„Arbeit an der Geografie des Unsichtbaren“ – Nachruf auf Frieda Grafe
von Manfred Bauschulte
Ich muß sehr weit zurückgehen, nicht ganz in meine Kindheit, aber beinahe, ungefähr in das Jahr 1973, um in der Erinnerung die erste Begegnung mit ihren Texten wachzurufen. In diesem Jahr bekam ich ein denkwürdiges Buch in die Hände, auf das ich kurz näher eingehen will: Antonin Artaud, „Heliogabal oder Der Anarchist auf dem Thron“. Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann. Nachwort Frieda Grafe. Bibliotheca Erotica et Curiosa. München 1972.
Ein – Weiß Gott merkwürdiges – Buch und dann erst das Nachwort, dessen Titel lautete: „Ein Buch ist kein Buch“. Der Erstdruck erschien in der Zeitschrift „Filmkritik“ vom Mai 1972, die Antonin Artaud, Sergej Eisenstein und John Ford gewidmet war. Geübt hatte Frieda Grafe für ihr Artaud-Nachwort in dem Artikel „Gegen die Sprache und den GEIST. Antonin Artaud und das Kino“ in der „Filmkritik“ vom März 1969.
„Damals, als der Orient in Rom einbrach, als die Barbaren über den gepflegten, demokratischen Ackerbauernstaat hinweggingen, begann in eben dem Maß, in dem Rechtstitel und -ansprüche der Männer an Bedeutung verloren, der Samen, das Sperma in Strömen zu fließen. Jeder schlief mit jedem. Was erklärt, dass es Artaud unterläuft sich in der Genealogie seines Helden zu verirren. Ihn zum Sohn seiner Großmutter zu machen“. – So kann ein Nachwort beginnen.
Ein solches Nachwort hat bis heute mein Verständnis von Lesen und Schreiben bestimmt. Über die Seiten verteilt fanden sich Zitate und Nacherzählungen, Analysen und Reflexionen, aber so versetzt, dass sie immer Platz ließen, immer neu an- und einsetzten. Ich ging damals noch zur Schule, in die letzten Klassen, die im Deutschunterricht sogenannte Interpretationen und Inhaltsanalysen erforderten und war aufs Äußerste verstört und angezogen von diesem Stil, dem Rhythmus dieses Textes, war wie geblendet von den Leerstellen. Man konnte also auch schreiben, indem man etwas weg ließ, oder aneinander klebte, oder aus dem Zusammenhang riss und dabei gleichzeitig äußerst genau und präzise bleiben im Schreiben.
So formulierte die Autorin ihre Absicht, „eine Sprache zu finden, die mit der darstellbaren Realität auch die nicht darstellbare erfasst, ohne einheitliche Struktur, aus Blöcken, Relationen und Funktionen, die in Annäherungen fortschreitet, eine Totalität nie erreicht. Wohl aber das Erreichte bis zur totalen Auflösung massakriert“.
Die Texte von Frieda Grafe haben diesen Anspruch stets durchgehalten: „Raum in die Lektüre zu legen“. Ihre Essays zu lesen ist ein reines Vergnügen. Sie setzen etwas frei und in Gang. Sie halten etwas in der Spannung zwischen Denken und Lesen und Schreiben. „Alles Schreiben ist Arbeit an einer Geografie des Unsichtbaren“, – so lautete ihre Intention.Raum in die Lektüre zu legen: das Unerwartete zu sehen, zu lesen, zu sagen. Sprünge, Risse, Einschübe. Sich niemals festzulegen, trotzdem das Wort ganz genau nehmen.
Zum Schluss noch einmal einige Sätze von Frieda Grafe, deren Wahrheit sich mir eingeprägt hat für immer: „Alle Bücher sind nur Bücher nach Büchern. Nicht individuelle Erfindung: schillernde Annäherung an ein nie erreichtes Virtuelles. Sie sind weder Ausdruck einer Wahrheit, noch stellen sie einen Inhalt dar. Ihre Überdeterminiertheit muss man sehen, um ihre Autorität nicht zu überschätzen. Das hindert sie, sich in Formen, Definitionen, Abfall zu verfestigen“.
Oder schlicht: es gilt in Übergängen zu arbeiten, zu leben, zu spielen. Es gilt, die Form der Übergänge zu wahren. Die Hoffnung ist doch die, dass dann nicht alles verloren ist und umsonst. Jedes Detail der Arbeit, jede präzise Zeile kommt einmal wieder zum Vorschein und zur Geltung und arbeitet solange unsichtbar mit und weiter…
Manfred Bauschulte, 11.7.2002