Raumvernichtung aus Humanismus
Es gibt ein Lied von Jacques Brel des Titels CES GENS LÀ, das in der flämischen Version DAT SOORT VOLK heißt. Flämisch hier deshalb, weil man darin Nebel, Wind und Regen unausgesprochen mithört. Aber das ist vielleicht nur eine privat-mythologische Assoziation. Es ist in diesem Lied die Rede von einem dumpfen Volk, das nicht spricht und mit seiner Stur- und Starrheit das Subjekt des Sängers, der sich im Gesang Gehör und Luft verschaffen möchte, erstickt, erdrückt. Aus der Erinnerung weiß ich nicht, ob sich das Lied nur auf die Küstenbewohner oder auf ganz Belgien bezieht, aber es hat etwas mit dem Land zu tun, in dem sich die Geschichten der Filme der Dardenne-Brüder zutragen – Überlebenskämpfe im schnödesten Alltag, die die Möglichkeit von Transzendenz nur als entfernte, schwache Funken zulassen, alsbald verglimmend.
In dem Versuch, die Unausweichlichkeit der attischen Tragödie in ein graues, kleinliches Heute zu retten, sie hier zu entdecken und bloßzulegen, bedienen sich die Dardennes in ihren Filmen (LA PROMESSE, ROSETTA, LE FILS) eines strengen, quasi sakralen Rituals, einer Litanei und Beschwörung der alltäglichen Handverrichtungen. Der Mensch, wo er denn überhaupt zu erkennen ist, offenbart sich in der Summe seiner Handlungen, wobei die Nähe von Hand und Handlung hier nicht zufällig erscheint. Das Gesicht als Spiegel der Seele wird eingereiht in die Legion der Verrichtungen. Einem Kino der Identifikation gegenüber, der explizit angezeigten Gefühle, mag das anti-psychologisch vorkommen, doch hat sich die Psychologie der Dardennes einzig eine materielle Basis gesucht. Sie wissen nicht mehr über das Innere ihrer Figuren als wir Zuschauer. Spekulationen sind keineswegs Tür und Tor geöffnet. Einfühlung wird so erst wieder zu einer Notwendigkeit des Schauenden.
Von Irina Hoppe stammt die Bemerkung, wer versuche, die Psychologie ganz aus seiner Filmarbeit zu verbannen, den erschlägt sie von hinten. Was natürlich erst Bedeutung erhält durch den Umstand, dass uns das Verdikt: Das ist ja pure Psychologie, meinend: Das ist psychologisch-unterstellend also suggestiv, zur äußersten Diskreditierung einer filmischen Arbeit gerann. Dazu gesellte sich die Hypothese von: Bild mit Raumtiefe = psychologisch aufgeladen, sowie flaches Bild = anti-psychologisch. Dass diese Unterscheidung nicht hinreichend ist, lässt sich an Godards Werk erkennen, der spätestens seit Beginn der achtziger Jahre in der Lage ist, Bilder unabhängig von diesen Kurzschlüssen einzusetzen. Trotzdem funktioniert z.B. LE FILS nach der Vorgabe der konsequenten Raumignoranz, wenn nicht der Raumvernichtung. Man kann es Fokussierung nennen, man kann es Konzentration auf Tätigkeiten nennen. Oft schaut die Kamera über die Schulter des Protagonisten auf dessen Hände, dann aufs Gesicht, das die Arbeit der Hände im Blick kontrolliert, und wieder zurück auf die Hände, was sich in einem einfachen test-operate-test Schema darstellen lässt.
Diesem Vorgehen kommt entgegen, dass es sich bei der Person um einen Ausbilder im Zimmermannshandwerk handelt, einen ausgemachten Handarbeiter also, was die penible Detailversessenheit rechtfertigt. Seine Welt konstituiert sich aus dem Gegenüber von Werk- und Naturstoffen, deren Eigenschaften man erkennen muss, um mit ihnen umzugehen, um sie zu bearbeiten. Bei dieser Arbeit werden Räume allenfalls durchschritten, in der ästhetischen Repräsentation des Subjekts spielen sie keine vorrangige Rolle. Dementsprechend werden sie im Bild nicht wiedergegeben. Auch wenn der Ausbilder heimlich die Wohnung seines Lehrlings inspiziert, sehen wir in erster Linie nur ihn, wie er die Lebensäußerungen seines Anbefohlenen erfassen will – den Werkstoff verstehen – von der Wohnung selbst sehen wir nicht allzu viel. Diese Methode führt zu einer existentiellen Kargheit der Figuren, zu einer Befreiung der Personen von dem sie nach wie vor umgebenden Zivilisationsmüll – Klarheit der Person und des Konflikts. Darin ist viel Ehrfurcht vor dem Gegenstand enthalten und der Glaube an ein anthropologisch Ewiges. Die Raumvermeidung wirkt wie ein Purgatorium; sie reinigt von und schützt uns vor vorschnellen warenästhetisch-psychologisierenden Verunreinigungen und legt archaisch Geglaubtes frei. So ist das Thema von LE FILS Gnade, Vergebung und die Möglichkeit der Versöhnung oder was es bedeutet, die Rolle des Vaters anzunehmen. Im Chaos der Warenbeziehungen gelingt es den Dardennes, sich im allgegenwärtig Toten dem Leben zuzuwenden und Augenblicke der Humanität zu entdecken, die nicht verlogenem Optimismus entspringen. Es scheint, als fordere gerade der sinnliche Materialismus der Dardennes eine metaphysische Kompensation heraus. Das meint, glaube ich, Irina Hoppes Diktum, dass unbearbeitete Felder immer wieder ihr Recht fordern.
Doch ist ihre Bildführung nicht weniger apodiktisch als sie befreiend ist. Jedes Bild vermittelt: Hier guckst Du hin und nirgendwo anders. Wer freiräumt, lässt es darauf ankommen, Dinge auszulassen. Das ist der Preis. Kann hier Böswilligkeit unterstellt werden? – Ich glaube nicht, dass die Dardennes davon ausgehen, Menschen seien wandelnde black boxes, die sich in einem stimulus – respons Reflex ergehen, dabei aber von außen grundsätzlich uneinsichtig bleiben. Vielmehr handelt es sich um eine bewusste Setzung. Ihre Methode ist die der radikalen Abstraktion. Die angemessene, für sie einzige ästhetische Lösung für dieses eine spezielle Problem. Dass das ideologisch besetzt sein mag, ändert nichts an den ästhetischen Befreiungspotentialen.
… und dann … und dann … und dann … und dann ist da noch Jan – schwingt sich die Sängerin aus ihrer Litanei über DAT SOORT VOLK empor, Jan, der sie hier herausholen wollte, aber irgendwie hat auch das nicht geklappt, alles bleibt beim Alten. In LE FILS dagegen ist am Schluss die Welt unverhofft offen, findet zum Licht ohne den Gebrauch korrumpierter Sprache. In einem klitze-kleinen Teil Welt ist Versöhnung vielleicht möglich. Genaueres lässt sich nicht sagen.