben verbreiternde Lastenträger, auf die sich all das Leben bedenkenlos stützt. Dazwischen parken Motorräder. Von der Rezeption aus sieht man das Meer, von meinem Zimmer aus hinter zahllosen anderen Hochhäusern die Berge.
Samstag. Ständiger, kaum spürbarer Regen, stundenlang gelaufen, Richtung Centre Ville, Cours Julien, Vieux Port, Panierviertel, Café des Arts gegessen, keine Karte und ein einziges Gericht, an der Küste entlang zurückgefahren, lange am Strand unter einem Dach gesessen, da war der Regen schon stärker, lange auf den Bus zurück ins Hotel gewartet.
Zwei Stunden geschlafen. Am Abend im Fernsehen César- Verleihung, eine Jugend von Modiano zu Ende gelesen.
Sonntag. Sonne. Zum Meer gelaufen, an einer Mauer entlang, die sich unvermutet zu einem Park öffnete, Borély. Familien mit Rollerblades an den Füßen, Kajakfahrer, Jogger, alle an der Sonne. Den Bus bis Madrague, auf den Felsen gelegen, während die Sonne höher stieg, weiter an der Küste entlang gelaufen, dann mit dem Bus nach Callelongue. Die anderen waren mit Autos unterwegs, kurz vor dem Ziel kein Parkplatz mehr. Familien mit kleinen Kindern, Paare, Licht, Wärme, Zeit.
Erst um fünf wieder am Vieux Port, auf den Bus gewartet, fotografiert, während die Dämmerung hereinbrach nach St.Henri gefahren, am neuen Hafen entlang, Industrie, Autobahnen. Zu früh ausgestiegen, lange einen Berg hinauf gelaufen, an öden Flächen, Zäunen und verschlossenen Toren entlang, bis zu einem Dorf, St. Henri, alt und wie verlassen, weiter bis zum Place Raphael, dort hell erleuchtet das Kino, aber es war geschlossen, im Innern saßen zwei Mädchen, die eine telefonierte mit ihrem Handy und wedelte mit der Hand, als ich an der Tür rüttelte. Adieu Philippine lief nicht. Inzwischen war es dunkel. Den Bus mitten auf der Straße angehalten, zur Metro Bougainville gefahren, in der Metro nur Männer in Trainingsanzügen und Turnschuhen, die über die Schranke sprangen und auf die Gleise spuckten. Erst bei St. Charles wurde es voller. Kurz vor acht im Hotel. Ich hab die Balkontür aufgelassen, und jetzt ist es kalt.
Wer wohnt eigentlich neben mir?
Montag. Wache auf von der Sonne, die zuverlässlich jede Zelle trifft. Schritte nebenan, es muß ein Mann sein, und er trägt keine Turnschuhe. Als ich mein Frühstück hole, treffe ich ihn auf den anderthalb Quadratmetern, aus denen unser gemeinsamer Vorraum besteht, Asien, mein Alter, denke ich, zu mehr reicht der Blick nicht, es ist zu dunkel und zu eng.
Zellen gibt es für Mönche, Gefangene, Fremde, Arme, Überzeugte.
Abend. Wollte mit dem Bus bis zur Canebière fahren, bin aber wieder auf halber Strecke ausgestiegen, weil Markt war, komme nicht vorbei an diesem Markt, Turnschuhe, Jeans, Seife, Haarspangen, Spielzeug, Obst, Fisch, Brot, Kosmetik, alle verkaufen sie und kaufen, bauen die Tische morgens auf und mittags wieder ab, jeden Tag das gleiche. Nicht, dass ich etwas kaufen möchte, aber die Tatsache, dass ich etwas kaufen könnte, so wie alle anderen, macht mich weniger fremd. Am Place Castellane rechts abgebogen, Boulevard Baille, dann durch Lodi, sehr freundlich, Mariannenplatz auf französisch, bis zum Bahnhof St.Charles. Kleiner Bahnhof, merkwürdig sauber und bescheiden, außen wird gebaut. Hinter der Baustelle die armseligsten, kaputtesten Häuser, abgetrennt durch Maschendraht, dahinter führt eine enge Straße weiter in die Tiefe und wieder hinauf, die im hellen Gegenlicht wie erstarrt aussieht und lange sehe ich hin, bis ich die Bewegungen der Menschen und Autos wahrnehme. Weiter zur Porte d’Aix, daneben ein schräger Platz mit braunen Bänken, an denen Zettel kleben, frisch gestrichen. Auf den Bänken sitzen Araber, die dort sicher immer sitzen, und jetzt hat ihnen jemand die Bänke gestrichen. Will eine Bar fotografieren, nur Männer sitzen davor, neben schweren Balken, die die Hauswand abstützen, die Balken eins mit dem alten Haus, wie die Platane davor. Stehe rum, falle auf, gehe weiter. Rue d’Aix, Cours Belsunce, Canebière bis in den siebten Bezirk, keine Araber mehr, jetzt sind es die Obdachlosen, die auffallen zwischen den feinen Läden. In der schönsten Buchhandlung von Marseille (gemäß Stadtbauwelt) zahlreiche Bildbände über Marseille, Editions Lafitte, und während ich sie mir ansehe, wird mir zum ersten mal die Tasche schwer mit dem Photoapparat und der Videokamera, fühle mich müde, weil ich das, was ich auf den Bildern sehe, wiedererkenne und dennoch überhaupt nicht erkenne, elend fremd fühlt man sich angesichts dieser Bildbände, als hätten all die anderen etwas gefunden, was man selbst nie finden wird, dabei habe ich Augen, aber es sind eben meine Augen.
Mit dem Bus nach Hause gefahren, rauche die letzten American Spirit, im Fernsehen die letzte halbe Stunde von Missing, Charles wurde exekutiert, und Jack Lemmon fragt, in was für einer Welt wir leben, aber da hat man die Frage schon zu lange erwartet, und daß man keine Antwort weiß, ist längst egal geworden.
Dienstag. Um zehn, als ich das Hotel verlassen habe, heftiger, aber warmer Wind, kurz darauf Regen, der nicht mehr aufhören wollte. Dörfer, St. Loup, Valentin, Gewerbegebiet, St. Rose, dazwischen Hochhäuser, Residenzen nennen sie sich und in den Wintergärten hängt die Wäsche zum Trocknen, mit der Metro von St.Rose zurück in die Stadt, dabei ist das alles Stadt, die Metro fährt oben, Blick über die Dächer verwahrloster Villen, noch mehr Hochhäuser, überall rechteckige Fassaden mit rechteckigen Öffnungen zum rausgucken, aber nicht zum reingucken. Ausgestiegen, über den Boulevard de la Liberation zurück gelaufen Richtung Vieux Port, Großstadtgewühl, Geschäfte, die es schon ewig zu geben scheint, auf der Canebière dann nur noch Verkommenheit, entnervtes, hoffnungsloses Chaos. Mit dem Bus im Verkehr steckengeblieben, dann wurde es dunkel.
Mittwoch. Frage, ob ich ein Doppelzimmer haben kann, die Doppelzimmer liegen auf der anderen Seite des Ganges und öffnen sich zum Meer. Sie können es mir erst in einer halben Stunde sagen. Ich würde gern mehr Zeit auf dem Zimmer verbringen, und es wäre doch schön, das Meer zu sehen, es zumindest zu erahnen, denn heute sieht man es nicht, kein Horizont mehr. Bräuchte ein paar Stimmen, oder Begegnungen, Situationen, nicht nur Straßen, Häuser, Gesichter. Gestern Abend Imre Kertesz gelesen, der dann unerwartet in Avignon und Cannes war, liebliche Kitschwelt, was hätte er über Marseille geschrieben? Idiotisch, dass mir heute, was ich sehe, wirklicher erscheint, als die blauweiße Pracht unter der Sonne.
Zimmer gewechselt. Jetzt ist es groß, mit Klo und Küche, die Einbauten sind alle original, die Möbel nicht, schließlich ist die Zeit nicht stehen geblieben. Das andere Zimmer kommt mir jetzt noch kleiner vor, aber diese 37Euro50 waren überhaupt erst Rechtfertigung für diese Reise, schließlich habe ich das, was ich kein Geld nenne, was nach vier Tagen doch relativ geworden ist.
Im Supermarkt in la Valentine lässt mich ein älterer Mann vor, weil ich nur Mineralwasser und Schokolade in der Hand habe, er fragt, ob ich Photos mache, weil er die Videokamera sieht, ich sage ja, und sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass er mit einer ausführlicheren Antwort gerechnet hat. Er bedauert, dass die Sonne nicht scheint, und ich sage, C’est pas grave, das habe ich hier schon in den unterschiedlichsten Situationen gesagt, und er zeigt mir, was er alles gekauft hat, verschiedene Sorten Fleisch, unter anderem Hackfleisch. Eigentlich würde ich sagen: Sie kochen, aber mir fällt nur so was ein wie faire la cuisine, und ich weiß nicht, ob es richtig ist, also lächle ich, dann kann ich bezahlen, verabschiede mich und wünsche einen schönen Tag. Wenig später, an einer Bushaltestelle, wo ich vielleicht zwanzig Minuten warte, ohne mir ganz sicher zu sein, ob der betreffende Bus, der mich nach La Rose zur Metro bringen soll, überhaupt kommt, aber es ist immer auch ein wenig egal, weil es ja eine ganz willkürliche Entscheidung ist, jetzt zum Beispiel nach La Rose fahren zu wollen, sehe ich den Bus dann plötzlich, und springe auf, meiner winkenden Hand hinterher, der Bus hält also und der Busfahrer fragt, ob ich aufgewacht sei, vielleicht kann man es aufwachen nennen, ich hatte mich fast schon vergessen auf dieser Bank unter dem Dach der Bushaltestelle im Nieselregen, am Rande eines Centre Commercial, das auf ein anderes Centre Commercial gefolgt war, und auf das noch weitere folgten auf dem Weg nach La Rose. Dazwischen umzäuntes Brachland, verlassene Baustellen, Autobahnzubringer, kleine, schmucklose Villen mit schmalen Gärten drum herum und Wohnblöcke, die meisten aus den siebziger Jahren, und immer wieder eine Schule, Ecole Maternelle, oder ein Lycee, und neben dem Eingang immer das gleiche weiße Schild, auf dem in verwaschener roter und blauer Schreibschrift liberté, egalité, fraternité…., Frankreich. Hinter den Mauern die Stimmen der Kinder.
Noch immer ist es grau, und immer wenn es grau ist, ist nichts unvorstellbarer als Sonnenschein, auf dem Weg, der zum Eingang der Unité führt ein Mann mit Schirm und Hund, hier haben sie alle Schirme und die meisten haben Hunde, auch vor den Hotelzimmertüren warten Hunde, meistens Mischlinge, und sieht man in die Höfe der Dörfer sind da Hunde, manchmal auch Katzen, aber immer Hunde. Jürgen sagt, das weiß man, aber mir fällt es auf, wie mir alles mögliche auffällt, weil ich allein bin und irgendwie mit dem Denken von vorn anfange auf diesen labyrinthartigen Wegen durch die Stadt. In der katholischen Kirche von St.Loup, die neben der Bar liegt, in der es keine Milch für meinen Grand Crème mehr gab, c’est pas grave, saß ein Junge, vielleicht sechzehn, er trug einen gestreiften Pullover und hatte den Kopf mit den kurzgeschorenen, dunklen Haaren in beide Hände gelegt. Später ist er lautlos gegangen, während ich fotografiert habe, den Altar, Maria mit dem Kinde, die Nischen in gelbem Licht, und das hellgraue Tageslicht, das sacht von oben fiel.
Und der Film? Vorgestern rief Flori an, als ich gerade vor einem Imbiß am Hafen saß, er ist krank und fragte ein wenig matt, ob die Stadt schön sei. Ob wir hier drehen, fragte er nicht.
Den Stecker vom Powerbook in die Steckdose gesteckt, Funken. Regardez s’il vous plait sage ich zu dem freundlichen Herrn, der in Jeans und Schürze Frühstück bereitet und an der Rezeption steht, er hat mir eine neue Dose gebracht, die keine Funken schlägt. Hab endlich die Heizung entdeckt: In der Stufe, die zum Balkon führt. Hier gibt es auch ein rätselhaften Regler in der Wand, ein kleiner brauner Propeller in einer kreisrunden Öffnung, der warme Luft verströmt. Jedenfalls friere ich nicht mehr. Glücklich, will diesen herrlichen Raum gar nicht mehr verlassen.
Dann doch gegangen, weil ich ins Kino wollte, Place Castellane, es war ein sehr schönes, nicht großes Kino, außer Mischka laufen der Film von Mathieu Almaric und Mulholland Drive, weder Süßigkeiten noch Getränke und mit meinem Sandwich, was die Hauptmahlzeit des Tages sein sollte, werde ich wieder auf die Straße verwiesen. Die Bilder von Mischka sahen grausam aus, ich bin trotzdem reingegangen, weil so viele Leute da waren, junge, alte, und das am hellichten Nachmittag, war aber nach zehn Minuten wieder draußen, schreckliche Kamera, unerträgliches Licht, nervtötendes Geschrei. Also wieder die Straßen entlang, Rue de Rome und Rue Paradis, die ich schon kenne, wie anders bin ich am ersten Tag die Rue de Rome entlang gegangen, jetzt war es ein gleichmütiger, leichter Spaziergang, schließlich bergauf Richtung Notre Dame de la Garde, eigentlich wegen der Kirche, deren goldene Maria Mutter Gottes schon von weitem strahlt, und nicht wegen des Blickes auf Marseille, mit dem ich hätte rechnen müssen, der mich aber für einen Moment ganz fassungslos machte, so ausgebreitet lag die Stadt am Meer, ganz Schönheit. Im Innern der Kirche war hässlicher Prunk und Mief.
Ein Viertelstunde steil bergab und man ist wieder am Hafen. Zeitung gekauft, Photos abgeholt, zurück ins Hotel, in mein Zimmer, das mehr eine Wohnung ist, in der man sein kann, keine Zelle mehr, auch keine Kälte, wie gesagt. Würde mich gerne ein wenig unterhalten und hab für einen Moment überlegt, ob ich neben der Rezeption einen Kaffee trinke, wo ein paar Leute saßen, dann aber doch lieber Imre Kertesz , ich – ein anderer, zu Ende gelesen, den ich kaum verstehe, er schreibt wohl nicht für mich, aber ich kann ihn trotzdem lesen.
Donnerstag. Sonne. Um sieben aufgewacht wie jeden Tag, heute zum ersten mal Frühstücksgedecke auf den Tischen und ein runder Tisch voll mit lauten Leuten, drei Frauen und zwei Männer, Ausflügler aus der Provinz rate ich, der dickliche Herr im gelben Hemd am Nebentisch sieht zu mir und verdreht die Augen, sie stören ihn, mich stören sie nicht und die ganze Zeit sehe ich zu, wie sie sich echauffieren, sich gegenseitig ins Wort fallen im zwanghaften Bedürfnis, sich kund zu tun und wichtig zu nehmen, und ich frage mich, was sie zum Schweigen bringen könnte, welches Ausmaß die Katastrophe haben müsste, die sie zwingen würde, inne zu halten, natürlich nur vorübergehend, bis sie wieder loslegen, als wäre jemand mit der Peitsche hinter ihnen her. An der Rezeption eine alte Dame, sehr fein und aufrecht, der Bademantel und die Pantoffeln können ihrer Würde nichts anhaben. Gehe auf mein Zimmer, sehe sie am Ende des Ganges mit kleinen Schritten nach Hause gehen.
Die erste Szene gelesen, Sophie, Hanna und Ivan mittags in Hannas Wohnung, wo Sophies Blick, aus einer Verlegenheit heraus und aus Langeweile, denn diese ihr allzu bekannte Verlegenheit gegenüber Ivan langweilt sie inzwischen nicht weniger, als sie sie quält, auf die Zeitungsannonce fällt, tausche Wohnung, Marseille gegen Berlin. Hab mir wahrscheinlich zu viel vorgenommen für die Szene, Sophies unerwiderte Liebe zu Ivan, das Verhältnis Ivan-Hanna, die sich verspotten, weil sie nicht loskommen voneinander, dabei will ich nichts erklären, nur berichten, ‚das Geschehen trockenlegen, in dem man alle psychologische Begründung … abfließen lässt’ , wie Benjamin schreibt, also sollen sie Sätze sagen wie unwillkürliche Bewegungen, Sätze, von denen sie selbst nichts wissen und deren Klang sie, sollten sie ihn überhaupt wahrnehmen, erstaunen würde, wie aber soll ich das schreiben, ohne selbst davon zu wissen, ich müsste mich schreiben lassen.
Statt dessen weiter gelesen, die Straßen aus Myslowitz-Braunschweig-Marseille auf dem Stadtplan gesucht, Die Fahrt der Mascotte, Das Taschentuch, und weil ich auf dem Bett lag, versuchsweise die Augen geschlossen, was sofort zum Schlaf führte. Geträumt: Ich war in einem geräumigen, schönen Geschäft voller Kleider, und ich wollte Agnes ein Kleid und ein Paar Schuhe kaufen. Die Kleider hingen ganz durcheinander und übereinander an den Ständern und Agnes saß auf einer Art Barhocker neben einem dieser Ständer, ein Kleid, weit und geblümt, hatte sie sich schon anziehen lassen, und jetzt versuchte ich sie dazu zu bewegen, Schuhe anzuprobieren, hellblaue Mädchenschuhe aus weichem Leder mit einem Lochmuster, ich zeigte sie Jürgen, der da war, etwas entfernt von mir stimmte er mir zu, ja, er fand die Schuhe auch schön, was mich bestätigte in meinem Ansinnen, also fuhr ich fort, Agnes zu bitten, unter den verständnislosen Augen einer vorbeieilenden Verkäuferin. Da hatte sich Agnes in den Kleidern versteckt, die neben ihr hingen, wie hinter einem Vorhang, und ich sollte sie suchen, aber sie war nicht zu finden. Statt dessen war da eine getigerte, schöne Katze mit dickem Fell, und ich rief die Katze: Agnes, Agnes, aber sie sprang davon, durch das Geschäft und wollte sich nicht fangen lassen. Immer wieder rief ich den Namen, und plötzlich waren da viele Katzen, alle getigert, mit den unterschiedlichsten Auffälligkeiten, und ich wusste nicht mehr, welche davon Agnes war, schon verzweifelt stellte ich fest, daß ich mir die Besonderheiten ihres Fells nicht gemerkt hatte, daß ich es nicht beschreiben konnte, obwohl ich es doch so gut zu kennen glaubte, aber ich fand sie nicht heraus. Ich rief weiter: Agnes, Agnes, und auf einmal merkte ich mit größter Verwunderung, daß ich einer Katze den Namen Agnes gegeben hatte, den Namen meiner Tochter. Da war der Traum zu Ende.
Ich könnte noch länger schlafen an diesem schönen Ort, wenn ich mich nicht schämen würde dafür. Mit einem Blechlöffel aus der Originaleinbauküche von Corbusier Maronenmus aus dem Petit Casino gegessen.
Erneut vergeblicher Versuch, ins Kino zu gehen, der Film von Almaric fing so spät an, daß ich meine Fotos nicht mehr hätte abholen können, also langsam die Rue Paradis entlang geschlendert, die, und Schritt für Schritt wurde es mir klarer, ihrem Namen in Bezug auf meine in Marseille bisher erfolgreiche verdrängte Schwachstelle alle Ehre erweist: Prada, Gucci, Miu Miu, Jil Sander, Dries von Noten, Ann Demeulemester, im ersten Laden war die Verkäuferin unerträglich, im nächsten, und da waren sie dann ohne Ausnahme versammelt, samt einem schwarzen Ständer für fünfzig Prozent, aber wie immer alles zu groß oder mit goldenen Schnallen, rechnete mir die Verkäuferin bei einer Hose von Miu Miu, die perfekt war, den Europreis in Franc um, keine Ahnung, mit welcher Nationalität sie mich bedachte, oder ob ihr das Prinzip der Währungseinheit völlig fremd war. Als ich immer noch zögerte, machte sie mir das Angebot, in Raten zu zahlen. Ich fragte, um wieviel Uhr sie schließen, das ist immer mein Abschiedssatz, um den netten Verkäuferinnen und mir nicht die letzte Hoffnung zu nehmen, und dann bin ich ohne Hose gegangen, beziehungsweise in meinen alten APC Kordhosen, es kommen auch wieder andere Zeiten, denke ich mir dann zum Trost, aber eigentlich glaube ich nicht daran. Photos geholt, Zeitungen gekauft, mit der Metro zurück.
Unten im Foyer hängen Zettel mit Kleinanzeigen, hauptsächlich werden Wohnungen gesucht, mit genauer Nennung des Wohnungstyps, und auf jeden Zettel ist die Figur von Corbusier, der Mann, der Mensch, gedruckt. Im Fahrstuhl fahre ich mit sympathischen Leuten, hauptsächlich Müttern und Kindern, die ich ansprechen könnte, aber ich kann nicht einfach Leute ansprechen, dazu fehlen mir die Worte, und das hat mit meinem französisch überhaupt nichts zu tun. Dabei wüsste ich gerne, wie sie leben, was sie tun, aber vielleicht will ich es doch nicht wirklich wissen, vielleicht will ich ihnen nur sagen, daß sie mir gefallen, und daß ich mir ihr Leben vorstelle, aber wozu soll ich ihnen das sagen. Also wie immer nur Bonjour und dann Bonsoir, und dann durch die schönste Wohnungstür, rot gestrichen mit vertikalem, langgezogenem Holzgriff und von oben leuchtet die kleine Ausführung der berühmten Kommalampe, ebenfalls rot gestrichen.
Freitag. Place de Lenche erster Café, es ist noch früh, durch eine enge Straße auf eine Baustelle zu, inmitten der Baustelle die Kathedrale, Öffnung erst um zehn. Will eigentlich warten, überquere zögernd die Straße zum Hafen, entferne mich immer weiter, Avenue R. Schuman, Place de la Joliette, da hab ich schon nicht mehr vor, zurückzugehen, Boulevard de Dunkerque, wo am Straßenrand ein Polizeiwagen und zwei andere Autos stehen und heftig diskutiert wird. Fünf Polizisten, drei Männer und zwei junge Frauen, und mehrere Männer, deren Personalien aufgenommen werden. Es wird wild gestikuliert und sich angeschrieen, einer der Männer soll seinen Wagen wegfahren, er steigt ein, aber anstatt loszufahren lehnt er den ganzen Oberkörper aus dem Fenster und haut mehrfach die eine Faust in die andere Hand, dabei hört er nicht auf zu schreien. Ich gehe weiter, weil die Tür des Autos, an dem ich lehne, plötzlich aufgeht, drin telefoniert einer, der aussieht wie Harun Farocki. Blick auf die Speicher, dahinter verborgen die Schiffe auf dem Meer.
Avenue Roger Salengro, einfache, verwahrloste Häuser, gleichmäßig aufgereiht wie die Perlen einer Kette, orientalische Bars, Läden mit Schuhen und Wolldecken in Plastiksäcken, helles Sonnenlicht, in dem die Straße merkwürdig rein und gläsern wirkt, Place Bougainville, ein Araber mit seinem Kind unter Bäumen vor einer Bar, darüber hinweg führt die Autobahn, beschirmt den Platz, anstatt ihn zu zerstören, das Kind zeigt auf mich wegen der Kamera, der Mann lacht. Rue de Lyon, die lange Rue de Lyon ist der Pulvergang, den Marseille in die Landschaft grub….lese ich bei Walter Benjamin, 1930 veröffentlicht, sehe nichts, was ich mir vorgestellt habe, nicht in den kleinen Läden, nicht auf dem Platz vor der Kirche, nicht in den Frauen, auch nicht in all dem kaputten Gemäuer und der Armut, nur in den Augen der jungen Männer steht der Haß auf das alles. Mit dem Bus zurück, Metro zum alten Hafen, mir gegenüber einer, der nicht wagt, mich anzusehen, während mein Blick auf seine Hände fällt, deren Haut ganz weiß ist, wie vertrocknet, und die ganze Zeit rühren sie sich nicht. Ein zweites Mal Café des Arts, Ça va, fragt man mich und ob ich essen will, ja, und ob nicht Rotwein besser wäre als Wasser, das sie mir in einer bemalten Limonadenflasche auf den Tisch stellen. Durch das siebte Arrondissement, plötzlich Stille, träger Mittag, über den Place Saint Eugène zu einem winzigen Hafen am Ende der Rue du Vallon, Blick auf Chateau d’If, und dann vom Bus aus die ersten, die im Badeanzug am Strand liegen.
Samstag. Nach bruchstückhaften Träumen erwacht, unter anderem stand ich mit vielen anderen, all die bekannten Gesichter aus Berlin, auf einer Treppe, die steil und endlos nach oben führte, es war so hell, als ob es draußen wäre, gleichzeitig war es drinnen, denn wir wollten alle in ein Kino, am Fuß der Treppe lag eine lange Liste mit Filmen, die wir sehen wollten, da kam Christian und verbot mir, seinen Film, der anscheinend auch auf der Liste stand, zu sehen, ich hab ihn gefragt warum, aber er wiederholte nur sein Verbot, was hat das nun zu bedeuten? Werde ihn fragen.
Gearbeitet, um drei in einem völlig überfüllten Bus Richtung Canebière, bei der Prefecture mussten wir alle aussteigen, Messieurs, une demonstration, sagt der Busfahrer, der mich eine Stunde später auf der Rue Paradis, wo ich auf der Straße laufe, weil auf dem Bürgersteig kein Platz ist, fast umfährt. La Culture Tibetaine meurt stand auf den Transparenten, mit viel Schwung skandierte Parolen von vielleicht Hundert Begeisterten. Noch mal in den Buchladen der Schwestern Lafitte, um mir den Stadtplan von Marseille in Buchform zu kaufen, war ausverkauft, und ein kleines Livre animé von Anton Krings für die Kinder, gab es nicht, und damit nicht genug behauptete die Buchhändlerin, so was hätte es nie gegeben, ich würde es mit den Mimmi Büchern verwechseln, was mich sehr verärgert hat, weil ich Louis vor fünf Jahren eins davon in Paris gekauft habe, aber diese Buchhandlung hätte ich ja schon beim letzten Mal links liegen lassen sollen. Dann wirklich noch ins Kino, Le Stade de Wimbledon, Jeanne Balibar in einem herrlich karierten Mantel über anders karierten Rockzipfeln im Zug auf dem Weg nach Triest, da geht die Lok kaputt und quer durch die Landschaft läuft sie einem Engländer in Camouflagehosen und Militärkäppi hinterher, hinter Sträuchern in der Tiefe unerwartet das Meer, dann ein Bahnhof, dem sie sich über die Gleise nähern. Ganz befreit und unangestrengt die Photografie, genauso die Erzählung, sie sucht einen Schriftsteller, der nie geschrieben hat, und ganz am Ende, da muß ein Jahr vergangen sein, steht sie im leeren Stade de Wimbledon und sieht hinunter auf das grüne Rechteck, und mit ihrem Blick wird der Ort zum denkbar schönsten, denn die Suche hat ihn zum Ziel gemacht. Und nie mehr will man ihn anders sehen.
Sonntag. Ein klarer Tag, es wird warm werden. Ich muß gehen.
10.07.2007 10:13
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Christopher